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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil IV. Ritter mit Regenmantel und Dolch

Kapitel 36. Die Würfel sind gefallen

„Offizier Golizyn, kommen Sie vielleicht zurück?
Wozu, Herr Offizier, brauchen Sie denn fremdes Land?“

Und dann war ich endlich in Sofia. Dieses Mal sah ich, im Unterschied zu meinen vorherigen Heimreisen, auf dem Wege nach Hause hier und da Ruinen zerstörter oder ausgebrannter Gebäude.

Ich will nicht die Freude unseres Wiedersehens beschreiben, die Tränen, das Lächeln und all das, was in ähnlichen Situationen noch zu geschehen pflegt, sondern gleich zu jenen Neuigkeiten übergehen, die ich in den ersten Minuten nach meiner Ankunft entdeckte. Sofia war in den vergangenen Monaten schon mehrfach von englischen und amerikanischen Flugzeugen bombardiert worden. Vieles wurde dabei vernichtet, und es gab auch Menschenopfer. In Knjaschewo und anderen Vorstädten liefen zahlreiche Flüchtlinge herum. In unserem Hause lebte ebenfalls eine russische Familie, die ausgebombt worden war. Es war meine alte Nachbarin aus der damaligen Bruchbude – Galja Jeroschenko mit ihrer Mutter. Sie hatten sich gerade noch in Sicherheit bringen können, hatten all ihr kümmerliches Hab und Gut verloren und waren in den Sachen zu meiner Mutter gekommen, die sie gerade auf dem Leib getragen hatten. Bei den Chanows, wo ständig irgendjemand Unterschlupf fand, lebte ebenfalls eine Mutter mit ihrer Tochter. Die Tochter kannte ich aus dem russischen Gymnasium. Sie hieß Anna Ilinskaja, die all meinen Altersgenossen unter dem Namen Hanna bekannt war. Es war ein mageres Mädchen mit auf altmodische Art und Weise nach hinten gekämmten, schwarzen Haaren und Brille. Sie ähnelte irgendwie einer klassischen Dame, sowohl im Hinblick auf das Äußere, als auch was ihre Ernsthaftigkeit und sogar ihre Strenge betraf. Trotz ihres auffälligen Äußeren genoß Hanna hohes Ansehen wegen ihres Verstandes, ihrer großen Prinzipientreue und der Fähigkeit sich zusammenzunehmen. Ihr Wohlwollen zu erlangen galt als höchstes Prestige, und nur wenige schafften es, dies zu erreichen. Unter letztgenannten befand sich auch Kot Sievers. Ich war ein Jahr jünger und hatte zu weiblichen Polizeiangehörigen keine besondere Neigung; ich gehörte auch nicht zum Kreis ihrer Anhänger, maß ihr jedoch allgemeine Bewunderung bei. Jetzt brachten die Umstände uns einander näher, und Hanna erwies sich als nettes, einfaches, scharfsinniges Mädchen, mit dem man gern Umgang haben mochte. Von den alten Freunden gab es niemanden mehr, das Leben hatte sie alle auseinander geworfen. Kot Sievers dienter irgendwo auf jugoslawischem Terrirtorium, Wanka Tinin war ebenfalls als Soldat einberufen worden. Er diente in der ersten Kompanie des Ersten Artillerie-Regiments, das in Sofia stationiert war. Er war von hohem Wuchs und stand deshalb am rechten Flügel der Kompanie, was ihm das Recht verschaffte, sich für den „ersten Soldaten der bulgarischen Armee“ zu halten. Aber in dieser Zeit war das Regiment, aufgrund der ständigen Bombardierungen, aus der Stadt herausgebracht worden, um etwa 15 Kilometer von Sofia entfernt in irgendwelchen Feldlagern Quartier zu beziehen.

