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P. Sokolow. Schlaglöcher

TEIL 1. KINDHEIT

KAPITEL 2. Erste Wanderschaften

Vor mir liegt der Nansen-Paß, er
Ist von unschätzbarem Wert.
Er erinnert mich, außer an nackte
Emigrantenwände an Gleichheit
Und Brüderlichkeit.

Danke, Großvater Nansen,
Er hat uns für immer getröstet:
Er hat uns Gewicht und Bedeutung
Verliehen, und alles andere ist –
Unsinn.

Aus dem „Paraguayer Boten“, dessen Redakteur zufällig eines der Dokumente ausgehändigt wurde.

Nansens Paß stellte eine veredelte Abart des sogenannten „Wolfspasses“ dar, analog zu dem früher Gesagten: „Hau ab!“, nur heißt es heute im allgemeinen „Kommen Sie morgen wieder!“ Dieses wenig beachtete Dokument wurde von der Liga der Nationen geschaffen – auf Vorschlag des bekannten Polarforschers Fridtjof Nansen. Er verkörperte die Aufenthalts-genehmigung für alle Flüchtlinge, hauptsächlich Russen und Armenier, die vor der Verfolgung durch die Türken aus der türkischen Armee geflohen waren. Mit diesem Paß war es schwierig, eine Arbeit zu bekommen, in ein anderes Land umzuziehen: gern ließen sie einen hinaus, aber nicht wieder herein. Wie blanker Hohn prangte auf ihm die Aufschrift: „Liberté, Egalité, Fraternité“, d.h. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aus diesem Vorwort wird verständlich, daß es hier um das Leben eines Mannes geht, der die Freiheit des Dahinvegetierens, der Gleichstellung mit Rechtlosen und der Brüderlichkeit besitzt, etwa so, wie es sich mit den amerikanischen Indianern verhält. Vielleicht ist das Leben des „Emigranten-Abschaums“ vor dem Hintergrund des Weltgeschehens ein sehr bedeutungsloses Thema, aber erstens handelt es sich um eine, wenn auch ziemlich beschmutzte, Seite in der russischen Geschichte, die zudem kaum jemandem bekannt ist, und zweitens ist sie meiner Ansicht nach charakteristisch für jede Art von Emigration – damals wie heute. Selbst wenn du Materialien aus dem Leben Lenins im Ausland gelesen hast, kannst du dich davon überzeugen, daß auch zu jener Zeit, als intelligente, politisch denkende Menschen emigrierten, sich bei der Emigration Tendenzen beobachten ließen, die auch für die spätere, in ihrer Zusammensetzung viel bunter gescheckte und von anderen Überzeugungen getragene Emigration charakteristisch waren, die ich selber beobachten konnte. Das Wesen dieser Tendenzen – die geistige Verkümmerung, unabhängig von der materiellen Lage.

