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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil IV. Ritter mit Regenmantel und Dolch

Kapitel 37. Das Lager Sandberg

„Und wir haben von diesem mageren Leben
Um ein Haar den Verstand verloren,
Wir haben gelernt Ersatz für richtige Nahrung zu fressen,
Und ihr – auf den Ersatz zu sch .....“
(B. Choldolej)

Also gelangten wir mit Müh und Not zum Bahnhof und begaben uns in den Waggon. Im Abteil befanden sich 6 Leute. Einer von ihnen, schon etwas älter und recht nachlässig gekleidet, saß in einer Ecke und schwieg. Der Zugleiter kam. Nachdem er seinen Blick über die Passagiere hatte schweifen lassen, ernannte er mich, aufgrund meines Ranges, zum Verantwortlichen über das Abteil und befahl mir, ein paar Wachen zu bestimmen, die auf der Fahrt und während der Zughalte auf die Waggons achtgeben sollten. Ich schrieb bereits, dass jeweils zwei Mann während ihrer Dienstzeit bewaffnet auf den Waggonplattformen und während der Zughalte auf dem Bahnsteig an den Wageneinstiegen stehen sollten. Ich begann mit meiner Einteilung der Personen, aber der „nachlässig Gekleidete“ murmelte irgendetwas, und da erkannte ich in ihm einen Landsmann. Als wir anfingen Russisch zu reden, stellte sich heraus, dass er gerade erst aus dem Hospital entlassen worden war; er war krank und bat darum, ihn nicht für die Wache einzuteilen.