Die unerwartete Begegnung mit der Vergangenheit ereignete sich an einem der ersten Tage nach meiner Ankunft im Heimaturlaub. Nachdem ich meine Dokumente in der Kommandantur hatte überprüfen lassen, ging ich nach Hause zurück, aber ich war kaum aus der Straßenbahn ausgestiegen, als ich mich in der Umarmung eines Mädchens fühlte. Ich erkannte Marusja Godsikowskaja nicht sofort wieder, die zur Zeit meiner „paraguayischen“ Jugend eine noch ziemlich linkische Halbwüchsige gewesen war. Aber jetzt war sie eine wunderbare Schönheit in der vollen Blüte ihrer16 Jahre. Ich erstarrte sogar vor Überraschung und murmelte irgendetwas Unverständliches als Antwort auf ihre Küsse und die ihr über die Wangen rollenden Tränen. Vor meiner Ankunft hatte es schon zwei Wochen lang keine Bombardierungen mehr gegeben, aber in der ersten Nacht meines häuslichen Lebens heulten die Sirenen. Ich erklärte mir das mit dem Auftauchen eines wichtigen militärischen Objekts in Sofia, d.h. mit meinem dortigen Erscheinen. Dieses Alarmsignal beunruhigte mich nicht sonderlich; auch Mama reagierte ganz ruhig und besonnen, aber unsere Untermieter zogen sich in aller Eile an, stürzten auf die Straße hinaus und rannten auf den Berg, möglichst weit von den Häusern fort. Die Chanows kamen, zusammen mit den Ilinskijs, obwohl sie ganze 200 Meter weit entfernt und in ebensolchem Häuschen auf Vogelbeinen wohnten wie wir, zu uns gerannt, denn die Ruhe der Mutter übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Da sie der Alarm nun jede Nacht wiederholte, mußte ich bei den ersten Sirenentönen sofort aufspringen, in fieberhafter Eile meine Hosen anziehen, weil die gesamte Weiberschar sich von der Invasion bedroht fühlte. Eine der ersten Dinge, die ich tun mußte, stand in Zusammenhang mit meinen ehemaligen Freunden und politischen Leitern. Chajduschkij versuchte ich nicht extra ausfindig zu machen, denn unter den Bedingungen von Bombenangriffen und Zerstörung mußte man nicht nur eine einzelne Person, sondern auch die Adreß-Auskunftsstelle finden, was praktisch ein hoffnungsloses Unterfangen war; und da kehrte Viktor Petrowitsch Chanow, der seinerzeit auf Arbeitsanwerbung nach Deutschland gegangen war, nach Hause zurück, und wir begannen, uns oft und ausgiebig zu unterhalten. Ich berichtete ihm in allen Einzelheiten von den Widrigkeiten und Schwierigkeiten um die Gruppe „Ulm“, von den mir bekannten Aktivitäten der deutschen Spionageabwehr. Ich wollte sogar einige Notizen machen, aber hier mahnte er mich zur Vorsicht; er meinte, es sei nicht angebracht derartige Dinge zu Papier zu bringen, man müsse vielmehr alle Fakten und Namen im Gedächtnis bewahren. Später konnte ich mich davon überzeugen, dass die sowjetische Aufklärung hervorragende Informationen über unsere Tätigkeiten in der Gruppe „Ulm“ besaß, und ich hatte den beruhigenden Gedanken, dass auch ich dort einen angemessenen Beitrag geleistet hatte. Chanow berichtete seinerseits von seiner Arbeit in Deutschland, Seite an Seite mit sowjetischen Arbeitern, die aus den besetzten Gebieten verschleppt worden waren. Er äußerte sich mit großer Wärme über sie und widersprach meiner Vorstellung von den Sowjetmenschen. Er versuchte mich zu überzeugen, dass meine Beobachtungen auf eine spezifische Gruppe selbstsüchtiger Vaterlandsverräter beschränkt waren, die keine anderen Ideale besaßen, als die niedrigsten Erscheinungsformen der menschlichen Natur, und dass er aus ihnen nicht seine Vorstellungen im Hinblick auf das gesamte sowjetische Volk herleiten durfte. Und wenngleich ich nicht nur unseren Straßenjungen, sondern auch Vertretern der intelligenten Kreise begegnet war, die uns wegen unserer „Sehnsucht nach der Heimat“ ausgelachtet und ihr die „Sehnsucht in er Heimat“ gegenübergestellt hatten, so mußte ich doch Viktor Petrowitschs Ausführungen recht geben, denn diese kosmopolitische Intelligenz war in ihrem ganzen Kern und Wesen auch nicht besser, wenn nicht sogar schlechter, als jene, die aus den Konzentrationslagern zu den Deutschen gingen, um sich so vor dem Hungertod zu retten. Im Hinblick auf zukünftige Fragen und Probleme schlug Chanow unzweideutig vor, in den Untergrund zu gehen. Er verfügte über Beziehungen, mit deren Hilfe man Zugang zu den Partisanentruppen finden konnte, die in jener Zeit bereits die Steilhänge des Balkan-Gebirges durchstreiften, sich jedoch, und darüber mögen sie bitte nicht böse sein, eher mit Kriegsspielen befaßten, wie die nationalistischen Militärs von General Drasche Michailowitsch, mit denen wir in Serbien friedlich koexistiert hatten. Im übrigen verlief mein sonstiges Leben äußerst eintönig. Tagsüber ging ich mitunter ins Stadtzentrum, um mir die zunehmende Zerstörung anzuschauen oder mich in ein unversehrt gebliebenes Kinohaus zu begeben; abends besuchte ich die Chanows oder hörte Radio. Bei schönem Wetter schnurrte ich bis in die späte Nacht hinein mit Marusja in einem verborgenen Eckchen herum, und nachts wartete ich dann auf die Invasion der Damen. Während des Luftangriffs, der manchmal ziemlich lange anhielt, war unser einziges Zimmer voll von Menschen. Alle saßen zusammen, flüsterten miteinander oder verstummten vollständig, wen in der Nähe eine Bombe einschlug und explodierte. Die Fenster verhängten wir zur Verdunklung nicht, sondern schalteten lediglich das Licht aus (sofern es überhaupt brannte). So war uns nicht so ängstlich zumute. Durch das Fenster konnte man die Lichtstreifen der Projektoren sehen, die Girlanden der Leuchtmunition, die von den Flugzeugen abgeworden wurden, die vielfarbigen Ketten der Fliegerabwehrrouten. All das machte es möglich, sich eine gewisse Orientierung über den Aufenthaltsort der Flugzeuge und das Ausmaß der Bedrohung zu beschaffen. Dieser Anblick mag für einen abseits stehenden Beobachter spannend und interessant gewesen sein, aber wir begriffen, dass jedes neue Aufblitzen, jede Explosion die erneute Zerstörung von Häusern bedeutete, dass wieder Menschen ums Leben kamen, genau solche, wie diejenigen, die hier beieinander saßen und sich vor Angst zusammenkrümmten. In diesen Minuten saß ich gewöhnlich auf unserem alten Diwan neben Hanna, die vor lauter Angst unfähig war, auch nur einen einzigen Ton hervorzubringen, die die Zerbombung ihres eheamligen Hauses überlebt hatte und wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war. Ich umarmte sie, küßte ihr willenlos ergebens Gesicht, flüsterte ihr ermutigende Worte zu und fühlte mich noch längstnicht als Todeskandidat. Angesichts der Tatsache, dass die eit wie im Fluge verging und sich der Urlaub schon dem Ende näherte, traf ich mich häufiger mit Aljoschka, und wir stellten gemeinsam Überlegungen für die weiteren Schritte an, die wir unternehmen wollten. Chanows Vorschlag war die einzig vernünftige Alternative, aber irgendetwas in uns hatte einen Knacks bekommen, es war eine gewisse Gleichgültigkeit entstanden, ein Gefühl der völligen Hoffnungslosigkeit, und eine Rückkehr zum Ausgangspunkt, an dem wir unseren gewundenen und dornigen Weg begonnen hatten, schien uns ein moralisches Fiasko und ein ziemlich kleinmütiges Denken zu sein. Andererseits entwickelten sich die Ereignisse recht ungestüm, und man konnte dabei möglicherweise seine allerletzte Chance verpassen. Im allgemeinen waren wir nicht abgeneigt, den von uns eingeschlagenen Weg bis zuende zu gehen. Am 29. März, zur Mittagszeit, begab ich mich in die Stadt, um ins Kino zu gehen. Vor Beginn er Vorstellung traf ich dort ganz unerwartet meinen Klassenleiter Michail Bojnow. Wir freuten uns beide über unser Wiedersehen. Er bagann mich über alles auszufragen, darüber, wie es an der Front stand usw. Um uns herum versammelten sich Neugierige. Natürlich konnte man in so einer Situation nicht alles frei herausreden. Wojnow begriff das, so dass wir ein weiteres Treffen mit ihm in der Schule vereinbarten, und zwar am nächsten Tag um 11 Uhr. Allerdings konnte der Plan nicht verwirklicht werden. In der Nacht ertönten erneut die Sirenen, Explosionen dröhnten, aber diesmal dauerte der Bombenagriff die ganze Nacht hindurch, es loderten etliche Feuer und gegen Morgengrauen erbebte die Stadt von der bislang gewaltigsten Detonation überhaupt; danach kehrte Stille ein. Vermutlich war irgendein Munitionslager in die Luft geflogen.

