Die in den stockfinsternen Jahren Geborenen
kennen nicht ihren Weg.
Wir, die Kinder der schrecklichen Jahre Rußlands
haben nicht die Kraft, irgendetwas
davon zu vergessen.
Die erste klare Erinnerung meines Lebens: ein ziemlich großes Zimmer im Souterrain. Wände und Decke sind mit Kalk geweißt, unter dem kegelförmigen Lampenschirm aus emailliertem Blech brennt eine elektrische Glühbirne. Ich sitze in einer „Kardonka“, einer Kiste aus dünnem Sperrholz mit abgerundeten Ecken. An der Wand, an dem kleinen Teppich aus Kattunfetzen, ein etwas zerkratzter Säbel mit dem Georgsband. Drum herum, auf den armseligen Möbeln sitzend, unsere Familie: Vater, Mutter, die „Njanka“ (das Kindermädchen; Anm. d. Übers.), die auch meine Taufpatin ist, und mein älterer Bruder. Natürlich hat nicht nur ein einziger Augenblick diese Erinnerungen hervorgebracht, sondern alles ist durch weit zurückliegende, wiederholte Beobachtungen noch verstärkt worden, und nun hat alles sich zu einem Bild vereint – wie auf einer Fotografie.
Diese unansehnliche Behausung befand sich in der Ortschaft Knjaschewo – einem kleinen Vorort der bulgarischen Hauptstadt Sofia, etwa 7 km von der Stadtgrenze entfernt. Das Kellerfenster zeigte zur Chausseeseite, die mit Steinen aus Granit gepflastert war und die zunächst in die Stadt Pernik führte, von wo aus Sofia und zahlreiche andere Städte mit Kohle versorgt wurden, und dann weiter, durch eine Reihe mittelgroßer und kleinerer Städtchen, in den Süden des Landes, bis ganz an die griechische Grenze. An der Chaussee standen eine ganze Reihe ebensolcher unansehnlicher Häuschen, und hinter ihnen floß mit lautem Getöse das Flüßchen „Wladajskaja“ vorüber. Es war von den letzten Regengüssen ziemlich hoch angestiegen und wälzte tosend ein paar riesige Felssteine vor sich her; und manchmal war so wenig Wasser da, daß es kaum durch die aufgetürmten Steine hindurchsickern konnte, und dann wateten die Vögel hindurch - und solche vierjährigen Knirpse, wie ich einer war. Ein paar Kilometer weiter floß ein klarer Gebirgsfluß, in dem es Krebse und, wie eine alte Überlieferung besagt, sogar Forellen gab; aber im Bezirk Knjaschewo wurden Abfallstoffe aus zahlreichen Halbfabriken und Werkstätten eingeleitet, die das Wasser in allen erstaunlichen Farben des Spektrums färbten und ihm jede Menge außergewöhnliche Geruchsnuancen verliehen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß sich in den etwas durchsichtigeren Pfützen und kleineren Buchten winzige Jungfische hielten und sich auf dem ufernahen Gestein riesengroße Frosche niedergelassen hatten, die, sobald sich ein menschliches Wesen näherte, imposante Sprünge in den herannahenden, im Licht taubenblau-rot schimmernden en Wellen vollführten, ohne irgendwelche sichtbaren gesundheitlichen Schäden davonzutragen. Ich hatte Angst vor Fröschen und konnte sie überhaupt nicht ausstehen; infolgedessen näherte ich mich dem Flüßchen stets mit Jackentaschen voller Steine. Außer diesen Jagdvergnügen zog einen auch eine Vielzahl interessanter und nützlicher Dinge zum Flüßchen, angefangen von zerfetzten Galoschen, bis hin zu allem möglichen Eisenschrott und Glasstücken, die zu allen Zeiten von den Jungs ehrfürchtig und mit Respekt benutzt wurden. Zu allem bisher Gesagten muß noch hinzugefügt werden, daß man gelegentlich entlang des Flusses vereinzelte menschliche Gestalten sehen konnte, die das angeschwemmte Geröll aus dem Wasser schöpften und es mit einem Sieb auswuschen. Man sagt, daß es Goldsucher waren. Ich weiß nicht, wieviel sie dort wuschen, aber ich bin überzeugt, daß man unter den Millionären keinen von ihnen antrifft. Die weniger romantischen Bauern luden dieses Geröll ohne es zu waschen auf ein- und zweispännige Fuhrwerke und brachten es zu den Baustellen, auf denen man Villen und Datschen für wohlhabende Bürger errichtete, die zu der damaligen zeit bereits in der Umgebung des Dorfes entstanden.
