„Sag’ nicht „hopp!“, bevor du springst.“
Der Kontrast zwischen Riga mit seinen, wenn auch nicht hohen, aber dafür malerischen Häusern, den asphaltierten, von gut gekleideten Menschen belebten Straßen, dem Schimmern der Straßenbahnen und Automobile, und jener Atmosphäre, von der wir in Petschki umgeben gewesen waren, war dermaßen groß, dass er mich buchstäblich in einen Schockzustand versetzte. Ich glaube, dass meine Überraschung und Erschütterung auch nicht größer hätte sein können, wenn ich plötzlich inmitten einer anderen planetarischen Zivilisation erwacht wäre. Aber wir hielten uns in Riga nicht lange auf, sondern wurden an einen Ort am Strand von Riga weitertransportiert – nach Assari, wo wir in einer zweigeschossigen Datscha einquartiert wurden, die am vergleichsweise hohen Meeresufer stand, etwa 50-70 Schritte von einem Wasserkanal entfernt. Die Datscha war ringsum mit Kiefern bewachsen, und obwohl auch hier eine irgendwie dörfliche Atmosphäre herrschte, so unterschied sie sich doch wie Tag und Nacht von den düsteren, verräucherten Holzhäuschen im Gebiet Pskow. Helle, hohe Zimmer, mit fröhlichen Tapeten beklebt, Öfen mit weißen Kacheln, ein gerader, ebener Weg, der zu einer ziemlichen breiten Straße führte, zu deren beiden Seiten hinter akkurat aufgestellten Staketenzäunen ebensolche Datschen errichtet worden waren; all das zeugte von einer anderen Welt, einer anderen Kultur. Trotzdem fühlte ich mich schlecht und mußte noch einige Zeit das Bett hüten. Meine Genesung wurde von einem Zwischenfall begleitet, der beinahe schlimm ausgegangen wäre. Ich wohnte im Erdgeschoß, und darüber waren 6 Mann aus unserer Stammesverwandtschaft untergebracht. Nachdem ich wieder ein wenig zu mir gekommen war, wollte ich als erstes, nach alter Soldatengewohnheit, meine Maschinenpistole nehmen, um sie zu reinigen und in Ordnung zu bringen. Sie war eine Trophäe, eine Spagin-MP, die ich hatte mitgehen lassen und die praktisch in mein Eigentum übergegangen war. Die Wartung der Waffe erledigte ich im Sitzen auf meiner Schlafstätte. Nachdem ich sie gesäubert hatte, beschloß ich, mich sicherheitshalber auch noch vom einwandfreien Transport der Patronen aus der ziemlich plumpen Scheibe zu überzeugen. Ich nahm die Pistole zwischen die Knie, drückte mit einer Hand auf den Abzugshaken und bewegte gleichzeitig mit der rechten Hand das Schloß hin und her, um alle Patronen nacheinander aus der Scheibe herauszustoßen. Da plötzlich rutschte meine Hand vom Griff des Schlosses ab und eine prächtige Salve ging nach oben in die Zimmerdecke los. Natürlich waren die Decken in dem einfachen Datschenbau nicht aus Eisenbeton, und was dann weiter geschah, kann man sich also denken. Die Nachbarn über mir kamen Hals über Kopf die Treppe heruntergerannt und liefen in alle Himmelsrichtungen auseinander. Glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen, weder durch den Kugelhagel, noch durch das fluchtartige Gedränge auf der Treppe. Ich ging auf die Straße hinaus und schaute mich in der Umgebung ein wenig um. Zwischen Uferböschung und Meer, blaß und ausdruckslos und überhaupt nicht vergleichbar mit dem klaren Blau des Mittelmeers, zogen sich zu beiden Seiten Streifen eines wunderbaren Sandstrandes hin. Hier und da standen hochkant in den Sand eingegrabene Boote, die als Umkleidekabinen dienten. Jetzt lag überall Schnee, das Meeresufer war sogar mit Eis bedeckt, und das Meer selbst lag öde und reglos da. Manchmal allerdings, wenn es windig wurde, erwachte das Meer wieder, ließ schäumende Wellenkämme aufstieben und überrollte dann den Strand, um anschließend mit lautem Getöse gegen die Böschung zu schlagen. Dann