„Das ist ein Land! Wozu habe ich denn in meinen Gedichten davon
geschrieben,
daß ich mit dem Volk auf Freundes Fuße stehe.
Meine Poesie wird hier nicht benötigt,
Und ich selber wahrscheinlich auch nicht.“
(S. Jesenin)
Dieser Vierzeiler spiegelt wohl am allerbesten jenen Seelenzustand wider, in dem ich mich während des „Herumsitzens“ in Petschki befand. Ich schrieb bereits von der Unorganisiertheit des Alltags in unserer Schul-Kaserne, aber das war es nicht, was mich so sehr bedrückte. Für einen frontnahen Gebietsstreifen war diese Zufluchtsstätte mehr als komfortabel. Etwas anders lastete auf meiner Seele. Es war, als ob sich mein langjähriger Wunschtraum zerschlagen hätte: ich war auf russischen Boden geraten, in der Hoffnung, daß er „unter den Füßen der Besatzer am Brennen war“, daß hier alles erfüllt war vom gierigen Krieg, von Rache, und daß meine persönlichen Bestrebungen hier eine wohltuende, segensreiche Grundlage für ihre Verwirklichung finden würden, indem sie in den allgemeinen Kampf um die Unabhängigkeit der Heimat einflossen. Das, was ich um mich herum sah, entmutigte mich zutiefst: die gleichmäßige, durch Jahrhunderte geprägte und gefestigte Alltäglichkeit im Leben der ortsansässigen Bevölkerung mit ihrer gewohnten schweren Arbeit und ihren Festtagsbesäufnissen, die völlige Geistlosigkeit unserer „christusliebenden Kampftruppe“, die sich ihre Zeit mit belanglosem Gerede auf den Pritschen vertrieb und sich abends auf die Suche nach selbstgebranntem Schnaps und Abenteuren machte, die ganze Sorglosigkeit in Fragen der Bewachung – all das paßte in meinem Bewußtsein nicht mit der Tatsache zusammen, daß auf diesem Boden der „Heilige Vaterländische Krieg“ im Gange war. Ich versuchte etwas über die Partisanen in Erfahrung zu bringen, aber niemand konnte sachliche und zusammenhängende Informationen darüber geben. Man hatte gehört, daß es irgendwo in den Wäldern bei Pskow eine Partisaneneinheit gab, die von den Deutschen blockiert wurde. Aber hier hatte man nicht einmal gerüchteweise etwas von ihnen vernommen. Allerdings berichtete ein alter Mann, der auf einem Einzelgehöft, etwa zwei Kilometer von Petschki entfernt, lebte, daß zu ihm einmal Partisanen gekommen wären; die hätten etwas mitgenommen und ihm dafür angeblich sogar eine Quittung ausgestellt. Aljoschka und ich besuchten ihn mehrfach und führten Gespräche über alles und nichts. Der Alte machte uns ein verschwommenes Versprechen, uns Bescheid zu geben, sofern sich irgendetwas tat und nahm eifrig unsere Geschenke an; so tauschte er flüssige Sahne gegen warme Kleidung, aber trotz dieser geschickten Diplomatie kam die Angelegenheit nicht weiter voran. Der einzige entlastende Ausgleich für die Seele war in diesem verschlafenen Zarenreich die freie, unbegrenzte, russische Weite, und so nutze ich, genauso wie übrigens auch ein paar andere meiner Kameraden, jeden beliebigen schönen Tag für einen Spaziergang in der Natur aus. Wir besaßen Skier, konnten jedoch nur denkbar schlecht damit umgehen. Bei einer unserer ersten Fahrten dieser Art erlitten wir einen Verlust. Als wir so über die Ebene latschten, näherten wir uns einem kleinen Hügel, von dem eine ganze Horde Dorfkinder verwegen herabsauste, und dabei stand jeder von ihnen auf dem, was er gerade zur Verfügung hatte; bei den meisten waren es selbstgebaute Skier. Einer von ihnen, der Kleinste, lief sogar nur auf einem einzigen Skibrett. Überzeugt von unseren Fähigkeiten beschlossen wir, ebenfalls eine Abfahrt von dem Hügel zu wagen. Nachdem wir im „Fischgrät“-Verfahren bzw. auf allen Vieren hinaufgekraxelt waren, begaben wir uns an den Start. Die Kinder traten ehrerbietig zur Seite. Wir jagten