Auf der anderen Seite „unseres Hauses“ gab es einen kleinen engen Hof, der auf einem ziemlich steil abfallenden Hügel angelegt war. Damit die Erde nicht abrutschte und die Brocken nicht in den Hof fielen, war er an der Bergseite mit einer Wand aus wildem Gestein eingegrenzt. Auf den Zaun hinaufklettern konnte man, um quer über den Hügel zu gehen, der sich anfangs als dicht mit Gras bewachsenes Ödland darstellte, das mit Kletten und Buschwerk zugewuchert war, und nach etwa 500-600 Metern in dichten Nadelwald überging, der direkt an das Massiv des Witoschberges angrenzte. Jetzt ist dieser Berg zur grünen Zone erklärt; man hat zahlreiche Touristenstationen und Campingplätze darauf errichtet, die mit der Stadt Sofia durch eine Autobahn verbunden sind. Zur damaligen Zeit aber befand sich der Berg noch in seiner ganzen, unberührten Schönheit. Der Marsch nach oben war für uns so etwas wie eine Heldentat, aber für mich stellte er, weil ich noch so klein war, etwas Unerreichbares dar. Daher war die äußerste Grenze meiner Möglichkeiten und Wunschträume der Nadelwald – er war mit Kiefern bestanden und reich an Pilzen: Butterpilze, Reizker und andere. Die Bulgaren aßen keine Pilze und sahen uns mit einer gewissen Vorsicht zu. Deswegen gab es wohl auch so viele Pilze. Außerdem sammelten wir im Wald Tannenzapfen und kleine Äste, die zu einem erheblichen Teil unsere Ressourcen an Brennmaterial ausmachten. Der Besitzer des hauses, ein Mann namens Owtscharow, war ein hichgewachsener Alter mit einem weißen, herabhängenden Schnurrbart und mürrischem Blick. Er mochte es nicht, wenn wir im Hof spielten, knurrte uns an und vergate uns, and dort – damals war ich mir dessen noch gar nicht bewußt – fing ich an, das Wesen der kapitalistischen, nach eigenem Besitz trachtenden Welt zu verstehen, die Welt mit ihren „Herren“ und den von ihm in erniedrigender Weise abhängigen Besitzlosen. Und so beschrieb ich die Landschaft, vor deren Hintergrund mein bewußtes Leben begann. Wer waren die Besitzer dieser armseligen Behausung? Wie waren sie aus dem weit entfernten, rätselhaften, mir ganz unwirklich erscheinenden Rußland in dieses patriarchalische bulgarische Dorf geraten? Mein Vater, Pawel Aleksandrowitsch Sokolow, stammte ursprünglich aus Petersburg. Er war aus einer uralten Militärfamilie hervorgegangen. Es hieß, dass unsere Vorfahren bereits an den Ufern der Newa zusammen mit Peter I. in Erscheinung getreten waren, aber vielleicht ist das alles auch bloß erfunden. Aus authentischen Überlieferungen war aber bekannt, dass seit der Zeit Katharinas die Nachfahren des Sokolow-Geschlechts gewissenhaft in verschiedenen Armee- und Garderegimentern dienten, hauptsächlich bei der Artillerie. Auf der damaligen sozialen Leiter standen sie irgendwo in der Mitte, weit genug von den Aristokraten entfernt, die sich auf der obersten Stufe befanden, aber auch von allen Arten von Titularräten, die sich weiter unten drängten. Das war der sogenannte Verdienstadel – adelig aufgrund der Herkunft, aber ohne Gutsbesitz und daher unvermögend und auch nicht hochnäsig. Mein Großväter, ein Abkömmling der Helden des Krieges von 1812 sowie der Verteidigung Sewastopols, diente beim Militär bis zum Generalsrang. Er verwaltete das Artillerie-Arsenal in Petersburg. Ich weiß nicht, ob dieses Amt einträglich war oder ob es sich um eine moralisch gerechte Arbeit handelte; jedenfalls baute er unweit des Arsenals ein zweigeschossiges Haus aus Stein und besaß später auch ein Waldgrundstück in Finnland, in der Nähe der Stadt Terioki. Der Wald war entweder 10 oder 100 Desjatinen groß. Auf diesen Wald kommen wir später noch einmal zurück. Großvater war mit einer Kurbatowa verheiratet. Gerüchten zufolge soll sie eine große Schönheit gewesen sein. Diese Familie zählte bereits zur gesellschaftlichen Oberschicht. Allerdings war die Großmutter nicht aus dem alten Geschlecht der Fürsten Korbatow hervorgegangen, die zur Zeit Iwans des Schrecklichen bekannt waren, sondern stammte vielmehr von den Krim-Tataren ab, die bei Hofe bereits nach „Otschakowskijs Zeiten und der Eroberung der Krim“ in Erscheinung getreten waren. Übrigens war der tatarische Ursprung nicht nur am Nachnamen zu erkennen, sondern auch am Äußeren der Großmutter sowie ihrer späteren Nachkommen, einschließlich meines Vaters und mir selbst. Das Paar hatte zwei Söhne: Pawel – mein Vater, und Alexander – Onkel Schura. Entsprechend der Familientradition beendete mein Vater die Michailowsker Artillerie-Fachschule und bewegte sich anschließend erfolgreich auf der Dienstleiter voran. 1935-36 wurde er Oberst. Onkel Schura schlug einen anderen Weg als die Vorfahren ein und wurde Arzt, allerdings ging auch er zum Militär. In den Tagen des Bürgerkrieges war er der Chef irgendeines Sanitätszuges. Irgendwo in der Nähe von Zarizyn wurde der Zug von Kasachen unter General Mamontow angegriffen, und sein gesamtes Personal zusammenmit den Verwundeten mit Säbeln niedergemetzelt.
