Ende Januar 1950 wurde ich mit einem Sonderkonvoi aus dem Leningrader Kreuzgefängnis in das Sondergefängnis nach Bolschewo bei Moskau überführt. Wie sehr ich mich auch auf diese Spezial-Überführung vorbereitet hatte, so übertraf sie doch meine Erwartungen und hinterließ einen starken Eindruck bei mir. Es fing damit an, daß man uns im Kreuzgefängnis nicht in einen „Schwarzen Raben“ einsteigen ließ, sondern in einen „Emka“ – einen PKW der Marke Molotow. Ich setzte mich auf den Rücksitz; neben mir saßen zwei Begleitsoldaten in Zivil und ein weiterer – vorn beim Chauffeur. Auf dem Moskauer Bahnhof, vor dem Umsteigen in den Zug nach Moskau, blieb unsere Gruppe an einem Zeitungskiosk stehen.
- Sollen wir vielleicht eine Zeitung kaufen? – wandte sich einer der Begleitsoldaten an mich. Ich machte mir dessen Erlaubnis sofort zunutze und kaufte alle möglichen. Dann begaben wir uns zum Einsteigen in eine Menschenmenge ebensolcher „Zivilisten“ wie wir, und niemand schenkte uns Aufmerksamkeit. Aus irgendeinem Grunde schien es mir so, als ob alle um mich herum wußten, daß hier „Volksfeinde“ begleitet wurden. Man brachte uns in einem Einzelabteil unter. Sobald der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, begann der Zugbegleiter freundlich an alle Passagiere Tee und Zucker zu verteilen. All das ging ganz einfach und natürlich zu, war jedoch für mich völlig ungewohnt. Wann war ich das letzte Mal mit einem normalen Passagierwaggon gefahren? Anfang 1941 war ich von einer beruflich bedingten Reise aus Moskau nach Leningrad zurückgekehrt. Das war achteinhalb Jahre her gewesen! Der Gedanke daran war schrecklich! Auf dem Weg nach Moskau hatten sie Weißbrot ausgeteilt, ein halbes Kilo Wurst, 200 Gramm Tafelbutter. Ich nahm meine Lebensmittel heraus, breitete sie auf dem kleinen Tischchen im Abteil aus und ... war nicht in der Lage zu essen. Unaufhörlich stiegen in meiner Kehle die Tränen auf.
- Trinken Sie keinen Tee? – wandte sich der Begleitsoldat an mich.
- Heiß ... – flüsterte ich vor mich hin und starrte auf die Gardine, die das Fenster verdunkelte. Ich beruhigte mich ein wenig, trank schnell den Tee aus, aß nichts und legte mich auf die untere Sitzbank, mit dem Gesicht zur Wand.
Wohin fahre ich? Weshalb? Was soll ich noch auf dieser Welt? Als Markscheider, Geologe, Projektierer, politische Person des öffentlichen Lebens tätig sein? Was soll schon dieser ganze Flitterkram im Vergleich mit den Prozessen des Lebens selbst. Aber ist das etwa ein Leben? Dieses Dahinvegetieren eines schwächlichen Keimes, der da herauskriecht aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen des Gefängnishofes. Diese Begleitwachen dort – das sind die
Ritzen, und das Abteil ist gar kein Abteil, sondern eine Einzelzelle, ein Karzer sogar. Eben jener Karzer, in dem ich meinem Leben durch Selbstmord ein Ende hätte setzen können. Gelang es mir nicht oder konnte ich es nicht?
- Nehmen Sie Ihre Schlafutensilien, - unterbrach die Stimme des Zugbegleiters meine traurigen Träumereien. Eine Matratze, zwei Laken, eine Plüschdecke, Kissenbezüge, ein Handtuch. Ich richtete schnell meine Schlafstelle her, zog mich aus, legte mich hin und schlief unverzüglich ein; ich quälte mich nicht weiter mit meinen Erinnerungen.
Am Morgen mußte ich in Moskau auf dem Leningrader Bahnhof zwei Stunden lang sitzen, bis der PKW aus Bolschewo gekommen war. Mit Interesse betrachtete ich die Umgebung von Moskau durch die Scheiben des Autos. Wir mußten dreißig Kilometer weit fahren. Da zeigten sich die Wachtürme an den Ecken des Zaunes, der von oben mit Stacheldraht umgeben war. Das hieß also, daß wir angekommen waren. Das Sonder-Gefängnis nahm ein recht großes Territorium ein, das stellenweise mit wenigen schlanken Eichen, wie sie für Schiffsholz verwendet wurden, bewachsen war. Auf dem Grundstück befanden sich drei eingeschossige Gebäude: eines diente als Wohnheim für das Spezial-Kontingent, in dem anderen befand sich das eigentliche OKB, und in dem dritten waren Küche, Speisesaal und Nebenräume untergebracht. Das OKB war erheblich kleiner, als das im Kreuzgefängnis. Das Wohnheim war ein einziger großer Raum, der mit Betten und Hockern vollgestellt war, an den Schlafraum grenzte ein Korridor mit einigen Arbeitszimmern für die Mitarbeiter der Gefängnisleitung, eine kleine Küche und eine Toilette. In diesem Sonder-Gefängnis hatte vor nicht allzu langer Zeit der berühmte Flugzeugkonstrukteur A.N. Tupolew eingesessen. Das Profil des OKB war äußerst vielseitig: von der Flugzeugkonstruktion bis hin zur Forsttechnik.