los. Ich fuhr wohl als Dritter – und es ging auch ganz gut. Als ich an den beiden Vorläufern vorbeisauste und das glänzende Ziel schon zum Greifen nahe war, bemerkte ich zu meinem Schrecken plötzlich, dass die Bahnlinie meinen Skiern in die Quere kommen würde, deren mit Stallmist gedüngten Gleise von der Sonne angetaut waren. Ich machte eine Vollbremsung im Dung, flog in hohem Bogen durch die Luft und landete mit den Beinen nach oben in einer Schneewehe. Nachdem ich mich aus dem Schnee herausgewühlt hatte, sah ich überall verstreut die Stöcke, Skibretter und Körper der anderen liegen. Es gab eine Menge Gelächter, aber einen hatte das Schicksal ereilt: Papa Meier konnte nicht mehr aufstehen, wir mußten ihn tragen und schafften ihn nur mit großer Mühe nach Hause zurück. Später brachte man ihn ins Krankenhaus, wo ein gebrochener Fuß diagnostiziert wurde, und dann wurde er nach Deutschland geschickt. Nach diesem Vorfall riskierten wir es nicht noch einmal, uns auf komplizierte Skirouten zu begeben, sondern zogen es vor, auf Wald-und Feldwegen oder am flachen Seeufer zu bleiben. Zweimal gingen wir auch auf die „Jagd“. Unterhalb des Dorfes lag ein langgezogenes Vorgebirge, das weit in den See hineinragte. Darauf hatten sich Hasen zur Ruhe niedergelassen. Wir stellten uns kettenförmig auf, schlossen dadurch den Ring am offenen Teil des Kaps und pirschten uns langsam heran. Manchmal gelang es uns, zwei bis drei Hasen aufzuheben. Die Hasen versuchten, Haken schlagend, zu fliehen, aber nachdem sie den See erreicht hatten und sich vor dem durchsichtigen Eis fürchteten, weil sie glaubten es sei Wasser, rannten sie zurück, um unsere Kette zu durchbrechen. Und das war der Moment, in dem wir sie sogleich voller Jagdeifer unter Beschuß nahmen und den fast unwirklich wirkenden Dreimeter-Sprüngen der Hasen hinterherschossen. Im Kugelhagel stoben ganze Fontänen von Schnee und Torf unter den Füßen des jeweiligen Ketten-Nachbarn auf. In der allgemeinen Panik ließen wir den Hasen entkommen, und während wir aufgeregt über die schwerwiegende Verletzung der grundlegendsten Sicherheitsregeln diskutierten, suchten auch alle anderen Hasen das Weite. Nach diesen wenigen Stunden unkomplizierter Fröhlichkeit setzten erneut die endlosen Abende und Nächte beim Licht der qualmenden Petroleumfunzeln ein. Die Mehrheit unerer Soldaten ging ins Dorf, während wir, die Emigranten, uns um den Ofen versammelten, unsere düsteren Gedanken miteinander teilten oder aus vollem Halse traurige Romanzen sangen. Wir schrieben wenig: es sah in unseren Seelen viel zu abscheulich und finster aus. Einmal beschloß Hauptman Semjonow uns ein wenig aufzuheitern. Er kam herein, strahlte wie ein Fünfrubelstück und wedelte mit einem Bündel Papier. Bei diesen Papierchen handelte es sich um Obligationen, mit denen das Deutsche Reich sich verpflichtete, ihren Inhabern nutzbares Land in den eroberten russischen Territorien zur Verfügung zu stellen. Im übrigen hatte diese Maßnahme allerdings den gegenteiligen Effekt: die zukünftigen Gutsbesitzer begegneten dieser Gunst des Führers mit einem derartigen Ausbruch der Empörung, dass Semjonow sich in aller Eile zurückzog und auf das Thema der Landgüter nie wieder zurückkam. Und so erfuhren unsere gewöhnlichen Soldaten auch nichts über die Wohltaten des Befreiers Hitler. Mein sehnlichster Wunsch war es, Leningrad wiederzusehen – die Stadt meiner Eltern und Vorfahren, ich mochte gar nicht daran denken, dass ich in der Rolle des Eroberers dort Einzug halten sollte. Im Gegenteil, ich nahm mir jeglichen Versuch der Deutschen, sich in die Stadt durchzuschlagen, schwer zu Herzen und wünschten ihnen dabei jede nur mögliche Niederlage.