Vater und Mutter waren in Petersburg bekannt, und zuhause gab es sogar eine Fotografie, auf der am festlich gedeckten Tisch, inmitten zahlreicher Personen, die Großeltern, Onkel Schura, meine Mutter zu sehen waren und, im Hintergrund, unter anderen stehenden Leuten, der Schnurrbart des Vaters hervorschaute. Übrigens trennten sich damals ihre Wege, und sie begegneten sich erst viele Jahre später wieder. Während des 1. Weltkrieges befehligte der Vater die 37. Artillerie-Brigade an der österreichischen Front. Zuhause hatten sie noch seinen Militärpaß, der später verloren ging, und ich kann mich leider nicht an alle Stationen seines Militärdaseins erinnern. In den spärlich ausgefüllten Zeilen dieses Dokuments sind alle Orte aufgeführt, an die sein Truppenteil verschoben wurde und hinter denen der Eintrag „hier gekämpft“ zu finden war. Für seine Teilnahme an diesen Kämpfen wurde der Vater mit vielen Orden und Ehrenurkunden ausgezeichnet, darunter auch mit der Georgswaffe – eben jenem Säbel, der gleichzeitig auch eine der ersten Erinnerungen an meine Kindheit darstellt. Am Griff des Säbels, der mit goldenen Mustern verziert ist, hing an einem schwarz-orangfarbigen Band das Georgskreuz, und an der Klinge befand sich die Aufschrift „Für Tapferkeit“. In meiner Kindheit empfand ich Verdruß und konnte es nicht begreifen, dass die Klinge nicht geschärft war und worin dann wohl die Tapferkeit bestand, wenn man damit doch niemanden hatteniedermetzeln können. Im Jahre 1917, während des letzten Vormarsches der russischen Armee, wurde der Vater an beiden Beinen durch ein Geschoß schwer verwundet, und die Revolution zwang ihn zu einem Aufenthalt in einem Hospital in Rumänien. Aus der Geschichte ist bekannt, dass Rumänien versuchte, die russischen Einheiten auf seinem Territorium aufzuhalten. Man verlangte von Lenin durchgreifende Maßnahmen, um ihnen die Rückkehr nach Hause zu ermöglichen. Aber es kehrtennicht alle zurück, darunter die Verwundeten, die sich in den Krankenhäusern befanden. Auch ein Teil der Offiziere konnten nicht mehr heimkehren, weil sie nicht bereit waren, die Revolution anzuerkennen. Später wurde dann aus den Reihen dieser Offiziere auch das weißgardistische Regiment Drosdows(kijs) formiert, das sich, nachdem es die Grenze überschritten hatte, mit den im Süden Rußlands operierenden weißen Armeen vereinigte.
Mit den Sanitätszügen, die den Drosdow-Truppen nachfolgten, gelangte auch mein Vater zurück nach Rußland. Er konnte damals noch nicht wieder gehen und lehnte das Angebot des Weißen Kommandos für eine Dienststellung und sogar den Generalsrang glattweg ab. Er war ein scharfzüngiger und boshafter Mann, der geradeheraus erklärte, dass er das weiße Kommando nicht für die rechtmäßige russische Regierung hielt und dass diese daher auch nicht befugt sei, sich eine solche Bezeichnung anzueignen. Trotzdem, und auch in Anbetracht seiner bisherigen militärischen Verdienste, legten sie für ihn eine finanzielle Unterstützung fest, und er ließ sich in Sewastopol nieder. Seine Wunden vernarbten, öffneten sich wieder, und zum Vorschein kamen immer wieder neue Splitter. Das dauerte auch noch fort, als ich bereits auf der Welt war, d. h, etwas 9-10 Jahre später. Einmal, als die Weiße Armee bereits am Rande der Vernichtung stand, sah der Vater, als er auf Krücken durch die Stadt ging, eine Gruppe Rot-Armisten, die zur Erschießung geführt wurden. Der Vater stoppte den Konvoi und bat den kommandierenden Offizier, ihm einen der Gefangenen zu übergeben, denn er sei Invalide und pflegebedürftig, habe jedoch keine Familienangehörigen. Als der Offizier den verdienten Oberst vor sich sah, erlaubte er dem Vater, sich eine „Ordonnanz“ auszusuchen. Es fand sich ein 19-jähriger Bursche aus dem Ufimsker Gouvernement, Fedot Sergejew. Dieser Fedot war etliche Jahre zuvor so etwas wie ein Verwandter unserer Familie gewesen. Es kam die Stunde, da die Überreste der Wrangel-Armee zum Meer abgedrängt und auf ein Schiff verladen wurden, um ins Ausland zu fliehen. Der Vater befand sich zu dieser Zeit in einem Zustand, der ihm das Gehen unmöglich machte. Die Weißen hatten Sewastopol faktisch verlassen. Die Rote Armee war