Also, unsere Familie legte sich Nansen-Pässe zu; die Eltern richteten sich ihr Leben ein, fanden Arbeit, und das Leben kam mehr oder weniger in eine normale Bahn. In dieser Zeit begann die Bereinigung der Grenzfragen zwischen Griechenland und Bulgarien, unter anderem auch die genaue Definierung der Grenzlinien zwischen beiden Ländern. Mit diesem Ziel wurde die Griechisch-Bukgarische Kommission geschaffen, zu deren Bestand auch eine topographische Gruppe gehörte. Mein Vater war ebenfalls dabei. Stützpunkt der Kommission war die griechische Stadt Saloniki am Ufer des Ägäischen Meeres. Ich weiß nicht mehr, ob wir gleich alles nach Griechenland umzogen, oder ob unser Vater zuerst dorthin fuhr, aber ich kann mich an die erste Reise meines Lebens erinnern, und die führte durch Bulgarien, Jugoslawien und Griechenland, denn es gab keine direkte Verbindung. Mich versetzte sowohl das zu einer dicken geschlossenen Linie zusammenfließende Schimmern der Fenster der entgegenkommenden Züge in Erstaunen, als auch die scheinbar entgegenlaufenden Telegrafenmasten und die wilden Bergschluchten mit ihren herabstürzenden schäumenden Flüssen. Endlich waren wir angekommen un dließen uns in regendeiner Barackensiedlung in der Nähe der Stadt nieder, die mit Saloniki durch eine Straßenbahnlinie verbunden war, auf der ein einziger, gelbfarbener Waggon verkehrte. Die Einwohner dieser Siedlung waren in erster Linie Russen, eine ganze russische Kolonie, zu deren Bestand auch zwei popen gehörten – Vater Iwan und Vater Ilja, eine Reihe Mitarbeiter der Griechisch-Bulgarischen Kommission von der riechischen Seite und nicht wenige Personen ohne besondere Beschäftigung, unter ihnen der ehemalige General-Leutnant Wojzechowskij, eine außergewöhnliche und im folgenden ziemlich eng mit den Lebensereignissen unserer Familie verbundenen Persönlichkeit. In jener Zeit verdiente er sich mit Malerarbeiten etwas Geld hinzu, was ihm die Möglichkeit verschaffte, nicht den Hungertod zu sterben. Unter den wohlhabenderen und geachteteren Bürgern dieses Ghettos befand sich die Familie des russifizierten Griechen Kilinkarow, der drei Töchter im heiratsfähigen Alter hatte – Eurike (Euridike), Meine ( Melpomene) und Gone (Antigone). Von den anderen erinnerte ich mich noch an Vater Iljas Schwiegersohn – Bschestowskij, und zwar deswegen, weil er ein echtes Gewehr und einen Pointer-Hund besaß, der seine Sympathien mir gegenüber dadurch zum Ausdruck brachte, daß er mich ganz einfach umstieß und dann mit seiner langen, sabbernden Zunge ableckte, - und an Warwara Wasiljewna Worotynskaja. Da es in der Kolonie 10-12 Kinder unterschiedlichen Alters gab und man nicht wußte, wohin man mit ihnen sollte, organisierte Warwara Wasiljewna eine schulähnliche Einrichtung, wo alle in einem Raum unterrichtet wurden, darunter auch ich, obwohl ich gerade erst fünf Jahre alt war. Die Lehrerin war streng, ich fürchtete mich und war sehr bestrebt Buchstaben zu malen. Aufgrund ihrer Bemühungen lernte ich so früh lesen. Außer ihr unterrichtete manchmal auch Vater Ilja. Er erzählte alle möglichen Gottesgeschichten, an die ich mich schon nicht mehr erinnere, aber es war interessant ihm zu lauschen: es waren irgendwie so abenteuerliche Geschichten, in denen Heilige, aber auch unreine Kräfte mitwirkten. Die Eltern waren beide berufstätig und wir – unter der Obhut der Nana, meiner Patentante. Im übrigen lief