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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Jewgenia Jewdokimowna Beresina

Jewgenia Jewdokimowna BERESINA (geb. 1905), heute die Ehefrau von A.G. Gumerow (s. seinen Verbannungs- / Lagerhaftbericht), lebte 1937 auf dem Militärfliegerhorst KRIWOSCHSCHJOKOWO, 20 km von NOWOSIBIRSK entfernt, in der Nähe der Bahnstation OB, und leitete die Apotheke des diensthabenden Truppenteils. Ihr Ehemann, Alexander Fjodorowitsch MOLOTOW (1900-1937), diente als Ober-Ingenieur bei den Schlachtfliegern im 134. Truppenteil, der aus drei Fliegerstaffeln bestand.

Im Jahre 1935 oder 1936 beendete er mit Auszeichnung die betriebswirtschaftliche Fakultät der Schukowskij-Akademie der Luftstreitkräfte in Moskau.

 

Man wollte ihn am wissenschaftlichen Forschungsinstitut in Moskau lassen, aber da fand sich plötzlich in seiner Parteiakte ein „Makel“: Anfang der 1930er Jahre hatter er versucht, eine Bauernfamilie vor der „Entkulakisierung“ zu bewahren.

Kommandeur bei den Schlachtfliegern war EPSTEIN (wahrscheinlich wurde auch er 1937 oder 1938 verhaftet).

Im Januar wurde A.F. MOLOTOW aus der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) ausgeschlossen, am 05.05.1937 verhaftet und nach NOWOSIBIRSK geschickt. Etwa in dieser Zeit wurde ein Bekannter der Molotows verhaftet, der Kommandeur der Fliegerstaffel MOROS. Er und MOLOTOW saßen im Juli-August 1937 zusammen im Untersuchungsgefängnis beim Stab des Sibirischen Wehrkreises in NOWOSIBIRSK (s. Verbannungs-/ Lagerhaftbericht von Gumerow).

Nach der Verhaftung ihres Ehemannes wurde Jewgenia Jewdokimowna befohlen, innerhalb von 24 Stunden das Militärlager zu verlassen. Unter den Vorgesetzten hatten noch nicht alle ihre menschlichen Charakterzüge verloren. Man stellte ihr ein Auto und half ihr, mit den ganzen Sachen, der kranken Mutter und ihrer kleinen Tochter ins Nachbardorf zu fahren. Bald darauf begab sich Jewgenia Jewdokimowna samt Mutter und Tochter zu ihrem Bruder nach Jessentuki. Dort konnte sie in der Apotheke eine Arbeit finden, aber als sie bei der Meldestelle eingestand, daß ihr Mann verhaftet worden war, lehnte man es glattweg ab sie zu registrieren.

Sie mußte nach NALTSCHIK fahren, wo ein alter Bekannter von ihr bei der Apotheken-Verwaltung arbeitete. Er war ihr dabei behilflich, eine Beschäftigung in der Apotheke und ein Zimmer zu bekommen. Jeden Monat schickte Jewgenia Jewdokimowna ihrem Mann 50 Rubel (mehr war nicht erlaubt). Für jede Überweisung kam eine Quittung mit der Unterschrift ihres Mannes.

Im September kam jedoch aus Nowosibirsk ein Schreiben, daß sie dort kein Geld mehr annehmen würden. Ungefähr zu der Zeit, im September, wurde Jewgenia Jewdokimowna beim Wehrkommando unter Meldepflicht gestellt, ebenso wie der Leutnant des medizinischen Dienstes; dort hatte sie ebenfalls zugegeben, daß man ihren Mann verhaftet hatte.

Danach blieb Alexander Fjodorowitsch verschollen, und erst Mitte der 1950er Jahre kam eine Bescheinigung über seine posthume Rehabilitation und ein Bericht über sein Schicksal, das man jedoch lediglich „zu Gehör“ brachte – etwas Schriftliches händigte man ihr nicht aus (siehe weiter unten).

Wenn Jewgenia Jewdokimowna abends bei der Medikamenten-Ausgabe Dienst hatte, bemerkte sie des öfteren ein wenig anziehendes Subjekt, das ans Fenster klopfte und dann sogleich wieder verschwand. Am 28.11.1937 erschien dieser Typ während der Mittagspause bei ihr zuhause: „Ich brauche Sie. Kommen Sie, und nehmen sie Ihren Paß mit!“

Er führte Jewgenia Jewdokimowna direkt vor die Gefängnistore, und als diese ihm geöffnret wurden, brachte er sie in ein eingeschossiges Bürogebäude. Dort nahm der Beamte einen Ordner mit der Aufschrift „Häftlingsakte“ heraus und schrieb Jewgenia Jewdokimownas Nachnamen und Adresse auf. Danach brachte man sie in eine Zelle.