Man erklärte mir, daß ich mich „im Urlaub“ befände und mit keinerlei Dingen aus dem OKB beladtet werden würde. Ich ging auf dem Gelände des Sonder-Gefängnisses spazieren, las belletristische Literatur sowie wissenschaftlich-technische Bücher, vervollständigte meine Notizen zur Krasnojarsker Region und den Bergbau-Wissenschaften.
Im Sonder-Gefängnis begegnete ich freundlichen Menschen: ehemaligen militärischen Verteidigern Leningrads, Gelehrte der Waldwirtschaft, Radiotechniker, Künstler. Dort war auch einer der letzten Fürsten aus dem Geschlecht der Golizyns inhaftiert. Er kannte die Familie Lew Nikolajewitsch Tolstois sehr gut. Vor seiner Verhaftung hatte er in Jasnjaja Poljana bei Sofia Andrejewna Tolstaja im Tolstoi-Museum gearbeitet.
Während meines „Urlaubs“ brachten sie mich zweimal nach Moskau – in die 4. Sonder-Abteilung zu Oberst Iwanow. Dort erfuhr ich, daß in Krasnojarsk ein Technisches Sonder-Büro eingerichtet worden war, das sogenannte OTB-1. Iwanow machte meine Kenntnisse in der Projektierung von Bergbau-Unternehmungen deutlich und gab einige Informationen über geplante Arbeitsobjekte. Nach der zweiten Ankunft bei Iwanow gestatteen sie mir ein kurzes Wiedersehen mit meiner Tochter. Ich hatte sie mehr als acht Jahre nicht gesehen. Ich war sehr aufgeregt, versuchte die ganze Zeit über, sie an der Hand zu halten und sprang während unserer Unterhaltung von einem Thema zum anderen über: wie es ihr geht und wie sie lebt, wie sie lernt und wie Schenja gestorben ist.
Mitte Februar kam ich mit zu einem Gefangenentransport, der nach Krasnojarsk abgehen sollte. In dem separaten Abteil eines Schnellzuges fuhren wir Zivilbürger, die sich in Aussehen und Benehmen in nichts von anderen unterschieden und keinen Grund für irgendwelches Mißtrauen aufkommen ließen, daß hier politische Verbrecher transportiert wurden. In den ersten Reisetagen paßten meine Begleitsoldaten auf mich auf und versuchten sogar, mich unbemerkt zur Toilette zu begleiten. Später waren sie dann von meiner Sittsamkeit überzeugt und schlugen mir sogar vor, auf dem Bahnsteig größerer Bahnhöfe ein wenig spazieren zu gehen. Nachts blieben die Konvoi-Soldaten abwechselnd wach und paßten auf, aber gegen Ende der Reise hörte dieses überaus vorsichtige Verhalten auf. Einen großen Teil der Zeit saß ich im Abteil und las. Innerhalb der neun Jahre seit meiner Ankunft im Sonder-Gefängnis hatte sich bei mir eine kleine persönliche Bibliothek mit Büchern über Mathematik, Bergbau-Themen, Markscheiderei, Geschichte und Fremdsprachen angesammelt. Ich besaß sogar den achten Band der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, eine Ausgabe aus dem Jahre 1927. Noch im Tomsker Sonder-Gefängnis war es den OKB-lern gestattet gewesen, Bücher käuflich von dem Geld zu erwerben, das in der Gefängnis-Buchhaltung auf ihrem persönlichen Konto verbucht war. Damals hatte ich auch den achten Bände dieser Enzyklopädie gekauft. Dieser Band war für mich besonders interessant, weil sich darin Begriffe fanden wie zum Beispiel: Papiergeld, Bohrlöcher, Bourgeoisie, Staatshaushalt, Haushaltsindex, Valuta sowie alle damit verbundenen Begriffe, Berechnungs-varianten und anderes. Bei der Durchsuchung vor der Abreise nach Bolschewo wurden all meine Bücher und handschriftlichen Aufzeichnungen (welche die Mathematik betrafen) von der OKB-Leitung genau durchgesehen. Auf dem Weg nach Krasnojarsk entdeckte ich, daß aus der Enzyklopädie die Seiten 269-284 herausgerissen worden waren, darunter auch ein Absatz über Bucharin. Besonders über diesen Schaden beschwerte ich mich nicht. Der Abschnitt war nicht aufgrund seines Inhaltes interessant gewesen, sondern wegen der Haltung der kommunistischen Ideolgie der 1940er Jahre gegenüber seinen Koriphäen aus der Epoche Lenins.
Für mich waren meine Notizen zu religiösen Fragen viel wertvoller. Ich war sogar verwundert, daß man diese Aufzeichnungen durch die Zensur des OKB hindurchgelassen hatte. Ich vermute, daß sich eine solche Nachlässigkeit der Zensur durch die Anfänge dieser Notizen erklärt, die alle in französischer Sprache geschrieben waren. Der Zensor hatte offenbar zweiundvierzig Lektionen französischer Lehr-Übungen gehabt, wie Buddha es gelehrt hatte, und die handschriftlichen Notizen nicht bis zum Ende durchgesehen. Am Schluß der 38. Seite des in winziger Schrift geschriebenen Textes (den man nur mit einer Lupe lesen konnte) befand sich mein Artikel „Über den Glauben“. Unterwegs las ich nicht nur zum zehnten Mal mein Buch über Mathematik durch, sondern begeisterte mich auch für eine Komödie von Oscar Wilde in englischer Sprache.
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