noch nicht einmarschiert. In der Stadt herrschte Anarchie, man rechnete miteinander ab, ermorderte die Offiziere, die sich versteckt hatten. Der Vater bat Sergejew ihn zu verlassen und sich zu den Seinen zu begeben, aber der wollte nichts davon hören, dass er seinen Retter allein zurücklassen sollte. Er schleppte den Vater aus dem Haus, verfrachtete ihn auf den ersten zufällig vorbeikommenden Leiterwagen und zwang den Kutscher, indem er ihn mit seinem Revolver bedrohte, auf dem schnellsten Wege zum Hafen zu fahren. Auf diese Weise, mit der Mündung der Nagan-Pistole im Nacken, lieferte er ihn bei irgendeinem griechischen Bootsmann eines noch auf Reede liegenden Lastkahns ab. Und so gerieten sie alle beide in das Lager Gallipoli am Ufer des Bosporus, das später traurige Berühmtheit erlangte. Eine gewisse Vorstellung vom Schicksal der Gallipoli-Häftlinge kann man bekommen, wenn man sich den Kinofilm „Die Flucht“ anschaut, in dem ein General sich in Paris in Unterhosen zur Schau stellt. Übrigens war die Wirklichkeit weit weniger amüsant und günstig. Als die „Sojusniks“ sich vergewissert hatten, dass von den Weißen Armeen künftig keine neuen Abenteuer zu erwarten waren, überließen sie sie der Willkür des Schicksals. Ein Teil der Lagerbewohner zerstreute sich in Konstantinopel, ähnlich wie der General in Unterhosen, ein anderer Teil wurde wie arme Verwandte von den slawischen Bruderstaaten Jugoslawien und Bulgarien aufgenommen. Unter jenen, die nach Bulgarien gerieten, befand sich auch eine Artillerie-Division unter dem Kommando des Vaters, der damals gerade auskuriert war. Bei ihm war auch seine Ordonanz, der Artillerist Fedot Sergejew. Man brachte sie in dem kleinen Städtchen Orchan unter, das später den Namen Botewgrad erhielt. Dort begegneten sich auch meine Eltern wieder. Und dort kam ich auf diese göttliche Welt.
Und nun zur Mutter. Die Familie ihrer Mutter, meiner Großmutter, stammte aus Schweden. Das Familienoberhaupt, ein Schiffbau-Ingenieur, war vertraglich nach Petersburg geschickt worden, und blieb dann auch dort. In der Familie gab es mehrere Söhne, aber das jüngste Kind war eine Tochter – Selma, meine Großmama. Die älteren Brüder brachten es zu etwas, nahmen hervorragende Posten ein und reisten in allen Ecken Rußlandes herum – bis ganz nach Tschita. Selma dagegen erwies sich als „mißraten“. Als sie noch ein Mädchen war, gab es in dem Mehrfamilienhaus, in dem ihre Eltern wohnten, unter den hinterwäldlerischen Bewohnern, ähnlich dem Helden bei Dostojewskij, einen Jungen namens Kolja. Großmutter und Kolja freundeten sich an – zum größten Mißfallen und Verdruß der Eltern. Übrigens war jener Kolja nicht gänzlich ohne jegliche Perspektiven: er beendete das Gymnasium, und als 1877-78 der russisch-türkische Krieg begann, begab er sich als Freiwilliger im Dienstrang eines Fähnrichs zur Befreiung Bulgariens an die Front. Großmutter trat, trotz aller Überredungskünste der Eltern und anderer wohlanständiger Bürger, der Gemeinschaft der barmherzigen Schwestern bei, die nach Bulgarien entsandt wurden, um den Armen zu helfen. Um dies etwas zu verdeutlichen: in der damaligen zeit gab es noch keine Sanitätsbataillone oder ähnliche medizinische Einrichtungen. Die Gemeinschaften der barmherzigen Schwestern waren freiwillige Formierungen, die in der Regel auf gesellschaftlicher Grundlage und den finanziellen Mitteln privater Spender organisiert waren. Geleitet wurde die Gemeinschaft von einer gewissen Karzewa, einer Frau, die dem Zarenadel nahestand und großen Einfluß genoß. Sie war der Großmutter sehr gewogen und brachte der Schwester Norrlander große Anteilnahme entgegen. Im großen und ganzen wurden der Großmama in Bulgarien keine leichten Tage zuteil. Es waren schwere Kämpfe am Schiptschensker Gebirgspaß im Gange, eine der wohl markantesten Seiten der Kampagnie. Die Kämpfe fanden im Winter statt, mitten in den Bergen. Außer Verwundeten wurden auch viele Soldaten mit Erfrierungen ins Hospital eingeliefert. Es gab keinerlei Narkosemittel. Tagtäglich wurden Arme, Beine, erfrorene Finger amputiert; schüsselweise wurden diese menschlichen Teile hinausgetragen. Leider gerieten die Hospitäler, die in