In Krasnojarsk wurde ich eine Woche lang im Stadtgefängnis festgehalten. Die Verzögerung bei der Ansiedlung im OTB-1 gab Anlaß zu der Vermutung, daß um mich herum irgendeine Intrige gespielt wurde. Fast ein ganzes Jahr später stellte sich dann heraus, daß ich tatsächlich zum Zankapfel zwischen der 4. Sonderabteilung des MWD und der Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes unter derselben MWD-Behörde geworden war. Erstere hielt es für ihre Pflicht und ihr Recht die Sonder-Gefängnisse zu ergänzen, die zweite wollte das neue Sonder-Büro aus ihrer eigenen, ausgewählten Stamm-Mannschaft vervollständigen, natürlich ebenfalls Häftlinge. Wäre ich ein „gewöhnlicher“ Sonder-Häftling gewesen, dann hätten sie mich wahrscheinlich ohne Reibereien ins OTB-1 geholt, aber mein Sonderetappen-Leiter sagte, daß sie einen Gefangenen transportieren, der für Arbeiten in leitender Funktion eingesetzt werden soll, und für solche Arbeiten wollte die Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes eben „leitende Mitarbeiter“ aus den Reihen ihrer eigenen Häftlinge bestimmen.
Empört über die lange Verzögerung im Stadt-Gefängnis, die schlechte Verpflegung, den Schmutz und Gestank, verlangte ich Papier für ein Gesuch an die 4. Sonder-Abteilung des MWD. Ob meine Forderung Wirkung hatte oder ob der Streit über mich von selber ein Ende fand, jedenfalls wurde ich einen Tag später ins OTB-1 verlegt. Und noch einen Tag später wurde ich zum Leiter gebracht, der mir mitteilte, daß er mich zum stellvertretenden Leiter der Projektierungsabteilung ernennen wollte. Ich lehnte eine derartige Ehrenbekundung ab und bat ihn, mich für gewöhnliche Arbeiten als Ober-Ingenieur einzusetzen.
Das technische Sonder-Büro nahm ein großes Territorium ein, fast einen ganzen Häuserblock, und es bestand im Grunde genommen nicht aus einer einzigen, sondern aus drei Organisationen. Zum einen gehörte zum OTB-1 die Projektierungsabteilung, mit einem vollständigen Komplex von Unterabteilungen des großen Instituts für die Projektierung von Bergbau- und Hüttenunternehmen. Zweitens bestand beim OTB-1 eine geologische Abteilung mit mineralogischen, spektrographischen, chemischen und petrophsikalischen Laboratorien. Und an dritter Stelle war auf dem Gelände des OTB-1 eine zu ihrem Bestand gehörende Experimentier-Fabrik zur Reinigung von metallhaltigem Antimon bis zu einem Reinheitsgrad von 99,99% untergebracht. Eine solche Vielfalt von Aktivitäten wurde nicht durch die Erfordernisse des inneren Verwaltungsplanes hervorgerufen, sondern spiegelte vielmehr das Streben des MWD wider, alle nur möglichen Seiten der Volkswirtschaft als Werk des allmächtigen „MWD-Imperiums“, des Staates im Staate, an sich zu reißen, versehen mit einem Heiligenschein und somit unersetzlich in den Augen des teuren und geliebten Führers Stalin.
Vom ersten Tage meines Aufenthaltes im OTB-1 an bemühten sie sich, mich in komplizierte Intrigen hineinzuziehen – Intrigen, die mit dem Kampf um Macht, Einfluß, Zuständigkeiten zwischen der 4. Sonder-Abteilung des MWD und der MWD-Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes, zwischen der Projektierungs- und der geologischen Abteilung, zwischen leitenden Mitarbeitern zusammenhingen. Der Urheber all dieser Intrigen war der Leiter der Projektabteilung Lokschtanow. Hochgewachsen, schlank, ungestüm, mit einem länglichen Gesicht, römischer Nase, großen listig-klugen Augen hätte er als schöner Mann durchgehen können, wenn er nicht im Gesicht so ein nervöses Zucken gehabt und häufig unbewußt die Zähne gefletscht hätte. Dieser Mensch war stürmisch, und stürmisch war auch eine ganze Biographie: Sohn eines Russen und einer Jüdin, Bau-Ingenieur von Beruf, ein raffgieriger, habsüchtiger Mensch, bestechlich, ein Wüstling und Intrigant, ein Abenteurer und durchtriebener Kerl, nicht nur einmal vorbestraft, und jedesmal war er im Trocknen aus dem Wasser herausgekrochen, nachdem er in Lagern und Gefängnissen gesessen und vorzeitig entlassen worden war, aber die Hauptsache war, daß er es verstand sich in beliebigen Umständen und Situationen unersetzlich zu machen.
Und jetzt also befande sich Lokschtanow in der Lage eines Gefangenen. Man hatte ihn aus Norilsk herübergebracht. Dorthin war er Ende der 1930er Jahre wegen § 58 gelangt. Er arbeitete im Sonder-Büro beim Bau der Stadt Norilsk. Er machte sich ganz hervorragend auf dem Gebiet der Projektierung und des Bauwesens unter den Bedingungen des ewigen Frostes.