erzitterte die Datscha, das Rauschen der Kiefern und des Meeres verschmolzen zu einem gemeinsamen Dröhnen, das einen des Nachts nicht schlafen ließ. In jenen stürmischen Nächten dachte ich häufig über alles nach. Irgendetwas in meinen früheren Vorstellungen hatte einen Riß bekommen. Der Weg, den ich gewählt hatte, schien mir plötzlich schon nicht mehr so klar und makellos zu sein. Aber als ich mir dann wieder meine Zukunft im Emigrantenmilieu vorstellte, zwischen lauter fremden Mauern und Menschen, da erschien mir all das Wunderbare, all das Reinliche, von dem ich hier umgeben war, ganz weit weg und irgendwie widerlich, und die vom Licht der Kerosinlampe nur schwach erhellt Bretterhütte und die züngelnden Flammen im russischen Ofen wurden für mich zu einem lieben Abglanz der elektrischen Lüster und weißgekachelten Holländeröfen. Nein! Möge mein Weg auch krumm und schief sein, möge die Heimat auch nicht jene sein, die ich mit in meiner Einbildungskraft ausgemalt hatte – aber nur dort konnte ich meinen Platz finden, nur dort konnte ich mich heimisch fühlen und nicht wie ein ungebetener Gast an einem fremden Tish. Und wieder kam ich mit mir selber ins Gleichgewicht und sah ein Ziel vor Augen. Aljoschka erlebte dieselben Gefühle. Nach seiner Gewohnheit kümmerte er sich sehr sorgfältig um mich und setzte alles daran, um mich schnell wieder auf die Beine zu bekommen. Er machte irgendeinen Letten ausfindig, einen benachbarten Fischer, bei dem er Tabak und widerlichen deutschen Wodka gegen Fisch, saure Sahne und Mehl eintauschte und mich dann anschließend mit Pfannkuchen und gebratenem Fisch verpflegte. Wenn es auf dieser Welt eine ehrliche und uneigennützige Freundschaft gibt, dann wurde sie durch Aljoschka Walch verkörpert, diesen ungeschliffenen, nicht ganz makellosen und sündenfreien Arbeitsburschen.
In dieser Periode erhielten auch die operativen Angelegenheiten einen neuen Impuls. Erstens fuhr aus dem Bestand der Gruppe „Ulm“ ein gewisser Teil der gewöhnlichen Soldaten sowie ein Teil des Kommandostabs zurück nach Deutschland, ins Lager Sandberg. In Assari blieben zwei neu formierte Gruppen zurück. Zu der einen gehörten die Schlangen Tarasow und Stachow, noch zwei weitere aus dem Emigrantenkreis und ein paar einfache Soldaten, darunter auch Funker. Zur anderen gehörten wir vier, d.h. Walch, Chodolej, Sosiska-Schechowzow und ich sowie ebenfalls eine Gruppe von Funkern. Einige Veränderungen wurden auch in Bezug auf Ziele und Taktiken der Aufklärungstrupps vorgenommen. Man begann mit etwas zielgerichteteren Vorbereitungen für ihre Verlegung in eben jene Ural-Region. Die Vorbereitungsaktivitäten wurden von einem Leutnant (genauer gesagt: von einem Untersturmführer) namens Graife geleitet. Er war ein noch junger, zwischen 32 und 35 Jahre alter, hagerer Blondschopf; er trug eine Brille mit dünnem, vergoldetem Rahmen, hatte klare blaue Augen und ein freundliches Lächeln auf den feingezeichneten Wangen. Allerdings war der Umgang mit ihm nicht ganz so einfach wie es schien. Er war nicht sehr redselig, aber aus einzelnen Äußerungen und Phrasen, die man in dieser Zeit und auch später von ihm hörte, konnte man verstehen, daß er der Spionage-Einheit bereits lange Zeit angehörte. Vor dem Krieg war er, getarnt als Chauffeur, in der deutschen Botschaft in Moskau tätig gewesen. Wo er eine Reihe erfolgreicher Operationen ausgeführt hatte. Einmal erzählte er, wie er den „Schwanz“ hinter seinem Fahrzeug, also seine Verfolger, loswerden mußte. Übrigens war er, was das Autofahren betraf, tatsächlich ein Ass. Ich mußte selber zweimal mit ihm fahren und beobachtete dabei mit Bewunderung, aber auch mit einer