Im Großen und Ganzen bekamen wir die Situation gekärt, es gab keine Einwände, und wir fuhren ab. Während der Unterredung mit dem „nachlässig Gekleideten“ stellte sich heraus, dass er genau der Schutzkorps-Angehörige war, der nach dem Angriff auf den Reiseautobus bei Walewo am Leben geblieben war. Und da erfuhr ich auch Einzelheiten darüber, wie er verwundet vom Dach des Autobusses gesprungen, den Abhang heruntergerollt war und sich in den Büschen versteckt hatte; und nachdem die Angreifer fort waren, hatte er seine Schirmmütze über die aus dem zerrissenen Bauch quellenden Gedärme gelegt und war tatsächlich auf diese Weise bis zum ersten Militärposten am Eingang der Stadt gekrochen. Viele Monate waren seitdem vergangen, in deren Verlauf er mit dem Tode rang und schließlich dennoch überlebte. Er war mit einer Bulgarin verheiratet und lebte irgendwo in der Provinz. Nun fuhr er zurück zu seiner Truppe, und zwar mit nicht gerade wenig guter Hausmannskost im Gepäck, die, nach russischem Brauch, für alle gedacht war, und die jetzt auf einem hochkant aufgestellten Koffer serviert wurde. So gelangten wir auf dem uns bekannten Wege nach Belgrad. Allerdings hatte in der uns bekannten Landschaft ein neues Element Einzug gehalten, das mir bis zu dem Zeitpunkt noch nicht begegnet war – die entlang den Gleisen liegenden, umgekippten und ineinander verkeilten Waggons – eine Folge der Aktivitäten von Partisanen. Ohne Abenteuer gelangten wir nach Wien. Bis zur Abfahrt des Zuges nach Breslau blieben uns noch ein paar Stunden Zeit, und so machten wir uns auf die Suche nach dem Adressaten, den Chanow uns aufgegeben hatte. Bei weitem nicht alle, die wir fragten, kannten die Straße, nach der wir uns erkundigten, um so mehr, als sie nach deutschem Gehör nicht gerade hochanständig klang, aber die Zunge bringt einen schließlich auch bis nach Kiew (sinngemäß: wenn man nur fragt, dann kommt man auch irgendwann dorthin; Anm.D. Übers.), und so befanden wir uns schließlich am Rande der Stadt, die keineswegs dem Gesamtbild der luxuriösen Architektur des Stadtzentrums glich. Hier sah alles recht unansehnlich aus. Die angegebene Adresse erwies sich als Lager für Fremdarbeiter. Es gab einen unbebauten Platz, welcher von einem Stacheldrahtzaun eingegrenzt war. Am Zaundurchlaß, den man an einer Art Tor erkannte, stand ein Wachposten. Auf dem Platz befanden sich etwa zwei Dutzend Fertigbau-Baracken, ähnlich denen, in denen wir in Oswitz und Sandberg gehaust hatten. Zu- und Ausgang waren offensichtlich frei – wir sahen. wie dort Leute ungehindert ein- und ausgingen. Wir gingen ebenfalls durch. Niemand fragte, wohin wir wollten. Der Polizeiangehärige am Tor salutierte schweigend. An den Baracken war eine Aufschrift zu lesen, mit einem Hinweis auf die Länder, aus denen die hier lebenden Personen stammten. Wir sahen: „Frankreich“, „Griechenland“ u.a. Die Baracke, in der Russen untergebracht waren, war, im Gegensatz zu den anderen, noch mit einem gesonderten Stacheldrahtzaun umgeben; möglicherweise wurde sie des Nachts auch zugesperrt. Aber jetzt war der Zutritt frei, und so gingen wir hinein. Die Einrichtung sah genauso aus, wie in unserer Baracke: zweigeschossige Schlafstellen, ein großer Tisch und Bänke in der Mitte. In der Sektion, in der wir unseren Adressaten fanden, lebten 6.10 Mann, allerdings kamen wenig später noch mehr angelaufen. Sie alle kannten Viktor Petrowitsch gut und äußerten sich mit warmen Worten über ihn. Die Freude über die Bücher war aufrichtig. Ich glaube nicht, dass solche Pakete von der Lagerverwaltung begrüßt wurden, aber egal – wir empfanden es jedenfalls als angenehm, dass wir diesen vom Schicksal benachteiligten Menschen eine Freude hatten machen können. Sie versuchten uns aufzuhalten, mit Tee zu bewirten, aber die Zeit drängte; und so verabschiedeten wir uns von den „Ostlern“, indem wir ihnen nach dem Sieg über die „Befreier“ eine baldige Rückkehr in die Heimat wünschten. Am nächsten Morgentrafen wir in Breslau ein und begaben uns in die uns bekannte Kneipe. Unter anderem sollte ich den Schwestern meiner Mutter einen Brief und ein kleines Paket übergeben. Es war nämlich so gewesen, dass sie Mama seinerzeit einen Brief geschickt hatten, in dem sie schrieben, was sie doch für ein liebes „Paulchen“ habe, und dass sie sich nach Kräften bemühen würden, dass ich mich auf fremdem Boden zuhause fühlen konnte. Im Paket waren einige Lebensmittel, Toilettenseife und andere Dinge, die in Deutschland als Mangelware galten, während man sie bei uns noch kaufen konnte. Sie empfingen uns mit großer Freude, und wir beschlossen – ach, egal, wir haben uns sowieso schon um eine Woche verspätet, da sind zwei auch nicht so schlimm: dafür verantworten müssen wir uns nur einmal. So kehrten wir erst am 12. April nach Sandberg zurück. Diese wenigen Tage lebten wir praktisch auf Kosten der Schwestern und hatten dabei Gelegenheit, die Lebensweise einer typisch deutschen Familie zu beobachten, vor allem was das Essen betraf. Alles war bemerkenswert akkurat angerichtet und äußerst schmackhaft, aber ungewohnt für unsere umfangreichen slawischen Bäuche. Das Brot wurde mit einer speziellen Maschine geschnitten, die einer zirkulierenden Säge ähnelte; und das ergab buchstäblich durchsichtige Scheiben, und auch das übrige Essen war mengenmäßig vorausgeplant und eher für körperlose Engel als für kräftige Burschen geeignet. Wahrscheinlich war das eine vernünftige Nahrungsmenge, was durch das blühende Aussehen unserer Wirtinnen nur bestätigt wurde; bei uns allerdings rief sie eine ungewohnte Leichtigkeit in den Mägen hervor und bedeutete schlichtweg den zerronnenen Traum von einem ganzen Laib Brot und einem halben Kilo Wurst.