In der Zelle, die mit einheitlich hohen, durchgehenden Pritschen ausgestattet war, befanden sich etwa 20 weibliche Gefangene. Sie saßen alle „wegen ihrer Ehemänner“. Außer Jewgenia Jewdokimowna gab es nur noch eine Russin, Geschichtslehrerin von Beruf; alle anderen waren Kabardinerinnen oder Balkarinnen. Der Platz auf den Pritschen reichte für alle. In dieser Zelle verbrachte Jewgenia Jewdokimowna ungefähr 6 Monate. Die weiblichen Gefangenen erhielten ständig Pakete und halfen sich gegenseitig, so daß niemand Hunger leiden mußte.

Einmal, um Mitternacht, wurde sie aus der Zelle herausgerufen – in eben jenes „Kontor“. Dort sah sie einige NKWD-Mitarbeiter in Uniform. Einer von ihnen erwies sich als Untersuchungsrichter und begann Fragen zu stellen: „Wer war alles bei ihnen im Hause?“, „Wer kam zu ihrem Mann?“. Von ihren Zellengenossinnen hatte Jewgenia Jewdokimowna bereits erfahren, daß allen diese Art von Fragen gestellt würden. Der Untersuchungsführer schmierte auf irgendeinem Stück Papier herum und schob es dann Jewgenia Jewdokimowna hin. Sie unterschrieb ohne zu lesen und wurde dann in ihre Zelle zurückgeschickt. Nach einer Stunde wurde sie erneut herausgerufen und demselben Ermittlungsrichter vorgeführt. Er teilte ihr mit: „So habe ich das nicht geschrieben“, und mit diesen Worten zerriß er jenes unterschriebene Stück Papier. Dann schrieb er erneut etwas auf und befahl es zu unterzeichnen. Wieder unterschrieb Jewgenia Jewdokimowna, ohne es gelesen zu haben.

Kurz darauf blieb sie allein in der Zelle zurück, denn alle anderen waren bereits auf Etappe geschickt worden. Man brachte sie in eine andere Zelle, in der nur Nichtpolitische wegen gewöhnlicher Alltagsvergehen saßen. Tagsüber blieb Jewgenia Jewdokimowna mit einer gebrechlichen Alten in der Zelle zurück, die anderen gingen zur Arbeit: in die Küche, die Wäscherei, u.ä. Hier saß sie ungefähr zwei Monate, und kam Anfang Juli 1938 auf Etappe: zuerst nach ORDSCHONIKIDSE, dann nach ROSTOW, wo man die Gefangenen lange Zeit in Hockstellung im 9. Stock irgendeines hohen Gebäudes festhielt; von da aus ging der Transport nach UFA, dann nach NOWOSIBIRSK und TOMSK. An all diesen Etappenpunkten kamen sie ins Gefängnis. Noch im TOMSKER Gefängnis war neben Jewgenia Jewdokimowna eine junge Kabardinerin mit einem zweijährigen Kind eingesperrt, die Ehefrau eines verhaftetetn Kolchos-Vorsitzenden, die von Naltschik an mit Jewgenia Jewdokimowna auf derselben Etappe gewesen war und sich überhaupt nicht von ihr trennen wollte: sie konnte kein einziges Wort Russisch.

Der Häftlingstransport wurde von TOMSK nach PETROPAWLOWSK geschickt und von dort nach AKMOLINSK. Unterwegs bewegten die Frauen die Begleitsoldaten dazu ihnen zu sagen, was über sie in den Meldekarten geschrieben stand. Dabei kam heraus, daß bei Jewgenia Jewdokimowna „TschIR“ eingetragen war (Familienmitglied eines Vaterlandsverräters; Anm. d. Übers.), auf Beschluß der Sonder-Konferenz zu 5 Jahren verurteilt. Eine offizielle Verkündung des „Urteils“ gab es jedoch nicht – auch nicht später in den Lagern.

Aus AKMOLINSK wurden die weiblichen Häftlinge mit Autos fortgebracht. Der Bestimmungsort war ALSCHIR – das Akmolinsker Frauenlager für Angehörige von Vaterlandsverrätern. Das war ein riesiger landwirtschaftlicher Betrieb, der sich über einige Kilometer erstreckte und von mehreren Reihen Stacheldraht umgeben war. Neben der Zone befand sich ein kleiner See, dicht mit Schilf (Röhricht) bewachsen. Im Winter hackten sie dieses Schilf als Brennmaterial – etwas anderes gab es zum Heizen nicht.

Im ALSCHIR saßen alle ohne das Recht auf Briefwechsel oder den Erhalt von Paketen. Im allgemeinen erreichte die Zahl der Inhaftierten, fast ausschließlich Frauen, die 6000. Allein die Gemüsegärten nahmen in der Lagerzone eine Fläche von 300 Hektar ein, es gab dort nicht weniger als tausend Stück Vieh – Pferde und Kühe. Neben der landwirtschaftlichen Produktion war in der Zone eine Puppenfabrik in Betrieb, ebenso eine Näherei, wo in erster Linie Wäsche und Wattejacken genäht wurden, sowie eine separate Stickfabrik. Leiterin der Zone war eine gewisse MARAPULIS.