diese Obhut vor allen Dingen auf unsere Fütterung hinaus; die übrige Zeit beschäftigten wir uns auf dem sonnenverbrannten Hügel oder spielten mit einem Knäuel buntgescheckter Katzen und mit schmutzigen Kindern. An den Feiertagen fuhren wir in die Stadt. Entlang der Meeresküste verlief ein breiter Boulevard, auf dem lange zweiteilige Straßenbahnen, ebenfalls von gelber Farbe, fuhren. Am Meer erhob sich der Koloß eines riesigen Turms – es war das Wahrzeichen der Stadt, und dahinter öffnete sich die Bucht mit zahlreichen kleinen Booten und Schiffen, unter denen auch, wie reglos daliegende Krokodile, Kriegsschiffe lagen; die meisten von ihnen waren ausländischer Herkunft. Englische, französische und ortsansässige Seeleute schlenderten in Gruppen durch die Stadt. Dank der Initernationalität der Bewohner und Stadtbesucher konnte man sich an den Verkaufsständen in vielerlei Sprachen verständigen; deswegen hatten die Eltern diesbezüglich keine Probleme. Wir, die Jungchen, eigneten sich natürlich ziemlich schnell eine ganze Anzahl griechischer Worte und Phrasen an, mit deren Hilfe sich unsere Alltagsprobleme lösen ließen – der Kauf von Eis, Milch und Fruchtsaft. Unter den Schiffen, die in den Hafen einliefen, fanden sich auch sowjetische. Es gab sogar einen Konsul. Hier eröffnete sich erneut die Möglichkeit einer Rückkehr nach Rußland. Allerdings war die Massenwelle der Repatriierung bereits abgeflaut und einzelne Heimkehrer hatten es nun erheblich schwerer. Es kam ein reger Briefwechsel zustande. Nicht nur einmal fuhr der Vater zur Botschaft nach Afiny, aber die Sache nahm einen bürokratischen Charakter an. Es gelang, sich mit der Großmutter mütterlicherseits in Verbindung zu setzen. Sie war bereits in fortgeschrittenem Alter, war mit Müh und Not von einer durchgemachten Lähmung genesen und lebte bei fremden Leuten, ohne eigene Existenzmittel.

Eine neue Idee erblickte das Licht der Welt. Wie ich bereits sagte, besaß der Vater aus dem Nachlaß seiner Eltern in Finnland ein Waldrevier. Wir wandten uns an die finnische Vertretung. Dort erklärte man uns, daß bei Vorhandensein der entsprechenden Dokumente, möglicherweise die Frage über die Rückgabe es Landstücks aufgeworfen werden könnte – nach Zahlung der Steuern auf die in den vergangenen Jahren gemachten Einnahmen. Diese Dokumente befanden sich bei einer Verwandten des Vaters. Es wurde folgender Beschluß gefaßt: die Großmutter sollte bei ihm angemeldet werden. Unterwegs sollte die Verwandte sie treffen und ihr die Papiere aushändigen. Und anschließend wollten sie sich damit an die Finnen wenden (die verweigerten den Einzug nicht) und sich, nachdem sie sich in der Nähe von Leningrad niedergelassen hatten, verstärkt um die Rückkehr nach Rußland bemühen, was angesichts der guten diplomatischen Beziehungen zwischen Finnland und der UdSSR viel einfacher war. Aber Pläne hin, Pläne her – die Zeit verran, die Frist für die Arbeit der Kommission verstrich. Schließlich erledigte die Großmutter alle Formalitäten für ihre Abreise und begab sich zu uns nach Griechenland. Übrigens: ihre Verwandte traf sie nicht, und unsere Grundbesitzer-Illusionen stürzten in sich zusammen. Und dann kam der Tag, an dem die Großmama eintreffen sollte. Der Dampfer aus Rußland legte am Abend an, und das erledigen aller Formalitäten brauchte Zeit. Im großen und ganzen wartete ich die Ankunft der Großmutter auch gar nicht ab, sondern fiel in einen tiefen, festen Schlaf. Ich wachte auch erst ziemlich spät auf, als bereits die heiße südliche Sonne am Himmel stand. Meine erste Frage war: „Wo ist Großmama?