Am Morgen beschlossen Aljoschka und ich in die Stadt zu fahren, um so mehr, als ich Wojnow treffen sollte. Aber die Straßenbahn fuhr nicht. Für uns, die alten Infanteristen, waren 5-6 Kilometer keine Entfernung, und so schritten wir mutig die Allee entlang, um zufuß indie Stadt zu gelangen. Wir hatten noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt, als erneut die Sirenen ertönten. „Ein verschreckter Rabe hat auch vor dem Gebüsch Angst“ entschieden wir, denn in diesem Monat hatte es tagsüber noch keinen Fliegeralarm gegeben. Offensichtlich hatte sich die nächtliche Bombardierung auf die Nerven der „Bürgerwehr“-Truppen ausgewirkt, wie sie sich in Bulgarien nannte. Wir setzten unseren Weg fort, denn wir befanden uns bereits auf dem dem Leser bereits bekannten, unbebauten Gelände, auf dem sich der Flugplatz und die Kasernen der „Arbeitshäftlinge“ befanden und wo sich der verzwickte Roman mit Anna und Nina entsponnen hatte. Bis zum nächsten Luftschutzkeller war es weit, und es schickte sich nicht für Soldaten, welche die zahlreichen Bombenabwürfe bereits gewohnt waren, sich in irgendwelchen Ritzen zu evrstecken. Wir marschierten noch ungefähr einen Kilometer weiter, als wir aus Richtung Westen ein schrilles Pfeifen und dumpfes Dröhnen vernahmen. Wir blickten uns um und sahen am klaren blauen Himmel weiße Spiralen, die sich vom Horizont aus auf uns zubewegten. An der Spitze dieser Spiralen, oder genauer gesagt: dieser wellenförmigen Kuven, leuchtete mitunter im Sonnenlicht die kreuzförmige Silhouette eines Flugzeugs auf. Das waren also Jagdflugzeuge, die dort in großer Höhe zur Deckung flogen und die die eigene Geschwindigkeit mit der der von ihnen zu schützenden schweren Bomber koordinierten, indem sie Schleifen flogen und so aufgrund ihrer Kondenzstreifen zu erkennen waren.