Unsere Abreise fiel mit dem Zeitpunkt zusammen, als beide Schwestern gerade frei hatten und uns somit zum Bahnhof begleiten konnten. Im Zug befanden sich nur wenige Menschen. Es ware ein Vorortzug, in der Art wie bei uns die Elektrische, ziemlich langsam und nicht sonderlich komfortabel. Die Waggons waren in einzelne Abteile unterteilt, deren Türen zur Straßenseite aufgingen; dort gab es eine kleine Stufe; die sich an der gesamten Waggonseite entlangzog. Nach dem Abschied drückten sie uns noch ein Paket für unterwegs in die Hand, das in Zeitungspapier eingewickelt war. Als der Zug sich in Bewegung setzte, öffneten wir es und entdeckten einen Rosinenkuchen, so groß wie eines unserer mittleren Kasten-Weißbrote. Wir blickten zur Seite, und nach dem wir uns vergewissert hatten, dass sich niemand in unserer Nähe befand, schnitten wir den Kuchen in zwei Hälften und aßen ihn mit ganzer Seele auf – ohne Rücksicht auf die Feinheiten ausländischer Etikette. In Sandberg angekommen, traten wir sogleich unter die hellen Augen von Hauptmann Semjonow, murmelten etwas von Bombardierungen und anderen schrecklichen Ereignissen, die dazu geführt hatten, aß wir unsere Rückkehrfrist dermaßen überschreiten mußten. Er war mit unseren Erklärungen voll und ganz zufrieden, und wir machten uns auf die Suche nach unseren Kameraden, die bereits aus dem Urlaubzurückgekehrt waren und sich in unser neues Tätigkeitsfeld bereits eingearbeitet hatten – oder besser gesagt: die neuen Abarten des Nichtstuns. Aus den Resten der Gruppe „Ulm“ und den neu hinzugekommenen Freiwilligen wurde eine neue Unterabteilung formiert, die wir nun leiten und unterweisen sollten. Die Abteilung war in einer gesonderten Baracke untergebracht, und wir, das Führungspersonal, im separaten Raum einer großen Baracke, in der auch der gesamte Kommandostab des Bataillons der russischen Befreiungsarmee einquartiert war. Wir – das waren Chodolej, der zum Kommandeur unserer Unterabteilung ernannt worden war, Aljoschka und ich sowie Sosiska mit Papa Meier, der nach seiner Verletzung, die er bei dem Skiunfall erlitten hatte, in die Formation zurückgekehrt war. Irgendwie fügte es sich ganz von selbst, dass Aljoschka die wirtschaftlichen Belange der Abteilung übernahm, während ich mich um die militärische Ausbildung kümmerte. Das Leben war bis an seine äußerste Grenze primitiv. Es existierten weder eine politische Erziehungsarbeit, noch irgendwelche organisierten Freizeitmöglichkeiten; man konnte auch nirgends hingehen. Daher verbrachten wir die gesamte Freizeit auf unseren Schlafstellen liegend, unterhielten uns oder spielten uns gegenseitig alle möglichen Streiche; aber insbesondere trieben wir unseren Schabernack mit den Nachbarn, mit denen wir sogleich in eine antagonistische Beziehung geraten waren. Ein Beispiel: in der Mitte unserer Baracke befand sich ein großer Raum, der zu einem Windfang führte. Er diente als Kantine für die in unserer Sektion wohnenden Bataillonsangehörigen. Aus der Kantine führten Türen in den Schlafsaal sowie in unser getrenntes Zimmer, in dem ebenfalls drei zweigeschossige Schlafstellen und ein kleines Tischchen standen. Irgendwie hatte ich in dieser „Kantine“ einmal meine Mannschaft versammelt und unterwies sie gerade im Umgang mit Sprengstoffen. Ich zeigte ihnen, wie man die Zündschnur anschneidet und die Sprengkapsel daran befestigt; ich demonstrierte die verschiedenen Arten und Bezeichnungen für Zünder usw. Akteure aus dem Stützpunkt der „Gegner“ kamen ebenfalls zum Vorschein uns schauten sich unsere Wunderdinge an. Zur Vollendung der Lektion demonstrierte ich die ganze Lektion nochmal in iher Gesamtheit: ich schnitt ein Stückchen von der Zündschnur ab, steckte sie in die Zündpatrone und diese dann in eine 120 Gramm-Wurst aus Plastiksprengstoff. Anschließend, nachdem wir alle die Baracke verlassen hatten, zündete ich die Schnur auf freiem Gelände an, und 15-20 Sekunden später gabe es eine Detonation, die sämtliche Fenster klirren ließ. Am Abend desselben Tages finf erneut das übliche Wortgerangel an, was sich sehr gut bewerkstelligen ließ, ohne aus seiner Schlafstelle aufzustehen zu müssen, denn die Teilnehmer an den Sprachduellen waren lediglich durch eine dünne Bretterwand voneinander getrennt. Wir entfachten ganz absichtlich einen Streit, und als man uns damit drohte, uns die Beine auszureißen, drohten wir damit, den Gegner in die Luft zu jagen. Gesagt – getan. Wir richteten die Ladung her, allerdings ohne Zündkapsel; wir installierten lediglich die Zündschnur, zündeten sie an und warfen das Geschoß, wie angekündigt, in den Aufenthaltsraum unserer Gegner. Was da los war! Mit lauten Schreien: „Diese Idioten!“ rannten alle los, drängten sich an den Türen und schlugen draußen lang hin, weil sie im Vorbau über einen Draht gestolpert waren, den Walch zuvor dort gespannt hatte; manche verließen das Gebäude sogar rückwärts oder waren in Erwartung einer heftigen Detonation sogar auf allen Vieren ins Freie gekrochen. Natürlich hatt die Schnur nur ein wenig gekokelt, bevor sie von alleine erlosch, aber wir mußten uns in aller Eile verbarrikadieren, um die nach Vergeltung lechzenden Mitbewohner von ihrem Gegenangriff zu rückzuhalten.