“. Man sagte mir, daß sie draußen sei. Sobald ich angezogen war, eilte ich in den Hof. Dort sah ich auf einem Klappstuhl eine merkwürdige Gestalt sitzen, um die eine ganze Menge Erwachsener und Kinder herumstanden. Furchtsam und mit klopfendem Herzen näherte ich mich auf allen Vieren und sah eine kleine Alte im Pelzmantel und mit einer Mütze aus dünnem, schwarzem Fell auf dem Kopf (es war, wie sich später herausstellte, das Fell eines Katers), mit eigenartig plumpem Schuhwerk, einer Art Filzstiefeln. In der Hand hielt sie einen Gehstock. Zu jener Zeit kannte ich bereits eine ganze Reihe Märchen und Geschichten von Zauberern, und genau so, wie die alte Großmutter hatte ich mir immer eine Zauberin vorgestellt; nur konnte ich nicht erraten, ob diese hier gut oder böse war. Die Griechen wiegten ihre Köpfe, schnalzten mit den Zungen, aber Großmama „wärmte“ sich mit stoischer Ruhe in ihrem Pelzmantel unter Hellas’ glühender Sonne. Übrigens, als man die Großmutter ins Haus führte und sie sich entkleidet hatte, erwies sie sich als überhaupt keine Furcht einflößende, kleine Gestalt, mit der Haarfarbe einer weißen Maus, mit großen, klaren, nordischen Augen. Wir freundeten uns schnell mit ihr an. Mitunter kommte es im Leben zu bemerkenswerten Begegnungen. Es stellte sich heraus, daß sich beinahe 50 Jahre zuvor Großmutters Wege mit denen des Generals Wojzechowskij in der Nähe von Schipka gekreuzt hatten, als er verwundet in dem Lazarett lag, in dem die Großmama arbeitete. Da wurde sich viel erzählt, da schwelgte man in Erinnerungen. Allerdings nahm das Leben seinen Gang, und wir mußten erneut eine Entscheidung treffen, was wir im weiteren Verlauf tun wollten. Die Kommission war inzwischen liquidiert worden. Wir mußten nach Bulgarien zurückkehren. Das Verhältnis des Vaters gegenüber Bulgarien war recht abgekühlt – offenbar stand er in scharfem Konflikt zur Zankow-Regierung, soweit ich dies vom Hörensagen her einschätzen konnte. Die Reaktion in Bulgarien nahm in dieser Zeit weiter zu. In Sofia ereignete sich eine Explosion in der Kirche „Zur Heiligen Woche“, als dort gerade ein feierlicher Gottesdienst in Anwesenheit des Zaren stattfinden sollte. Viele Menschen kamen ums Leben. Die Regierung beschuldigte die Kommunisten mit dem berühmten Georgij Dimitrow an der Spitze – einem der augenscheinlichen Funktionäre der internationalen kommunistischen Bewegung. Es gelang Dimitrow sich zu verstecken, aber eine große Gruppe Aktivisten der kommunistischen Partei wurden verurteilt und unmittelbar danach auf dem Platz vor der zerstörten Kirche erhängt.

Dieses Ereignis steht in deutlichem Zusammenhang mit einer anderen großen Provokation des Antikommunismus – dem Reichstagsbrand in den ersten Jahren des Faschismus in Deutschland. Eben jener G. Dimitrow wurde der Organisation des Brandes beschuldigt. Die Explosion in der „Heiligen Woche“ sollte den beweis für die Anklage erhärten. Der Geschichte bleibt dieser Prozeß gegen den Angeklagten als glänzende Selbstverteidigung des G. Dimitrow erhalten, der die ganzen gefälschten Dokumente und Behauptungen so lückenlos und überzeugend enthüllte, daß selbst das faschistische gericht gezwungen war den Beschuldigten freizulassen.

