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Wladimir Pomeranzew . In zaristischen und stalinistischen Gefängnissen

Erneut auf Etappe

Ende 1949 rief mich völlig unerwartet der aus Moskau gekommene Leiter der 4. Lager-Sonderabteilung des MWD , Oberst Iwanow, zu sich. Er fing an, sich genauestens über meine berufliche Tätigkeit vor der Verhaftung zu erkundigen. Er interessierte sich für meine geologischen Vermessungsarbeiten an den Fundstätten für Bodenschätze und den Inhalt einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, die von Professor P.K. Sobolewskij begründet wurde – der Geometrie des Erdinneren. Er schlug vor, an dessen Namen einen Sonder-Bericht über die Bereiche der praktischen Anwendbarkeit dieser neuen geometrischen Wissenschaft zu schreiben, und das tat ich auch. Im Dezember ließ mich dann Oberst Iwanow noch einmal zu sich rufen und sagte ungefähr folgendes:

- Ihre Haftzeit endet in eineinhalb Jahren. Sie werden sicherlich verstehen, daß für Sie keine Möglichkeit besteht, zum Arbeiten wieder nach Leningrad oder Moskau zurückzukehren. Ihnen steht eine langwierige Etappe an einen vorherbestimmten Verbannungsort bevor. Die Erschwernisse auf so einem Häftlingstransport können Sie sich vorstellen. Ich schlage Ihnen die Übersiedlung mit einer Sonder-Etappe nach Krasnojarsk vor, in den Distrikt, wo sie nach BeendigungIhrer Gefängnishaft in unserem technischen Sonder-Büro tätig sein werden; und nach der Freilassung werden Sie dort bleiben und als Freier arbeiten. Das Büro befaßt sich mit Fragen, die mit Ihrem früheren Spezialgebiet in Sachen Bergbau zusammenhängen. Denken Sie darüber nach; in einer Woche werde ich Sie noch einmal zu mir kommen lassen.

Eine Woche später gab ich mein Einverständnis. Als ob von meiner Entscheidung tatsächlich mein weiteres Schicksal abhing. Die vierte Sonder-Abteilung des MWD beschloß auch ohne meine Zustimmung mich nach Krasnojarsk zu schicken, und egal, welche Einstellung ich gegenüber meinem Schicksal auch gehabt hätte, wäre deren Entscheidung durchgesetzt worden. Aber in der vierten Sonder-Abteilung hatten sie begriffen, daß es besser war, einen Sklaven zu halten, der freiwillig die ihm vorgeschlagene Arbeit annahm, als einen Sklaven, der einer solchen Tätigkeit gegenüber Widerwillen empfand.

Ab Januar 1950 wurde ich praktisch mit Arbeiten, die das Leningrader OKB betrafen, nicht belastet. Ich sammelte anhand von Büchern Daten und Informationen über Krasnojarsk, frischte meine Kenntnisse über Geologie, geologische Erkundungen und Markscheider-Dinge, die Geometrie des Erdinneren, Bergbau-Projektierungen sowie den Bau und die Einrichtung von Bergwerken auf.

In diesem Zeitraum erlaubten sie mir ein Wiedersehen mit meiner Ehefrau. Es war sehr traurig. Meine Frau hatte ihre Sorgen und Unannehmlichkeiten auf der Arbeit und im täglichen Leben; und ich – hatte meine: ich dachte an das unbekannte Krasnojarsk, war beunruhigt darüber , ob ich meine Frau irgendwann noch einmal wiedersehen würde? Ich hatte Angst davor Ihr zu sagen, daß es mir nicht möglich war, nach Leningrad zurückzukehren.

Ich hatte auch noch eine andere Sorge, die um jeden Preis entschieden werden mußte: wie sollte ich all meine geheimen Aufzeichnungen mitnehmen? Ich teilte sie für mich gedanklich in „geheime“ und „streng geheime“ ein. Ersteren ordnete ich die Tagebücher zu, den „streng geheimen“ – meine philosophischen, soziologischen und politischen Notizen. Die „geheimen“ ließ ich über zuverlässige Freunde aus den Reihen der Freien, ehemalige Häftlinge, als gesammelte Werke an meine Frau übersenden. Bei unserem Wiedersehen erklärte ich ihr, welche Gefahr die ihr übermittelten Niederschriften in sich bargen, und daß ich ihr das Recht gab sie zu vernichten, falls sie es für vernünftiger hielt, nicht ihren Frieden zu riskieren. Sie verstand mich sehr gut, aber kein einziges Blatt meiner Tagebuch-Aufzeichnungen ging verloren. Meine Frau bewahrte alles bis zu meiner Abfahrt in die Verbannung auf und brachte sie mir später mit.