unmittelbarer Nähe der vordersten Frontlinien lagen auch unter den Beschuß der Türken. In Sofia befindet sich auch heute noch der Medizinische Garten, in dessen Mitte ein aus weißem Gestein gebautes Denkmal steht, in das die Namen der Ärzte eingehauen sind, die im Freiheitskampf ums Leben kamen. Es sind viele Dutzend Namen. Großmutter und Großvater begegneten sich nicht während des Krieges. Sie hatten sich bereits in Petersburg kennengelernt und geheiratet. Im Krieg wurde der Großvater schwer verwundet. Als Folge davon verstarb er bald darauf und hinterließ an den Händen seiner Frau zwei ganz kleine Kinder. Die Familie befand sich in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Allerdings gelang es, den Kindern (als Kinder eines Kriegsteilnehmers) einen Platz in einem Schulinternat zu verschaffen. Und so kam meine Mutter ans Petersburger Institut für Kriegswaisen, die zwar nicht so modern, wie das Smolny-Institut war, aber äußerst respektabel, und wo die die Kinder eine gute Schulausbildung mit pädagogischem Einschlag erhielten. Die Großmama selbst blieb mittellos. Offensichtlich war ihr Verhältnis zu den Eltern abgekühlt, vielleicht waren sie auch schon nicht mehr am Leben – das weiß ich nicht. Zu Hilfe kam die Ober-Schwester der Gemeinschaft Karzewa. Sie hatte einen verwandten, den Grafen Nirod. Er war Verwalter des Zarenschlosses in Warschau, und später in Krasnoe Selo. Durch ihn fand Großmutter eine Arbeit als Wäscheverwalterin, d.h. sie war verantwortlich für alle mögliche Tisch- und andere Wäsche, ebenso wie für das Geschirr im Krasnoselsker Schloß, wo sie viele Jahre arbeitete. Meine Mutter, Ksenia Nikolajewna Lawrentewa, arbeitete nach Beendigung des Instituts als Lehrerin in Nowgorod, wo sie Wladimir Michailowitsch Polowij kennenlernte, der anfangs noch Student war, später Jurist. Er kam aus der Gegend und stammte aus einem nicht gerade begüterten Elternhaus.
Die Jahre vergingen. Der Weltkrieg brach aus. Mama wurde, ähnlich wie Großmutter, eine barmherzige Schwester; das Hospital befand sich in Warschau. Ich weiß im Augenblick nicht mehr, wie sie erneut wieder «ins bürgerliche Leben» geriet, wie dem auch sei, jedenfalls kehrte sie nach Nowgorod zurück, wo sie dann auch W.M. Popow heiratete. Jener befand sich in den ersten Kriegstagen, zusammen mit Mamas Bruder (und auch mit Onkel Schura) an der Front, wo sie als Freiwillige – aus freiem Willen Entscheidende, wie man sie damals nannte – hingegangen waren. Beide weichten in den Schützengräben, mitten in den Sümpfen Ostpreußens, durch, erkrankten dort an Tuberkulose und wurden zu unterschiedlichen Zeiten vom Kriegsdienst freigestellt. Und so erblickte Ende 1917 mein ältester Bruder Igor das Licht der Welt. Der Krieg und die Revolution brachten Zerstörung und Hunger. Das nordische Klima war schädlich für die Gesundheit der Schwindsüchtigen, und soverließ die Familie, bestehend aus Mutter und ihrem Mann, dem kleinen Sohn und dem Kindermädchen Mawra Aleksandrowna Kalaschnikowa, das aus einer Pskowsker Bauernfamilie stammte, den Wohnort, um ein besseres Los im Süden Rußlands zu suchen. Mit ihnen machte sich auch Mutters Bruder auf – Onkel Schura samt Frau und dem Säugling Kyrill. Lang und voller Abenteuer war der Weg, vorbei an weißen, roten und grünen Truppeneinheiten, bis man endlich das gesegnete und wohlgenährte Kuban-Gebicht erreichte. Aber auch hier war der Bürgerkrieg entflammt. Bald darauf befand sich die Kosakensiedlung Beloretschenskaja, wo sich meine Verwandten nieder gelassen hatten, in den Händen der Roten. Zusammen mit der Armee nistete sich in der Siedlung auch die Tscheka, mit dem Matrosen Bowdsej (oder so ähnlich) an der Spitze, ein. In ihrer Eigenschaft als Juristen wurden Wladimir Michailowitsch und Onkel Schura ebenfalls zur Mitarbeit in der Tscheka herangezogen. Unter dem Druck der Weißen wurde die gesamte Wirtschaft nach Jekaterinodar (Krasnodar) verlagert, aber auch von dort konnten sie sich nur mit knapper Not retten. Ich weiß nicht, wo Bowdsej und die Tschekisten hinkamen; aber jedenfalls war es nicht so einfach, sich mit der Familie auf und davon zu machen, und in der Stadt bleiben, die mit Unterstützung