Eigentlich wollte der Vater nicht nach Bulgarien fahren. Zu jener Zeit schlugen die Franzosen ihm vor, sich zu Forschungsarbeiten in den heutigen Libanon oder nach Syrien zu begeben, die sich nach dem Zerfall des türkischen Imperiums unter französischem Protektorat befanden. Aber ins Ungewisse fahren, in irgendwelche geheimnisvollen, exotischen Länder, mit einer inzwischen noch größer gewordenen Familie, kam einem Abenteur gleich. Schließlich fand man eine Kompromißlösung: Der Vater fuhr nach Syrien, um sich dort nach einer Arbeit u zusehen, und wir reisten nach Bulgarien zurück. Gleich noch ein Exkurs in die Geschichte, der einige Aspekte in puncto Entwicklung der nachfolgenden Ereignisse in unserem zwar kleinen, aber dennoch internationalen Maßstab erklären soll. Zu meiner Zeit, nach dem Ende des Befreiungskrieges von 1877-78, wurden die Grenzen des neu entstandenen bulgarischen Staates festgelegt. Diese Grenzen waren durch den Frieden von San Stefano gesichert. Aber beunruhigt darüber, daß auf dem Balkan ein riesiger Unionsstaat Rußlands entsteht, übten die westlichen Staaten – England, Deutschland, Österreich – einen starken Druck auf Rußland aus, indem sie schon Kreigsdrohungen verlauten ließen, und dann in Berlin eine internationale Kommission ins Leben riefen, welche die Friedensverhandlungen zwischen Rußland und der Türkei durch das Berliner Abkommen festigte, nach dem das bulgarische Territorium erheblich beschnitten wurde. Seit jener Zeit war es das Hauptziel der bulgarischen Außenpolitik, die abgetrennten Landesteile wieder in die im San-Stefano-Frieden festgelegten bulgarischen Grenzen einzugliedern. Dies gab Anlaß zu einer ganzen Reihe von Kriegen, von denen der letzte – der Weltkrieg – nicht nur zur militärischen Niederlage wurde, sondern auch der Grund für eine schwere wirtschaftliche Rezession war. Nichtsdestoweniger wurde in der Periode der halbfaschistischen Zankow-Regierung im Land eine Vergeltungsstimmung herangezüchtet, die das Verhalten gegenüber den Nachbarn, besonders gegenüber Jugoslawien, auf das ein erheblicher Teil der abgerungenen Gebiete (Mazedonien) gefallen war, in erheblichem Maße zuspitzte. Diese Region, ehemals Bestandteil des Altbulgarischen Zarenreichs, war von Völkern bewohnt, die gleichermaßen sowohl Bulgaren als auch Serben in Sprache und Lebensalltag nahe standen. Während der türkischen Gewaltherrschaft hatte sich dort erfolgreich eine Partisanenbewegung entwickelt, und in den Volkssagen und – liedern wurden die Heldentaten der „Tschetniks“ und ihrer Wojewoden gerühmt. In der Zeit, von der hier die Rede ist, kamen ähnliche „Tschets“ ebenfalls hauptsächlich auf dem Territorium Bulgariens, mit geheimer Unterstützung der bulgarischen Regierung, auf, die die Grenze überschritten, in den Bergmassiven herumliefen und sich in den Gebieten Jugoslawiens mit ganzgewöhnlichem Terrorismus befaßten, ähnlich den Somoso-Anhängern im heutigen Nicaragua. Demzufolge war das Verhältnis zwischen beiden Staaten äußerst angespannt. Auch wir empfanden das, als wir uns dazu entschlossen, nach Bulgarien zurückzukehren. Nur mit viel Mühe gelang es uns ein Transitvisum durch Jugoslawien zu erhalten, und die ganze Zeit, während wir auf jugoslawischem Boden reisten, befand sich in unserem Abteil ein Gendarm mit einer ganz besonders geschnittenen, roten Schirmmütze, der einen an die serbische National-„Schajkatscha“ erinnerte, ähnlich der Kopfbedeckung, welche die Flieger tragen. Allerdings bekamen wir die Schwere einer solchen Überwachung nicht zu spüren. Es stellte sich heraus, daß der Gendarm seinerzeit in die österreichische Armee einberufen worden und dann in russische Gefangenschaft geraten war; er sprach ganz gut Russisch und war äußerst höflich; er half sogar beim Tragen des Gepäcks.