gewissen Angst, wie er seinen „Opel Kadett“ (so etwas wie der „Moskwitsch-401“) mit einer Geschwindigkeit von etwa 90 km/h durch die engen, gewundenen Straßen im Rigaer Uferbereich lenkte. Graife sprach ein absolut reines Russisch. Ob das mit seiner Herkunft oder mit seinen hervorragenden Fähigkeiten zusammenhing, blieb für mich ein Geheimnis. Jedenfalls löste diese Vorbereitung zur Truppen-Verlegung bei niemandem Enthusiasmus aus. Die Perspektivenlosigkeit der Operation war allzu offensichtlich und die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr gleich Null. Vielmehr setzte sich bei allen die feste Überzeugung durch, daß wir vom Schicksal vorherbestimmte Opfer seien, die dazu auserkoren waren, daß man auf uns die hohen, mit der Verlegung verbundenen Kosten verbuchen wollte und damit gleichzeitig vor der Zentrale eine Rechtfertigung für unsere Existenz und die Aktivitäten unserer Vorgesetzten nachweisen konnte. In unserer freundlichen Datscha herrschte eine düstere Stimmung. Chodolej schrieb finstere Verse. Die Schlangen vergaßen ihre sonst üblichen, gegenseitigen Sticheleien, mit Semjonow sprachen sie nur durch die Zähne. Mir gingen andere Gedanken durch den Kopf, die auch früher schon aufgetaucht, aber immer nur im Hinterkopf herumgeschwirrt waren, aber jetzt, da unsere Verladung näherrückte, durchbohrten sie fortwährend mein Gehirn. Ein Überlaufen auf die Seite der Sowjets war unwiderruflich vorausbestimmt, aber auch der Zusammenbruch der gesamten Gruppe war offensichtlich, d. h. Verrat an seinen Kameraden. Chodolej und Sosiska waren prächtige Menschen und gute Freunde. Beide hatten zu ihrer Zeit eine Ausbildung im Kadettenkorps in Jugoslawien absolviert, der Brutstätte eines eingefleischten Weißgardistentums, und wenngleich sie weder fanatische Monarchisten und schon gar keine treuen Hitler-Anhänger waren (eher das Gegenteil war der Fall), hatten sie sich doch etwas von diesem Kadetten-Charakter bewahrt und liefen den Deutschen nicht „wegen Käse und Wurst“ hinterher, wie wir im Schutzkorps immer gesungen hatten, sondern aus patriotischen, wenn auch ziemlich irrigen Überzeugungen heraus. Was Sosiski anging, so waren Aljoschka und ich nicht sonderlich betrübt: er stand vollständig unter unserem Einfluß; Cholodej war ein reifer Mann, und es war nicht so leicht, ihn von etwas anderem zu überzeugen. Allerdings gaben die wachsende Enttäuschung über die Ehrenhaftigkeit unserer Emigrantenführer sowie der allgemeine Anstieg der antideutschen Stimmung einem Hoffnung, daß wir auch mit ihm eine gemeinsame Sprache finden würden, auch wenn dies auf der Basis der offensichtlichen Unausweichlichkeit einer Niederlage Deutschlands stattfinden würde. Da waren auch noch die Kriegsgefangenen. Wir waren überzeugt davon, daß sie mit Deutschland rein gar nichts verband, aber die berüchtigte stalinsche Formulierung „Wir haben keine Gefangenen, nur Verräter“ setzte ein düsteres schwarzes Geschäft in Bewegung, indem es tatsächlich tausende Menschen in den Vaterlandsverat trieb; und nun trat ihnen die begründete Angst vor Vergeltzung vor Augen.Wir wollten es nicht riskieren, den Grund dafür näher zu sondieren, der dazu geführt hatte, daß die Dinge so ihren Lauf nahmen, sondern waren zu dem Schluß gekommen, daß die allgemeine Stimmung einem schon ganz von selber einsuggerierte, was zu tun sei. Und dann brach der Tag an, an dem Tarasows Gruppe verschickt werden sollte. Es gab keinerlei Abschiedsreden; alles war ganz alltäglich und sachlich gehalten, als ob die Leute sich lediglich auf ihren täglichen Weg zur Arbeit machten. Wir verabschiedeten uns ohne Emotionen, wobei wir unsere Augen abwandten.