Weiter unten flogen die Bomber, mächtige viermotrige Boings, in Staffeln von jweils 20 Maschinen. Sie füllten den gesamten Luftraum über uns aus. Ich hatte gerade 20 solcher Staffeln gezählt, als die ganze Luft buchstäblich explodierte. Flakgeschütze begannen zu schießen, am Himmel tauchten flockenartige Gebilde auf, aber sie liefen unterhalb der Flugzeuge auseinander, und jene, die etwas schwerfälliger flogen, krochen unnachgiebig weiter auf die Stadt zu, ohne den Kurs zu ändern oder aus ihrer ursprünglichen Formation auszuscheren. Wir gerieten in Verwirrung. Nirgends konnte man hingehen. Wir machten kehrt, um schnellstens vor diesem Höllenfeuer, den Metallteilen und Trümmern das Weite zu suchen, und außerdem waren wir um unsere Angehörigen äußerst besorgt. Zuhause war alles in Ordnung. Begonnen hatte alles um 10 Uhr morgens. Aber es hatte keinen Alarm gegeben. Offenbar, waren alle Nachrichtenverbindungen außer Betrieb. Aber gegen zwei Uhr mittags ergoß sich aus der Stadt ein Strom von Menschen. Eine dicht gedrängte, viele Kilometer lange Lawine rollte über die Allee, über die Chaussee kinter der Stadt. Einige trugen ein paar Habseligkeiten mit sich, andere schoben einen Kinderwagen mit ihrem kümmerlichen Besitz, aber die meisten hattenüberhaupt nichts bei sich: sie waren im Schlafanzug auf die Straße gelaufen, in Nachthemden, denn sie hatten sich nach der schlaflosen Nacht die Freiheit herausgenommen, ein wenig länger in den Tag hineinzuschlafen als sonst. Manche schrien hysterisch, aber die Mehrheit ging schweigend dahin, mit gläsernem Blick, und dieser stille Ausdruck völliger Verzweiflung war viel schlimmer als alles laute Wehklagen. Hier waren auch noch menschliche Gefühle zerrissen worden, dort herrschte bereits die Biomasse vor, bei der bereits alle menschlichen Regungen, sogar der Verstand, gänzlich verlorengegangen waren und die zu völlig unvorhersehbaren Handlungen neigten. Erstes Resultat dieses Flüchtlingsandrangs war das Verschwinden alles Eßbaren, das bis dato auch ohne Lebensmittelkarten noch zu bekommen gewesen war. Man muß den Behörden gegenüber Gerechtigkeit widerfahren lassen, denen es ziemlich schnell gelang, die Flüchtlinge in nahegelegenen Städten und Dörfern unterzubringen, ihre Versorgung zu organisieren und es nicht zu Exzessen kommen zu lassen. Wir sollten uns eigentlich schon auf den Rückweg machen, konnten unsere Angehörigen aber nicht in solchem Elend zurücklassen, und so blieben wir noch ein paar Tage länger. Chanow riet uns erneut ab, mit der Begründung, dass man in all diesem Durcheinander nach uns fragen und uns als verschollen melden würde. Aber es wurden auch Gegenargumente angeführt: erstens hatten uns schon viele nach der Bombardierung gesehen, darunter auch unsere Hauswirtin; zweitens war unseren Müttern die letzte materielle Unterstützung entzogen worden, das in ihrer Lage einem Todesurteil gleichkam.