Die Leningrader Frontlinie war von uns ziemlich weit entfernt, Seen und Wälder lagen dazwischen, aber einmal hörten wir mitten in der Nacht ein wohl entferntes, aber unaufhörliches Dröhnen. Wir besaßen kein Rundfunkgerät, erhielten nur selten Zeitungen, so dass wir erst am dritten Tag errieten, dass dieses Getöse der Waffenlärm einer begonnenen großen Schlacht sein mußte. Wie es dazu gekommen war, wußten wir nicht, aber als das Krachen der Geschosse näherrückte und es sich schon nicht mehr um eine bloße, allgemeine Schießerei handelte, sondern man bereits einzelne, schwere Detonationen heraushören konnte, da wurde uns der Ausgang des Kampfes bewußt. Und sogleich hellten sich die finsteren Gesichter der Kameraden auf. Offensichtlich berührte das Schicksal Leningrads jedes russische Herz, und es schien uns ganz unwahrscheinlich, dass wir uns, unmittelbar vor den Toren der Stadt, im Lande des Feindes befanden und dass wir Freude über die eigene Niederlage empfanden. Aber so war halt das Wesen der rätselhaften russischen Seele und des widersprüchlichen Emigrantenbewußtseins – eine Mischung aus eingefleischtem Antisowjetismus und einem ebenso leidenschaftlichen Nationalismus. Ein Gemisch ähnlich Öl und Wasser, die sich ständig voneinander trennen, wobei mal die eine, mal die andere Komponente mehr zutage tritt, ganz in Abhängigkeit von den individuellen Eigenschaften des Menschen und der jeweils herrschenden Umstände. Aber der Lärm der Geschosse wurde bald weniger und erstarb schließlich ganz. Die Front stabilisierte sich irgendwo bei Luga, und unser Leben verfiel wieder in seine schlaftrunkene Variante. Nicht einmal ein „Ausnahmezustand“ konnte einen aus dieser Situation herausbringen. In einer Nacht verschwanden plötzlich der Kompanie-„Stabsleiter“ und sein Ordinarius, die in einer Privatwohnung, etwa 300 Meter von der Schule entfernt, wohnten. Es ging das Gerücht, dass sie von Partisanen entführt worden seien. Bei der Durchsuchung des Geländes wurden die Spuren eines Schlittens entdeckt, auf dem man die Mäner fortgebracht hatte, aber im Haus selbst wurden keine Spuren eines Kampfes gefunden, im Gegenteil: die Sachen waren offenbar zuvor bereits zurechtgelegt worden, und somit entstand schnell eine andere Variante, nach der sie sich nämlich nach vorheriger Absprache aus dem Staub gemacht hatten. Wie dem auch sei, die Geschichte wirbelte keinen weiteren Staub auf; ein paar ranghohe Leute kamen aus Kolachalna, schnüffelten eine Weile herum, befragten Zeugen und fuhren wieder nach Hause. Offenbar hatten unsere Vorgesetzten beschlossen, über diesen Tatbestand zu verschweigen, um sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Die Sache legte sich; ein einziger Wachposten wachte, wie eh und je, an den Toren über unsere Ruhe, und in den Nächten postierte sich unsere Patrouille am Zelt mit den explosionsgefährlichen Stoffen. Erst jetzt beordeten sie insbesondere uns, die alten Gruppierungen, sowie die disziplinierteren gewöhlichen Soldaten dorthin. Auch ich mußte mehrfach antreten. Während ich Wache schob, traf ich gelegentlich auf die Nachtposten der Kompanie, die rund um die Quartiere patrouillierten. Einer von ihnen war ein gewisser Aleksej Mischin, ein kleines Bürschchen mit üppigem, blonden Haarschopf. Er unterschied sich in angenehmer Weise von den meisten unserer sowjetischen Mitkämpfer durch seine breitgefächerten Interessen, seine Unabhängigkeit und seine oft etwas gewagte Meinung. Wenn wir uns trafen, dann verbrachten wir meist die gesamte Zeit unseres Wachdienstes mit Diskussionen, häufig auch Streitgesprächen, aber, so oder so, wenn wir uns auch nicht wirklich anfreundeten, so brachten wir einander doch ein Gefühl der Sympathie und des Vertrauens entgegen. Eine andere Bekanntschaft knüpften Aljoschka und ich im Dorf an. Sie begann mit einer geschäftlichen Operation beim Kauf von Milch, schwarzen, hausgemachten Brotes u.