der Kosaken von den Weißgardisten eingenommen worden war, bedeutete das Todesurteil. Und da machte sich das weiter oben erwähnte Feldlager auf dem einzigen noch verbliebenen Weg, auf nach Grusinien (Georgien; Anm. d. Übers.), das zu der Zeit von den Engländern besetzt ist. Hier ist es noch vergleichsweise ruhig und es herrscht kein Hunger, aber weder das südliche Klima, noch die Weintrauben helfen der angeschlagenen Gesundheit. Die Tuberkulose schreitet voran, die beiden Kranken liegen kraftlos darnieder. Zu dieser Zeit werden die Engländer auch nach Batumi evakuiert, wo damals beide Familien lebten; die Behörden lassen die grusinischen Menschewiken verhaften. Am ersten Tag der neuen Machthaber werden auch Onkel Schura und Wladimir Michailowitsch als unzuverlässige Personen, die mit den Bolschewiken gemeinsame Sachen gemacht habe, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Die Mutter geht hin, sie bittet, gibt ihre letzten Wertgegenstände ab - und erhält schließlich die Erlaubnis, ihren Ehemann mitzunehmen, unter der Bedingung, dass sie Grusinien innerhalb von 24 Stunden verlassen. Wo sollten sie nun hin, mit den beiden Kranken, dem kleinen Kind und ohne Geld? Schließlich erklärte sich der herzkranke Kazo für ein Bestechungsgeld bereit, sie mit dem Boot zu einem noch auf Reede liegenden französischen Torpedoschiff zu bringen, das, Gerüchten zufolge, in Richtung Krim ablegen sollte. Die Mannschaft des Torpedobootes nahm die Flüchtlinge auf. Nicht zum letzten Mal sollten die hervorragenden Kenntnisse der Mutter in der französischen Sprache hier eine Rolle spielen. Allerdings fuhr das Schiff nicht auf die Krim, sondern auf direktem Wege nach Konstantinopel. Und somit befanden sich plötzlich alle Helden meiner Erzählung im Ausland. Man brachte sie im Lager Tusla, im europäischen Teil der Türkei, unter. In Tusla starb Wladimir Michailowitsch. Onkel Schura fristete sein Leben noch ein paar Jahre länger und starb in Jugoslawien, wohin sich seine Familie später begab. Zu jener Zeit wurde irgend so ein Informationsdienst für die Suche nach verlorenen Angehörigen organisiert. Mit seiner Hilfe, oder auf irgendeine andere Weise, ließen sich Vater und Mutter, die sich noch aus Petersburg kannten, registrieren, aber so oder anders gerieten Mutter und Sohn Igor samt Kindermädchen nach Bulgarien, in die Stadt Orchan. Ihre wenigen Habseligkeiten hatten sie mitgenommen; darunter befand sich auch die „kardonka“, das Sperrholzkästchen, mit dem ich meine Erzählung begonnen habe. Das war Ende 1921, und im November 1922 wurde ich selbst geboren. Ich habe das handgeschriebenes Dokument, ein unansehnliches Blatt aus eienm Schreibheft, gesehen, welches bestätigt, dass ich vom Oberpriester der N-sker Artillerie-Divison Mesenzew nach orthodoxem Glauben getauft wurde. Meine beiden Paten waren der Artilleriesoldat Fedot Sergejew und die Kleinbäuerin Mawra Kalaschnikowa. Letzteres war mit ausschlaggebend für die Beurteilung meines Vaters. Die Division bestand, wie die Mehrheit der weißen Truppenteile, aus Offizieren. Unter ihnen gab es zahlreiche „Margarine-Soldaten“, wie der Vater sie nannte, d.h. von den weißen Kommandeuren zu Offizieren herangezüchtete Gymnasiasten, Kaufleute und Söhne von Geistlichen, aber es waren auch viele zaristische Berufsoffiziere dabei, darunter auch Titelträger. Und da, bei einer derart großen Auswahl, beschloß Oberst Sokolow, mit der Bäuerin aus Pskow, die weder lesen noch schreiben konnte und dem Halb-Analphabeten und Soldaten aus den Reihen der Rotarmisten Verwandtschaft zu schließen (denn es war so, dass die Taufpaten, dem Brauche entsprechend, zu Verwandten wurden). Der Vater verachtete schonungslos alle weißgardistischen Truppen, und er bemühte sich auch gar nicht, dies zu verbergen, wenngleich er, nach den Worten seiner Kollegen, ein strenger, anspruchsvoller, aber auch fürsorglicher Kommandeur war. Die Artilleristen waren in leerstehenden Kasernen untergebracht, besaßen Waffen und sogar Kanonen; man achtete auf militärische Ordnung. Der Vater war ein strenges Auge darauf, dass alles, was für die Soldaten bestimmt war, auch an sie gelangte. Es gab da solche Fälle.