In dieser Zeit reiften bei Hauptmann Semjonow neue Projekte. Das wichtigste daran war der Plan, von einem U-Boot aus in den arktischen Gefilden an Land zu gehen und dort eventuell die Befreiung der Häftlinge aus dem Lager zu organisieren und dort einen Tumult zu veranstalten. Diese Projekte wurden mit skeptischem Lächeln aufgenommen, und der Hauptmann erhielt sogleich den Spitznamen Kapitän Nemo. Später wurden neue Ideen geboren, welche Hauptman Semjonows Vorhaben bis in die Tiefen Sibiriens fortrissen. Zur Realisierung dieser Pläne wurde eine gewisse Anzahl Burkaten, Jakuten und andere Sibirjaken aus dem Bestand der Wachkompanie in unsere Unterabteilung hineingeholt. Der zuammenmit dieser Personalaufstockung eingetroffene Unteroffizier Tarmachanow übte die Pflichten eines Hauptfeldwebels aus. Er war ein Burjate mittleren Alters, mit krummen Beinchen, unverhältnismäßig flachem Gesicht, aus dem sich nur die schmalen Schlitzaugen und die ewig qualmende Pfeife hervorhoben. Im friedlichen Leben war der Unteroffizier gelernter Buchhalter. Er war ziemlich intelligent und interessiert. An den Abenden tauchte er mit einem Vortrag auf und saß eine lange Zeit da, wobei er von seinen Verwandten und Vorfahren erzählte und sein Pfeifchen rauchte. Ich hatte immer schon von Sibirien geträumt und hörte mit großem Interesse allem zu, was er über die Taiga, die vielen Omul-Arten und Charius-Fische zu berichten hatte.

Wir wurden außerordentlich schlecht verpflegt. Das Essen wurde uns in Kesseln in die Baracke gebracht, und zwar von unserer Ordonnanz Pyschjanow, einem 19-20 Jahre alten Tolpatsch aus dem Ural, der stets stumpfsinnig und trübsinnig dreinblickte. Auch er setzte sich häufig, wenn er seine Reinigungsarbeiten in unserem Käfig beendet hatte, zu uns und erzählte aus seiner Taiga-Gegend und anderen, für uns exotisch wirkenden Alltäglichkeiten. In unserer Freizeit streiften wir meist durch die Natur. Um das Lager herum erstreckte sich ein Waldgebiet, ein deutscher Wald mit gleichalten und gleichhohen Kiefern, den man von jeglichem Bruchholz gesäubert hatte und mit einer in gerade Quadrate aufgeteilten Schneise. Im Wald und auf den umliegenden Feldern begegnete man wilden Ziegenherden. Auch wenn wir dieser Wirtschaftskultur unseren Tribut zollten, so fühlten wir uns dennoch in mitten dieser „Natur“ nicht wohl, sondern zogen es vor, noch weiter zu gehen, wo an einem kleinen Flüßchen bereits polnisches Territorium begann. Auch hier wuchs der Wald nach slawischen Gesetzmäßigkeiten: er bestand aus ganz unterschiedlichen Bäumen, Waldwege wechselten sich mit kleinen, unebenen Pfaden ab, auf denen oft gefällte Bäume querlagen, über die sicher nicht nur eine einzige Generationen von Slawen beharrlich hinüberstieg – ohne den Stamm fortzuziehen und den Weg damit freizugeben, und erst recht würden sie ihn nicht zersägen und für irgendetwas verwerten. Der Charakter der Dörfer änderte sich ebenfalls jäh. Die akkuraten deutschen Häuschen mit ihren Ziegeldächern wurden abgelöst von strohgedeckten Hütten, und anstelle von selbtzufriedenen, wohlgenährten Bauern stieß man hier auf heruntergekommene Bäuerlein, die, wenn man ihnen entgegenkam, sofort den schmalen Weg verließen und ihren Hut mit den Worten: „Dzien dobry, panstwo!“ („Guten Tag, Herr; Anm. de, Übers.) zogen. Auf diese Weise tat sich vor uns das polnische Dörfchen Bur Sajtschinskij auf, ein Produkt gutsherrlicher Allmacht, die sich durch die deutsche Okkupation noch vervielfacht hatte. Wollen die ehemaligen Herren Aristokraten aus der russischen Emigration nicht auch so ein Rußland sehen? Das waren natürlich nicht nur meine Gedanken, sondern die Frucht unserer gemeinsamen Unterhaltungen, wie wir sie auf derartigen Spaziergängen führten.

 

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