Um die „Mazedonien-Frage“ zum Abschluß zu bringen, muß ich ein wenig vorgreifen und erzählen, daß sich die mazedonischen Emigranten ein wenig später in zwei verfeindete Gruppierungen aufteilten. Die eine wollte die Selbständigkeit, die andere die Angliederung an Bulgarien. Ihre Meinungsverschiedenheiten meinten sie mit Hilfe gegenseitiger Morde regeln zu können, die mit der Zeit zu einer Plage im inneren Leben Bulgariens wurden. „Wieder ein mazedonischer Mord!“, mit solchen Überschriften waren fast täglich die zeitungen gespickt. Also in einer solchen Zeit der Ausschreitungen und des Terrorismus kehrten wir in die schon beinahe heimatlichen Gefilde zurück, und ließen uns in der Ortschaft Knjaschewo, fast genau gegenüber dem Hause Owtscharows nieder, wo ich der Morgenröte meines Lebens begegnete.

Mitgerissen von Familienangelegenheiten, war ich gänzlich wieder vom Thema der Emigration abgekommen. Wie ich zuvor erwähnt habe, fand eine Selbstliquidierung aller militärischen und zivilen Lager statt, nachdem Regierung und Wohltätigkeitsorganisationen ihre materielle Hilfe eingestellt hatten, und alle liefen wie Küchenschaben auseinander, um sich irgendwo das lebensnotwendige Brot zu beschaffen – jeder nach seinen Kräften und Möglichkeiten. Insgesamt war das ein nicht wirklich an Arbeit gewöhntes Gewimmel und Gewühl entarteter Aristokraten, Angehöriger des Offiziersstandes, die sich längst an staatliche Verpflegung gewöhnt hatten, rotznasiger, liberaler Intellektueller und einfach sich im Wirbel der Ereignisse drehender Spießbürger – in der Art wie unsere Familie. Die Art und Weise ihrer Existenz entsprach der Erziehung und Psychologie jedes einzelnen Menschen sowie der sozialen Schicht als Ganzes gesehen. Die Mehrheit der ehrbaren Leute war gezwungen irgendeine x-beliebige Tätigkeit anzunehmen - zumeist schwere körperliche, unqualifizierte Arbeit; andere wiederum ließen sich auf Abenteuer ein, und viele ließen sich vollkommen hängen, bis sie zu einer „Plage“ der Menschheit wurden, da sie sich von untergeschobenen, wenig Achtung und Ehrfurcht einflößenden Geschäften ernährten. So gab es beispielsweise in Bulgarien unter den Bauern eine große Nachfrage nach einfachen Bildchen, Ikonen, usw. Es enstand eine Art „Firma“. Es fand sich ein mehr oder weniger wohlhabender Organsiator, der den ironischen Titel „Hauptgott“ trug“. Er besaß in seinem Gefolge 2-3 „Gottesfürchtige“, welche die heiligen Produkte zeichneten, sowie ein paar Agenten für ihren Verkauf – die sogenannten „Christusverkäufer“. Es war nicht leicht, die Tätigkeiten für dieses gemeinsame Geschäft genau im voraus zu kalkulieren: die Preise gestalteten sich spontan, die Christusverkäufer konnten sich dem Trunke ergeben und die gesamten Einnahmen versaufen. Aus diesem Grunde war es ganz klar, daß eine erfolgreiche Entwicklung des Business nicht stattfand. Es gab auch Versuche, andere „künstlerische“ Tätigkeiten ins Leben zu rufen und auszuüben. So befaßte sich zum Beispiel eine Gruppe von Geschäftsleuten. Zu denen auch er Vater einer meiner zukünftigen Straßenfreunde gehörte, beschäftigten sich mit der Herstellung von Falschgeld – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Zu jener Zeit, als wir uns zum zweiten Mal in Bulgarien niederließen, war die Emigrationswelle ein wenig zur Ruhe gekommen und war in eine ganze Reihe ziemlich gleichmäßiger sozialer Zwischenschichten zerfallen. Die Gauner und Spitzbuben saßen hinter Schloß und Riegel, die Christusverkäufer hatten sich der Trunksucht ergeben und es war klar zu erkennen, „wer wer war“ in dem anfänglich so homogenen Emigrantensumpf. Die großen Geschäftsleute, die es wagten Kapital und materielle Werte anzulegen, ließen sich hauptsächlich in Frankreich, teilweise auch in Amerika nieder. Die Aristokraten – ebenfalls in Frankreich oder