ä. Es war einst eine große Bauernfamilie gewesen, aber nun befanden sich zwei Söhne zum Geldverdienen in der Stadt, und in der Kate wohnten lediglich die alte Mutter, die Herrscherin über alle haus- und hofwirtschaftlichen Angelegenheiten, und ihre Schwiegertochter, ein noch ganz junges Frauchen mit einem kleinen Kind. Es war eine geräumige Kate, gebaut aus unbehauenen Baumstämmen, in der Mitte stand ein russischer Ofen mit einer Ofenbank und einer Liegestatt aus Holz, und entlang den Wänden standen solide Holzbänke. Wände und Decken waren unverputzt und nicht geweißt und im Laufe der Zeit durch Ofenruß und den Qualm der Kerosinlampen ziemlich nachgedunkelt. Ich ging ziemlich oft dorthin, nicht nur wegen der Bewirtung, sondern einfach nur um meine Seele einwenig ausruhen zu lassen. Die Alte lief ständig im Haus hin und her, während die Junge sich anfangs sehr menschenscheu zeigte, sich dann aber an mich gewöhnte und mich mit Freude begrüßte. Das waren Frauen – als hätte man sie geradewegs mit einer Zeitmaschine aus der Epoche Puschkins oder Turgenjews hervorgeholt. Ich saß, an die Wand gelehnt, auf der Bank und lauschte stundenlang den Erzählungen über Hausgeister, Waldgespenster, Wahrsagungen an den Feiertagen oder anderen einfachen, russischen Märchen und erfundenen Geschichten, die mich an meine Kindheit und eine längst aus unserer Zivilisation und unserem rationalen Denken entschwundene Welt erinnerten. So verrannen zwei Monate oder, besser gesagt – sie krochen dahin. Anfang Februar holte ich mir eine Erkältung und lag mit Fieber auf meiner Schlafstelle, auf meiner Pritsche. Und da kam ganz unerwartet der Befehl zur Verlegung. Ich kenne nicht den wahren Grund, aber ich glaube, dass sich wohl die Nähe der Front, die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Vormarsches der Russen auf das Selbstwertgefühl unserer Vorgesetzten negativ auswirkte, so dass sie beschlossen, das Schicksal nun herauszufordern. Zu vorgegebener Zeit war alles fertig gepackt, mit Fahrzeugen nach Pskow transportiert und auf beheizte Eisenbahnwaggons verladen worden. Ich nahm nicht aktiv daran teil, sondern richtete mich sogleich im Waggon, direkt unter dem Dach, auf einem Stapel Sprengstoffkisten ein und döste bis zum nächsten Morgen vor mich hin, gequält von der inneren, fiebrigen Hitze und und der rotglühenden Hitze des Kanonenofens. Als ich aus meinem schweren Dämmerzustand erwachte, stand der Zug bereits auf dem Rigaer Bahnhof. Als Nachwort will ich noch hinzufügen: bereits in den 1950er Jahren habe ich in irgendeiner dicken Zeitschrift über Filmaufnahmen gelesen, die einer Kriegsepisode aus dem Partisanenleben gewidmet waren, in dessen Verlauf die Spionage-Schule im Dorf Petschki vernichtet wurde und man ihre Leiter aus russischen Emigrantenkreisen verhaftete. Erstaunlich, wie es die Meister von Siegesberichten, im Verbund mit kreativen Mitarbeitern, verstanden, einen heldenhaften Elefanten aus der grauen Maus hervorzubringen, die ich in diesem Kapitel erwähnt habe.
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