Na ja, jedenfalls entschlossen wir uns abzureisen, eine Entscheidung, die ich in Gedanken hunderte, tausende Male durchgespielt, immer wieder abgewägt, gerechtfertigt hatte und darüber doch bis zum heutigen Tage kein wirkliches Urteil fällen konnte. Aljoschka und ich begaben uns in die Stadt, um uns dort abzumelden, finanzielle Frage in Bezug auf unsere Eltern zu besprechen usw. Die Stadt brannte. Während wir uns einen Weg durch die Trümmer bahnte, bekamen wir praktisch keine Menschenseele zu sehen. Hier und da sah man ein paar Polizeiangehörige, die unversehrt gebliebene Einrichtungen und geschäfte bewachten. Sie hatten den Befehl erhalten, Maroduere auf der Stelle zu erschießen, und es soll derartige Fälle auch tatsächlich gegeben haben. Verschiedentlich waren kleine Tafeln aufgestellt, die den Durchgang oder Zutritt verboten, und im Verborgenen ruhten auch noch nicht explodierte Bomben. Neben einigen wühlten deutsche Pioniere in den Gruben herum. Wir setzten unseren Weg fort, indem wir die Verbote umgingen, und gelangten schließlich zu dem Gebäude, in dem die Kommandantur untergebracht war. Es war ebenfalls beschädigt, große Löcher klafften in den Wänden, die Fensterscheiben waren geborsten, aber in den unversehrt gebliebenen Räumen lief die alltäglich Arbeit wie gewohnt: die Schreibmaschinen klapperten, die Melder liefen hin und her.