in England. Die deutsche Emigrantenfraktion war nicht sehr zahlreich und besaß auch keinen ausgeprägten „Gesichtsausdruck“, möglicherweise deswegen, weil viele ihrer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich von Anfang an mit gefälligen Diensteistungen für eine der zahlreichen Spionagebehörden beschäftigt hatten und sich aus nur allzu verständlichen Gründen bemühten, sich nicht groß hervorzutun. In Jugoslawien hatte sich ein recht stattlicher Teil der Emigranten ein Plätzchen gesucht, hauptsächlich aus den Reihen jener weißgardistischen Truppen, die seinerzeit aus den Galipoli-Lagern angenommen worden waren. Es handelte sich um eine unvermögende, ziemlich organisierte reaktionär-monarchistische Gesellschaft. Auf dem Los Bulgariens blieb eine zahlenmäßig nicht besonders große, zum Adel gehörende, ziemlich niedrig anzuordnende Schicht hängen. Aber mit der Zeit kristallisierten sich auch aus ihr einzelne Gruppierungen heraus. Am schnellsten gewöhnten sich eheamliger Ladenbesitzer, praktisch veranlagte Kosaken und ihnen ähnliche an die neue Situation. Nachdem sie in kleinem Rahmen Geschäfte mit altem Plunder begonnen hatten, sammelten sie in der Folgezeit einen gewissen Reichtum an und legten sich, wenn auch keine besonders schicken, aber immerhin einträgliche Läden zu, in denen sie mit Kleidung und Schuhwerk für Menschen mit geringem Einkommen handelten. Eine kleine Gruppe mittelloser Aristokraten war entweder völlig heruntergekommen, wie die Fürsten Wjasemskij, Lobanow-Rostowskij und andere, die ich später als Schmarotzer im Invalidenheim wiedertraf, oder sie wählte einen ebenfalls parasitären, aber immerhin respektablen Weg, indem sie sich in Popen verwandelte. Unter den russischen Gesitlichen in Sofia bgegneten man den Namen der Fürsten Uchtomskij, Liwen und anderen. Diese äußerst gebildeten Leute standen unter den Fittichen von Bischof Serafim, einem zugewanderten Dorfpopen, und nachdem sie sich an ihn recht gut angepaßt hatten, machten sie den Gläubigen mit ihrem Gerede über furchtbat heiße Pfannen in der Hölle Angst oder erzählten davon, in welcher Gestalt man am häufigsten den Teufel sehen konnte. Den Großteil der Emigranten stellten kleine Geschäftsleute dar, die über all ihre Finger drin hatten, sowie alle Arten von Proletariern und Vertretern des Lumpenproletariats. Der größte Klumpen, der sich wie eine dicke Schicht abgesetzt hatte, war das „Russische Invalidenhaus“, in dem sich etwa 300-400 wirkliche Invaliden, aber auch einfach nur betagte Menschen und ihre Familienangehörigen befanden. Darüber muß im folgenden noch ein wenig genauer berichtet werden. Aus politischer Sicht war die russische Emigration nach Bulgarien äußerst ungleichartig, aber diese Tatsache war lediglich ein schwacher Widerhall der Arbeit von allen möglichen Parteien und Zentren, die hauptsächlich in Frankreich einen Platz für sich gefunden hatten. Auch in kultureller Hinsicht gab es hier keine wirklich bekannten, namhaften Größen, aner nichtsdestoweniger gab es Bemühungen, den „russischen Geist“ durch die Einrichtung verschiedener Klubs und Laienkunst-Kollektive zu bewahren. Eine wesentliche und dankbare Rolle spielte die Organisation russischer Gymnasien, zuerst in drei bulgarischen Städten, die sich dann später zum Russischen Gymnasium Sofia vereinigten. Diese widersprüchliche Welt betraten auch wir bei der Rückkehr aus Griechenland. Allerdings bemühten wir uns, im Vergleich zu der vom Vater gewahrten und von der Mutter unterstützten Tradition, uns von den militanten Truppen unserer Landsleute ein wenig weiter entfernt zu halten, aber dennoch ließen uns die Notwendigkeit des Umgangs, das einfache Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe und das gemeinsame Elend die Verbindungen mit der russischen Kolonie nicht vollständig abbrechen.