Mehl und Brot wurde bei einer privaten Mühle auf Kredit gekauft. Bei Überschreiten der Zahlungsfrist wurden im voraus festgesetzte Verzugszinsen fällig. Es kam vor, dass diese Frist auf einen Sonntag fiel, wenn die Mühle nicht in Betrieb war. Sobald der Vater sich plötzlich darauf besann, schickte er das Geld dem Müller, der in der Nähe seiner Mühle wohnte, nach Hause. Aber jener lehnte es ab, das Geld in Empfang zu nehmen und die Quittung zu unterschreiben, in der offnung, am folgenden Tag auch die vereinbarte Konventionalstrafe einkassieren zu können. Er schloß sich im obersten Stockwerk seiner Mühle ein und drohtemit der Flinte. Der Vater war ein Hitzkopf und ließ mit sich nicht spaßen. Er befahl die Mühle im Sturmangriff zu erobern und den Müller gewaltsam zu zwingen, das Geld anzunehmen. Es entstand ein Feuergefecht, bei dem der Müller einen Ochsen erschoß, der auf der Straße vor einen Karren gespannt war. Dennoch wurde die festung eingenommen und das Geld gegen Quittung ausgehändigt. Natürlich ging die Sache vor Gericht, wobei der Müller zusätzlich noch dazu verurteilt wurde, dem Besitzer des Ochsen für das schuldlos umgekommene Tier eine entsprechende Geldsumme als Ersatz zu zahlen. Es gab noch einen anderen fall. Der Wirtschaftsleiter, ein gewisser Oberstleutnant Petr Petrowitsch Schukow, der aus einer kleinen Kaufmannsfamilie, aus der Stadt Gschatsk, der Heimat Jurij Gagarins, stammte, und der später im Leben unserer Familie keine geringe Rolle spielen sollte, befahl eines schönen Tages ein Schwein zu schlachten, das zur Abgabe an die Divisonsküche geschlachtet worden war. Das Fleisch kam in die Gemeinschaftsverpflegung, aber den Kopf lieferte Petr Petrowitsch in aller Heimlichkeit der Mutter zum Durchfüttern ihrer vielköpfigen Familie ab. Alos der Vater vom Dienst kam, setzte er sich an den Tisch und war über die Luxus-Mahlzeit verwundert, die für Emigrantenverhältnisse äußerst ungewöhnlich war. Es ergab sich die Frage: woher ist das? Es entwickelte sich ein riesen Skandal. Schukow erhielt einen derart strengen Verweis, dass er sich noch 10-15 Jahre später daran erinnerte, als ich bereits groß war. Die Mutter fand eine Arbeit als Lehrerin am örtlichen Gymnasium. Schließlich wurde das Leben ein wenig leichter. 1923 vollzog sich in Bulgarien der versuch einer kommunistischen Revolution. An vielen Orten ließen die Behörden die Aufständischen verhaften. Anschließend folgte der Beginn der Reaktion, mit Professor Zankow an der Spitze der Regierung, dessen Name viele Jahre mit dem Zusatz „Mörder“ Erwähnung fand. Bei der Niederschlagung des Aufstandes wurden auch einige weißgardistische Truppen benutzt, die in Bulgarien einquartiert waren. Es gab Versuche, den Vater für gemeinsamen Aktionen mit den Zankow-Anhängern zu gewinnen, aber der lehnte kategorisch ab. Dies hatte zur Folge, dass die Division als eine der ersten entwaffnet und jegliche materielle Unterstützung eingestellt wurde. Es begann eine äußerst schwere Zeit. Alle gingen irgendwohin auseinander, nachdem sie sich mit den unterschiedlichsten Mitteln Brot beschafft hatten. Vater, Sergejew und noch ein paar andere Soldaten begannen auf dem Bau zu arbeiten. In dieser Periode gab die Sowjet-Regierung bekannt, dass es nun wieder erlaubt sei, nach Rußland zurückzukehren, sofern die Emigranten dies wollten. Viele von denen, die mit dem Vater zusammen waren, einschließlich unserer Familie, wären gern zurückgegangen, aber Bulgarien unterhielt keine diplomatische oder anderweitige Beziehungen zu Sowjet-Rußland, und die Ausreise dorthin war nur aus anderen Ländern möglich. Das wiederum war mit Schwierigkeiten bei der Ausstellung der Reisedokumente sowie erheblichen Kosten verbunden, was letzten Endes die finanziellen Möglichkeiten der verelendeten Menschen bei weitem überstieg. Ein anderes Mal führte das zu einer Tragödie. Einer der mit unserer Familie gut bekannten Kollegen des Vaters, Oberstleutnant Saperowitsch, der zusammen mit ihm auf dem Bau gearbeitet hatte, begab sich einmal an einem Samstag, nachdem er gerade seinen Wochenlohn erhalten hatte, zu dem hölzernen Laufsteg in der zweiten Etage, blieb einen Moment stehen, zündete sich eine Zigarette an, zog dann aus der Tasche eine Nagan-Pistole und erschoß sich. Auf dem Notizzettel, den man in seiner Jackentasche fand, stand geschrieben, dass er keine Möglichkeit habe, nach Rußland zurückzugehen, und deshalb in seinem Leben keinen Sinn mehr sähe.
Das Leben wurde immer schwieriger. Mutter verlor ihre Arbeit – offenbar
setzten die neuen Machthaber ihre rege Tätigkeit fort, ein Auge auf „nicht
loyale“ Russen zu werfen. Der ehemalige Oberst und seine Ordonnanz zerstückelten
mit Hämmern Schotter zum Pflastern der Straßen – der wohl am wenigsten
Qualifikation erfordernde und auch am wenigsten angesehne Beruf in Bulgarien.