Unser Abflug sollte zwei Tage später stattfinden. Der Start war so geplant, daß das Flugzeug während der Dunkelheit eine Schleife drehen sollte. Etwa um drei Uhr nachmittags zogen wir uns warme Kleidung an: Hosen und Jacken aus Fell, weiße Tarnanzüge. Anschließend luden wir die zuvor zusammengepackte Fracht ins Fahrzeug (etwa 10-12 Sitzplätze), legten Fallschirme an und begaben uns zum Flugplatz. Man brachte uns zueiner etwas abseits stehenden großen, schwarzen Maschine. Es war eine „Junkers-252“, eine Modifikation des Transportflugzeugs „JU-52“. Aber diese hier war bedeutend größer, besaß andere Motoren und, was das Wesentliche war: die Landung (der Absprung) geschah nicht durch die Seitentür, sondern durch eine Luke im unteren Teil des Flugzeugrumpfes, die in geöffnetem Zustand, ähnlich dem Unterkiefer eines Krokodils oder Pottwals, herabhing. Durch die Mitte dieses „Kiefers“ verlief eine polierte Rinne, durch die Lasten, aber auch Menschen hinabgelassen wurden. Es gab nichts zum Festhalten, und man konnte auch nicht lange zögern; sitzend oder auf dem Bauch liegend hockte man in der Rinne, bis man fast im selben Moment auch schon in den weiten Raum hinausrutschte. Eine unangenehme Perspektive, denn diese rutschige Rinne war insgesamt fünf Meter lang, und der Weg ins „Nichts“ stellte keinen kurzer Augenblick, keinen schnellen Sprung aus der Luke dar, sondern bedeutete vielmehr einige Sekunden quälender Angst. Bis dahin hatte man uns mehrmals gesagt, daß wir mit einer viermotorigen „JU-90“ fliegen würden, und die vorgenommene Änderung hatte uns ein wenig in Erstaunen versetzt. Ungefähr ein Jahr später erfuhr ich den Grund dafür, und ich werde darüber auch noch berichten; aber einstweilen trugen wir eiligt unsere Frachtstücke über das Fallreep, das zu beiden Seiten, parallel zur Rinne zur Luke führte und setzten uns dann auf Bänke, die entlang der Bordseiten, im mittleren Teil des Rumpfes, aufgestellt waren.
Die Motoren begannen zu dröhnen. Sie mußten mehrmals gestartet werden, erstarben wieder, wurden erneut angeworfen. Danach gab es eine ziemlich lange Pause, und schließlich erschien der Pilot, um uns mitzuteilen, daß einer der Motoren defekt sei und wir den Flug auf den nächsten Tag verschieben müßten. Die Fracht blieb im Flugzeug, aber die Leute kehrten nach Assari zurück. Es war bereits dunkel, im Wagenkasten des LKWs zitterten wir, trotz unserer warmen Kleidung, ganz gehörig. Chodolej braute uns aus diesem Anlaß einen „Grog“ zusammen, für den er aus dem UV (dem unantastbaren Vorrat) eine Feldflasche mit Schnaps sowie die irgendwo noch aufbewahrte Schote einer brandscharfen Paprika hervorzauberte. Mit etwas Wasser vermischt und auf etwa 50 Grad erhitzt ergab das ein wahres Höllengetränk, nach dessen Verkonsumierung sich die Patienten so fühlten, als ob sie im obersten Regal der Schwitzbank säßen und kurz darauf auf ihren verwaisten Bettstellen, von denen Laken und Decken bereits entfernt worden waren, in einen unfreiwilligen Schlaf sanken. Wir schliefen ziemlich lange. Ich erwachte dadurch, daß irgendeine Person von oben auf mich herabsprang und begann, irgendwelche Reiterkunststücke auf mir zu vollführen. Ich begriff nicht sofort, was los war. Als ich ein wenig zu mir gekommen war, erkannte ich in meinem Reiter Chodolej. Lachend und auf und ab springend verkündete er, daß eine Anordnung erteilt worden sei, nach der die Operation „Ulm“ abzubrechen war und wir unverzüglich nach Sandberg abfahren sollten. Ich vermag nicht zu sagen, welches der beiden Gefühle in mir bei dieser Nachricht am stärksten aufflammte: die Wut über den nächsten Mißerfolg einer geplanten Sache, oder die Freude darüber, daß die Zweifel, die mich quälten, sich nun ganz von selbst entschieden hatten. Ich fürchte, daß es wohl eher ein Gefühl der Freude war, das mich ergriff. Die Dokumente waren schnell ausgestellt, aber unsere Kleidung hatten wir bereits abgegeben, und die war irgendwohin verschickt worden. Es entstand eine Verzögerung, während wir neue Kleidungsstücke erhielten (zum wievielten Mal!) und in aller Eile Schulterstücke auf die Uniformmäntel nähten; gegen Abend desselben Tages fuhren wir mit gescheiterten Hoffnungen zurück. Auf diese Weise erfuhren wir auch nicht den Grund für das so unerwartete Finale unseres Abenteuers und hörten genau so wenig über das Schicksal der Tarasow-Gruppe. Aber das ganze Fiasko sollte wohl für uns noch zum rettenden Strohhalm werden.
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