Ich muß hinzufügen, daß sich noch vor unserer Ankunft General Wojzechowskij in Sofia niedergelassen hatte. 1927 wurde der 50. Jahrestag des Russisch-Türkischen Krieges gefeiert, und man hatte in Bulgarien Kriegsteilnehmer ausfindig gemacht – sowohl russische als auch bulgariscvhe „Opoltschenzen“. Wojzechowskij wurde nach Bulgarien eingeladen, erhielt eine solide Pension und das Recht eine Uniform zu tragen. Also, als wir dann dort ankamen, fand er sich bei uns bereits nicht mehr als entkräfteter Anstreicher ein, der mit dem einzigen, schon völlig abgetragenen Jackett, das er besaß, bekleidet war, sondern als wackerer General mit schwarzgefärbtem Schnurrbart und Bürstenschnitt. Übrigens, Michail Karlowitsch Wojzechowskij war eigentlich Pole; während er sich noch in Griechenland aufhielt, wurde er von polnischen Vertretern mit dem Vorschlag aufgesucht, nach Polen zurückzukehren und dort einen seinem Rang entsprechenden Posten im Polnischen Heer einzunehmen, aber er lehnte ab und zog sein kümmerliches Hungerdasein dem Verrat an seinem Treueschwur und seiner zweiten Heimat Rußland vor.Wie dem auch sei – jedenfalls bekam er in Bulgarien neuen Lebensmut, gewann die für einen Polen charakteristische Galantheit und seinen scharfsinnigen Witz zurück, tanzte mit Begeisterung Walzer und sogar Mazurken und zeichnete sich durch eine bemerkenswerte Gesundheit aus; er heilte sich selbst von allen möglichen Wehwehchen mit nur einer einzigen Arznei: „drei mit Pfeffer, drei ohne Pfeffer und drei so“. Übrigens, auch während eines solchen „Heilungsprozesses“ war er, wie man sagt, kein bißchen betrunken; er war das Musterbeispiel für eine aufrechte Militärperson und einen gestandenen Kavallier. Eines seiner „Hobbies“ war das Sammeln von Briefmarken. Er besaß bereits eine solide Kollektion, in der sich auch äußerst seltene Exemplare fanden. Experten schätzten, daß diese Sammlung von hohem Wert war, aber er konnte sich von den an sein Herz gewachsenen Marken nicht einmal in Tagen tiefsten Elends trennen können. Dieser General hatte zu Vielem beigetragen, z.B. dass die Großmutter eine Pension in gleicher Höhe bekam, wie die aktiven Kriegsteilnehmer in den Schlachten bei Plewna, Schipka und ScheinowoMit ilfe ihres ehemaligen Chefs – Doktor Klein, dand die Mutter Arbeit in der Firma „Momelin“, wo sie für den Einkauf und die Installation der Mühleneinrichtung zuständig war. Mit der Familie Klein sowie mit unserem „Serjoscha“, wie Felot Sergejew aus irgendeinem Grunde in unserer Familie genannt wurde, unterhielten wir Kontakte bis zum Krieg.


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