Nachdem die Dokumente ausgestellt waren, machten wir uns auf den Rückweg. An einer Kreuzung stießen wir auf ein Diplomatenfahrzeug vom Typ SIS-101, mit der Nummer DT 16, das uns noch aus Vorkriegszeiten als Fahrzeug des sowjetischen Botschafters bekannt war. Während das Fahrzeug sich seinen Weg zwischen den Trümmerhaufen hindurch bahnte, kam es ganz dicht an uns vorbei. Unsere Herzen klopften ob dieser Tuchfühlung mit dem, was uns schmerzte, unsere Augen begeneten denen des Chauffeurs und seines Reisegefährten, aberin ihnen spiegelte sich nichts wider, außer tiefe Gleichgültigkeit gegenüber den unterwegs getroffenen Feinden. Wir wollten schreien: „Halten Sie doch an! Wohinfahren Sie? Wir gehören doch zu Ihnen!“ Aber wozu? Was konnten wir ihnen schon sagen? Wir, zwei Mänenr mit russichem Herzen, die unter SS-Uniformen schlugen. Und dann kam der letzte Tag unseres Aufenthalts zuhause. Ich möchte mich nicht an die letzten Gespräche und den Abschied von der Mutter erinnern. Schwer war das. Einige Stunden vor der Abfahrt sah ich auf der Straße einen wunderbaren Hund – einen deutschen Schäferhund, der seinen Herrn verloren hatte. Abgemagert, blickte er kläglich in die Augen der Vorübergehenden, suchte in ihnen Obdach und Mitleid. Ich hatte Tiere immer schon gemocht, aber jetzt erinnerte es mich anmich selbst, einen von Zweifeln hin- und hergeworfenen Mann, der ebenfalls bei niemandem eine Antwort fand. Ich rief den Hund herbei, brachte ihn nach Hause und gab hm zu fressen. Er legte sich auf der Türschwelle nieder und döste vor sich hin, nachdem er ein neues Herrchen erworben und seinen Seelenfrieden wiedererlangt hatte. Wohin ich auch ging, er sprang sofort auf und lief hinter mir her - aus lauter Angst, erneut obdachlos zu werden. Ich ging los, um mich von Chanow zu verabschieden, ich wollte ihm meine MP und die Patronen dalassen, aber er lehnte ab. Wenn eine Waffe nötig wird, meinte er, dann würde er eine auftreiben, aber sie verwahren, das würde nur eine tödliche Gefahr für die ganze Famiolie darstellen – denn zu jener Zeit machte man mit allen kurzen Prozeß. Er gab mir auch einen Auftrag mit: er notierte eine Adresse, anhand der ich in Wien seinen sowjetischen Freund ausfindig machen und ihm ein Paket mit Büchern übergeben sollte. Es handelte sich hauptsächlich um Lehrbücher; sie waren für junge Burschen gedacht, die durch den Krieg aus Schule und Familie herausgerissen worden waren, die jedoch selbst unter den Bedingungen der Zwangsarbeit im feindlichen Land nicht den Hang zum Lernen verloren hatten. Es gab auch andere Bücher. Und ich fügte weitere aus meiner eigenen häuslichen Bibliothek hinzu.