Schwieriger gestaltete sich die Frage mit den „streng geheimen“ Materialien. Anfangs trug ich mich mit dem Gedanken, ihre Aufbewahrung in der Freiheit, bei einem der Freien, zu organisieren, aber ich hatte ja schon traurige Erfahrung mit ähnlichen Aufbewahrungs-möglichkeiten gemacht. Zu meiner Zeit, noch vor der voraussichtlichen Übersiedlung nach Krasnojarsk arbeitete ich mit einem freien Mitarbeiter des OKB einen detaillierten Plan bezüglich der Verfahrensweise und des Aufbewahrungsortes der Notizen aus. Mit diesem Genossen hatte ich etwa fünf Jahre gemeinsam im Sonder-Gefängnis verbracht. Die Haftzeit war anscheinend ausreichend, um „vierzig Pud Salz aufzuessen“. Der Genosse brachte meine Aufzeichnungen wohlbehalten aus dem Gefängnis heraus und mauerte sie an der vereinbarten Stelle ein. Den Inhalt der Materialien kannte er natürlich, und er studierte auch die wesentlichen Grundgedanken. Aber anscheinend waren vierzig Pud Salz ziemlich wenig. Bei ihm machten sich Anzeichen von Unruhe und Besorgnis bemerkbar, und eines unglückseligen Tages, als er zuhause war, zeigte sich die verdächtige Gestalt eines Mannes, der vor dem Fenster seiner Wohnung spazierenging. Er öffnete das Versteck und vernichtete das gesamte Material – er verbrannte es in einem kleinen Kanonenofen (Ende der 1940er Jahre wurden solche Öfen in einigen Leningrader Wohnungen immer noch betrieben). Die Ängste erwiesen sich als unbegründet; mein Freund grämte sich sehr und bereute seine Kleinmütigkeit. Aber was geschehen war, war geschehen. Natürlich konnte ich mich künftig nicht mehr auf ihn verlassen.

Und da befand ich mich dann vor der Abfahrt nach Krasnojarsk in einer schwierigen Lage. Und somit lag auf meiner Frau eine große Verantwortung: die Aufbewahrung der Tagebücher und die Aufrechterhaltung der Verbindungen mit ein paar Freunden, die in Freiheit waren.

Ich mußte alles selbst riskieren. Ich schnitt aus dickem Rechenpapier Schuhsohlen aus und schrieb diese ganz klein mit einer Geheimschrift aus Zahlen voll. Fünf Blatt Papier paßten unter jeden Fuß. Die „Sohlen“ waren von unten und oben mit solchem Rechenpapier bedeckt, ebenfalls vollgeschrieben, aber diesmal schon mit völlig sinnlosen Zahlenreihen. Die ausgeschnittenen Blätter nähte ich mit einem dicken, groben Faden zusammen. Die „Sohlen“ legte ich in die neuen Filzstiefel, die man an mich ausgegeben hatte und die ich zwei Nummern größer gewählt hatte als erforderlich. Ich hoffte darauf, daß bei einer Durchsuchung des OKB-Kalkulationsleiters kein Verdacht wegen der mit Zahlen vollgeschriebenen, unbrauchbaren Papierblätter aufkommen würde, die hier als Schuhsohlen benutzt wurden. Meine Vermutung bewahrheitete sich: es gelang mir, meine „streng geheimen“ Materialien glücklich bis nach Krasnojarsk zu schaffen und sie später mit „in die Freiheit“ hinauszunehmen.

Innerhalb einer Woche vor meiner Abfahrt wurde ich mit lauter neuen Sachen ausgestattet: einem wollenen Anzug, einem beigefarbenen Jumper, einem Halstuch, Socken, Stiefeln. Der Tag der Abreise kam. Ich durchstreifte noch einmal alle Arbeitssäle des OKB, drückte allen die Hand. Bei jedem meiner Freunde saß ich ungefähr fünf Minuten – es war beschlossen wurden sich nicht großartig zu versammeln und durch nichts auf meine Abreise hinzuweisen. Es war schon traurig, wenn auch einige Maßnahmen ergriffen wurden, um ein Wiedersehen in Krasnojarsk möglich zu machen. Die Leningrader Etappe ging zu Ende. Vor einem lag wieder die Ungewißheit.

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