Er wurde vorzeitig entlassen. Sehr bald unterhielt er Liebesbeziehungen zu den Frauen zahlreicher Norilsker Ingenieure, obwohl er selber verheiratet und seine Frau zu ihm nach Norilsk gekommen war. Für das zügellose Leben, welches in der Polarregion besonders teuer ist, braucht man Geld. Zu diesem Zweck rückte Lokschtanow eiligst auf der Dienstleiter nach oben. Er machte sich zur rechten Hand des Hauptarchitekten der Stadt und später auch noch zum Günstling des Leiters des Norilsker Bauprojektes, General Panjukow. Aber auch die Gehälter in den hohen Dienststellungen deckten nicht die Kosten für die Lokschtanowschen Ausschreitungen. Er geriet in irgendwelche Machenschaften wegen der Bezahlung von Projektierungs- und Bauarbeiten. Man verhaftete ihn, aber seiner Frau gelang es, den Paß des Ehemannes nach Moskau mitzunehmen, wo sie sich mit Hilfe der leicht erworbenen Polarkreis-Gelder (in dem rauhen Klima gab es besondere Gehaltszuschläge; Anm. d. Übers.) bemühte, ein gutes Wort für ihn einzulegen und seine Freilassung zu erreichen. Als General Panjukow in Krasnojarsk zum Leiter der Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes ernannt wurde, da erinnerte der sich an Lokschtanow und erwirkte dessen Versetzung ins OTB-1. Hier entfaltete Lokschtanow, der damals noch Gefangener war, blitzartige Aktivitäten. Er hatte begriffen, daß zu Beginn der Errichtung und Organisation der Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes keine Berwerks- und Fabrikprojekte nötig waren, sondern vielmehr Lager für die Häftlinge, welche die eigentlichen Bauarbeiten ausführen sollten. Schnell organisierte er die Arbeiten der Projekt-Abteilung um. Natürlich vergaß Lokschtanow auch sich selber nicht. Er richtete sich auf dem Territorium des OKB einen separaten Raum als Wohnung ein, legte sich ein paar „Liebediener „ aus den Reihen der Arrestanten und Freien zu und wurde für General Panjukow erneut zu einer unersetzlichen Person.
Aber der Bau von Gefangenenlagern ist kein Selbstzweck. Lokschtanow hatte auch das rechtzeitig begriffen. Und er begriff auch die Notwendigkeit der Berechnung und genaueren Feststellung von Erzvorkommen und Bodenschätzen, zu deren Förderung Bergwerke errichtet werden sollten. Die Berechnung von Erzvorkommen – das war eine Sache für die Geologen. Aber die geologische Abteilung des OKB-1 konnte diesen Bedarf nicht zufriedenstellen: dort gab es Petrographen, Mineralogen, Geophysiker, Herausgeber regionalen geologischen Kartenmaterials, Erforscher von Bodenschätzen, aber es gab keine Schürfer, die richtige Expertisen von Schürfstellen und Fundstätten erstellen und das Vorkommen an Erzen dokumentieren und errechnen konnten. Und da geriet sofort ich Lokschtanow unter die Finger: als Markscheider, Geometer, Spezialist zur Bewertung von Erzvorkommen.
Von den ersten Schritten an begriff ich die Unabdingbarkeit dieser Art von Arbeiten und schlug dem Leiter der geologischen Abteilung, ebenfalls ein Gefangener, vor, eine weitere Sondergruppe für die Berechnung und Bewertung von Bodenschatz-Vorkommen zu organisieren. Mein Vorschlag wurde nicht angenommen. Nachdem er vom stellvertretenden Leiter der Projektierungsabteilung abgelehnt worden war, befaßte ich in meinem Amt als Ober-Ingenieur mit bescheidenen Arbeiten zur Analyse geologischer Materialien, die in der Gegend Kijaly-Usen gefunden worden waren, wo man den Bau eines Erzaufbereitungs-kombinats beabsichtigte. Lokschtanow beachtete mich anfangs überhaupt nicht, beruhigt dadurch, daß ich diesen Posten abgelehnt hatte. Aber da ging er um die Zeichenbretter der
Projeketeure herum, trat auf mich zu und sah meine isometrische Gliederung in verschiedenen Projektionen des Bergwerkskörpers an den Fundstätten von Kijaly-Usen. Die Anschaulichkeit der Zeichnung verblüffte Lokschtanoe dermaßen, daß er mich extra zu sich rufen ließ und mich lange über meine wissenschaftlichen Arbeiten, Erfahrungen und Möglichkeiten ausfragte, diese auf die Projektierung von Erzbergwerken anzuwenden.
- Ich kenne mich schlecht mit geologischen Materialien aus, aber ich sehe, daß Sie mit ihrer Hilfe ein gutes Auge dafür haben, was unter der Erde vorkommt. Wir müssen Sie schnellstens in unsere Projektangelegenheit einbeziehen. In der Hauptverwaltung des Jenissej-Großbauprojektes habe ich gehört, daß die Geologen sich mit der Bewertung der schwierigen Fundstätten auf der Schachtanlage "Julia“ herumquälen. Wir müssen Sie dorthin schicken.
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