Am 5. / 6. April 1945, in der zweiten Tageshälfte, machten wir uns auf den Rückweg. Sicherheitshalber hatte ich mich schon von allen verabschiedet. Die letzten Stunden wollte ich unter vier Augen mit meiner Mutter verbringen, aber nichtsdestoweniger fanden sich zur Stunde des Abschieds eine ganze Menge Menschen ein, allerdings weiß ich schon nicht mehr, wer alles dabei war. Aljoschka und ich stiegen auf die hintere Plattform im letzten Straßenbahn-Wagen, um noch einmal allen Freunden und Verwandten zuzuwinken. Als die Straßenbahn schon 200-300 Meter weit gefahren war, erblickten wir plötzlich meinen Findling – den Hund, der sich offenbar aus den Händen seiner Begleiter losgerissen hatte, um seinem neuen Herrn hinterherzujagen. An der nächsten Haltestelle war er schon ziemlich nah herangekommen, dann wurde der Abstand wieder größer, und erst als er wohl völlig außer Atem war, blieb er zurück. Mir zog sich das Herz vor Mitleid und Trauer zusammen. Ich dachte, dass dieser Hunde die Seele meiner Mutter verkörperte, die mir eben so gerne gefolgt wäre. Hätte ich diesen Hund früher gefunden, hätte ich ihm einen Maulkorb und eine Leine angefertigt und in meine Reisedokumente eintragen lassen, dass ich mit einem Diensthund unterwegs war (so eine Spalte war im Formular vorhanden), aber die Zeit war viel zu knapp gewesen, und so war mir nichts anderes übriggeblieben, als meine Mutter und meine Freunde mit seiner Betreuung zu beauftragen.

Wir erreichten die Endhaltestelle unserer Straßenbahnlinie – den Platz der Heiligen Woche. Dieser Platz war nun vollständig zerstört; auch die Kirche hatte Schaden genommen. Vom Platz bis hin zum Bahnhof verlief eine lange Straße – der Boulevard Maria-Luisa. Er saß jetzt wie ein qualmender Korridir aus, aber ab und an fuhr bereits wieder eine Straßenbahn. Während wir auf die nächste Straßenbahn warteten, setzten Aljoschka und ich uns an der Haltestelle auf unsere Siebensachen und schwiegen. Jeder dachte sich das Seine; jeder grübelte über die zurückgelassene Familie, die Zukunft nach, die von einem ebenso verräucherten Vorhang verhangen war, wie die Perspektiven der Straße, in der wir uns gerade befanden.

Unser rationaler Verstand sagte uns: kehrt zurück, so lange noch Zeit dazu ist,gesteht eure Niederlage ein, es ist noch nicht zu spät den Fehler zu korrigieren. Aber es hatte keinen Alarm gegebenor mir lag das Leben, das Zuhause, meine Liebe zu der schönen Marusja. Aber das Herz widersetzte sich: Zurückkehren? Wie eine Ratte, die das sinkende Schiff verlassen hatte? Die schadenfrohen Blicke der Umstehenden ertragen und sich vor dem eigenen Schatten fürchten? Nein! Man mußte den Weg zuende gehen; noch war nicht aller Tage Abend. Zurückkehren - ja, aber als Sieger, oder überhaupt nicht zurückkehren!

Solche und ähnliche Gedanken drängten sich im Kopf zusammen, im Zustand eines labilen Gleichgewichts, und es brauchte nur noch einen Anstoß, um die Entscheidung anzunehmen oder abzulehnen. Wir warteten beide darauf, dass einer von uns die Worte: „Wollen wir umkehren?“ aussprach; aber das tat keiner von uns, vielleicht aus verlorener Selbstliebe; und hier, an diesem rauchenden Platz, begann dan auch der Weg,, der Abhang, von dem ich herunterrollen sollte und von dem im folgenden die Rede sein wird.

 

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