Der weiter oben bereits erwähnte Schukow, der eigentlich von Beruf Landvermesser
war, fand in Sofia Arbeit in einer Einrichtung, die sich TZS nannte. Das Wort
hatte ich schon oft gehört, aber niemand konnte einem sagen, was es mit dieser
Bezeichnung auf sich hatte. Ich weiß nur, dass man sich dort mit topographischen
Aufnahmen befaßte. Dort brauchten sie Mitarbeiter, und Schukow zog auch meinen
Vater dort mit hinein. Als erfahrener Artillerist kannte er sich sehr gut mit
topographischen Fotos aus, konnte hervorragend zeichnen und erwies sich so als
wertvoller Mitarbeiter. Auf diese Weise gerieten wir also auch nach Sofia. Eine
Wohnung in der Stadt nehmen war zu teuer. So ließen wir uns in der Vorstadt
nieder, im Hause Owtscharows, über den ich schon zu Beginn geschrieben habe.
Bulgarien, das im Verlaufe des Krieges mit Deutschland verbündet war, befand
sich nun unter den Flüchtlingsländern, von den Siegern vollständig ausgeplündert.
Es waren erhebliche Summen an Wiedergutmachungsgeldern zu zahlen, aber sie
besaßen keinerlei Vorräte an Valuta. Daher war die Wirtschaft des Landes eng an
Deutschland gekoppelt, wobei der Handel keine gegenseitigen Valuta-Zahlungen
erforderlich machte, sondern vielmehr nach dem Clearing-Verfahren abgewickelt
wurde, also in Form von bargeldlosen Zahlungen.
Das prädestinierte den bulgarischen Raum für die politischen Ereignisse der
folgenden Jahrzehnte, von denen noch die Rede sein wird. Im Augenblick ist dies
in dem Zusammenhang wichtig, weil der Hauptanteil der Handelsgeschäfte mit
Deutschland zustande kam und Menschen für die korrekte Ausstellung der Dokumente
und die Klärung juristischer Fragen und Probleme nötig waren. Einer der
besonders kompetenten Juristen auf diesem gebiete war Advokak Klain aus Sofia.
Sein Vater, ein aus Österreich stammender Deutscher, war Leibarzt des
bulgarischen Kaisers Ferdinand gewesen. Seine Söhne – Alexander und Boris –
besaßen bereits die bulgarische Staatsbürgerschaft, hatten jedoch ihre eigene
Nationalität nicht verloren. Der ältere Alexander war von Beruf Jurist, der
jüngere war dem Beispiel seines Vaters gefolgt und Arzt geworden. Bei diesem
Alexander Klain kam die Mutter als Schreibmaschinenkraft unter. Wieder halfen
ihr hier ihre Sprachkenntnisse weiter. Die Klains lebten hinter der Stadt, etwa
drei Kilometer von Knjaschewo entfernt, ein wenig weiter flußaufwärts, wo das
Wasser noch sauber war. Das Flüßchen schlängelte sich unmittelbar am Gutshof
vorbei. Die Familie des Hausherrn lebte in einer großen, zweigeschossigen Villa.
Sie war von einem großen Obstgarten umgeben, daneben befanden sich die
Wirtschaftsgebäude, in denen Geflügel gezüchtet wurde: verschiedene Entenarten,
seltener Hühner, usw. Die allgemeine Leitung der Wirtschaft lag auf den
Schultern der Hausherrin Herma, einer schmächtigen, häufig schreienden
Österreicherin. Die Klains hatten einen Sohn, der ungefähr drei Jahre älter war
als ich; er hieß Hans. Hansi, wie die Eltern ihn nannten. Allerdings verlangte
die große Wirtschaft und ihre ständige Umgestaltung den Blick eines Mannes und
gewandte Hände. Die angestellten Verwalter hielten sich dort nicht sehr lange.
Und da schlug Mutter für diesen Posten unseren Fedot Sergejew vor. Er lebte sich
gut ein, und der Hausherr konnte sich über ihn nicht genug freuen, wenngleich
Fedot sich mit der Hausherrin gar nicht gut verstand und sie immer verächtlich „Frau
Doktor“ nannte. Sie war für ihn keinen Groschen wert, zumal er die Protektion
des Doktors bemerkte. Mit „Doktor“ ist in diesem Fall kein Arzt gemeint, sondern
die Ehrenbezeichnung für einen Spezialisten mit höherer Bildung, wie sie in
europäischen Ländern üblich ist). Auf diese Weise also faßten unsere
Familienmitglieder in Bulgarien Fuß. Interessant, dass es beim Ausfertigen der
Dokumente zur polizeilichen Anmeldung erforderlich war, in einer bestimmten
Rubrik Angaben über Vor- und Nachnamen, die Beziehung zum Familienoberhaupt, usw.
zu machen.
Mutter besaß eine Bescheinigung über ihre Schulbildung, ausgestellt auf ihren
Mädchennamen Lawrentewa. Das Kindermädchen wußte nicht, zu wem sie
verwandtschaftliche Beziehung angeben sollte. Sie schrieben einfach –
Schwiegermutter. Der Vater war entrüstet: weiß der Teufel, was das soll. Ich
selbst heiße Sokolow, meine Frau Lawrentewa, die Schwiegermutter Kalaschnikowa
und der Sohn Popow, und ich bin wohl mein eigener Großvater!
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