Jewgenia Jewdokimowna bekam keine Arbeit, die ihrer beruflichen Ausbildung entsprach: im Lager saßen 300 Mediziner, und nur 10-15 arbeiteten auch in diesem Bereich. Nach einer einwöchigen Erholungspause (sie wurde allen gewährt, die mit dem Häftlingstransport angekommen waren) schickte man sie zuerst zur Feldarbeit, aber ein Jahr später versetzte man sie in die Stickerei. Gearbeitet wurde vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung – so lange, wie Tageslicht vorhanden war. Es gelang Jewgenia Jewdokimowna, innerhalb von 21 Stunden ein Hemd zu besticken. Für diese Arbeit erhielt sie „die für ingenieurtechnisches Personal übliche“ Verpflegung – einen ganzen Laib Brot.

Die Ration wurde vor dem Ausmarsch zur Arbeit, um 6 Uhr morgens, ausgegeben, im Sommer sogar noch früher. Abends stand den Gefangenen ein Abendessen zu. Im großen und ganzen herrschte Hunger.

Die Zone verfügte über ein eigenes Irrenhaus. 1939 befanden sich dort 6 Geisteskranke. Im Lager gab es auch etwa 100 Kinder, die zusammen mit ihren Müttern in einer getrennten Baracke wohnten.

Einen erheblichen Teil der Gefangenen des ALSCHIR stellte die künstlerische Intelligenz dar. Ständig fanden literarische und musikalische Abende statt, ungeachtet der Tatsache, daß sie einem nur 1-2 freie Tage pro Monat gaben. Jewgenia Jewdokimowna konnte sich noch gut an eine Opernsängerin aus CHARKOW, Kotja (?) OLOBEJNIKOWA, erinnern.

In Jewgenia Jewdokimownas Baracke waren ungefähr 250 Gefangene. Ihre Pritschennachbarin (sie schliefen auf zwei-stöckigen harten Liegebrettern) war Eisenbahnerin; bis zu ihrer Verhaftung hatte sie als Stationswärterin gearbeitet. Sie hieß Ljubow SCHDAN (geb. ca. 1905). In jener Baracke lebte auch Garmaniks Schwester und eine der Schwestern Tuchatschewskijs (offenbar eine Kusine oder Halbschwester?), die schwer am Kropf erkrankt war und dort, im ALSCHIR, verstarb. Tuchatschewskijs leibliche Schwester (Jelisaweta Nikolajewna ARBATOWA-TUCHATSCHEWSKAJA) saß ebenfalls zu dieser Zeit im ALSCHIR, allerdings wohnte sie in einer anderen Baracke. Sie besuchte oft ihre kranken Verwandten.

Jewgenia Jewdokimowna saß 2 Jahre im ALSCHIR und wurde dann mit einem speziellen Arbeitsauftrag, zusammen mit zwei anderen Gefangenen, ins KRASLAG geschickt – nach KANSK. In KANSK saß sie 2 oder 3 Monate in einem Durchgangslagerpunkt, wo Männer und Frauen gemeinsam in einer Lagerzone untergebracht waren. Man trieb sie zur Arbeit in die Nähfabrik, in der hauptsächlich grobe Wäsche für die Inhaftierten genäht wurde.

Zu Beginn des Winters 1940 brachte man sie, zusammen mit dem nichtpolitischen Häftling und Anstreicher Kabankow und einem Begleitsoldaten, von KANSK durch das Dörfchen Taloje zum Sonderlagerpunkt „NOWAJA SCHEDARBA (s. Verbannungs-/Lagerhaftbericht von A.G. Gumerow).

Dort begann Jewgenia Jewdokimowna als Krankenschwester im Lagerambulatorium zu arbeiten. Danach wurde sie beruflich nach SAMSONOWKA (vom Sonderlagerpunkt TUGATSCH) abkommandiert, wo sie die Apotheke leitete, später jedoch wieder als Krankenschwester bei dem Chirurgen URASBAJEW tätig war (s. Verbannungs-/ Lagerhaftbericht von A.G. Gumerow). Anfang 1942 wurde sie als Operationsschwester nach TUGATSCH versetzt. Dort wurde das Krankenhaus von einer gewissen LJUBTSCHENKO-PANTSCHENKO geleitet. Oberarzt bei ihr wurde Genrich (Heinrich) Josifowitsch NAWODNYJ (geb. ca. 1900, s. auch Verbannungs- / Lagerhaftbericht von A.I. Miljuschkin). Jewegenia Jewdokimowna säte auf dem Blumenbeet vor dem Krankenhaus zwischen den Blumen Radieschen aus, damit die Häftlinge sie nicht gleich herausziehen sollten, und diese Radieschen halfen ihr tatsächlich, eine Kranke zu retten.

Im November 1942 ging Jewgenia Jewdokimownas Haftzeit zuende. Sie blieb in Tugatsch, arbeitete in einem freien Arbeitsverhältnis und leitete die Apotheke außerhalb der Lagerzone. Zu dieser Zeit befanden sich im Männerlager von TUGATSCH ungefähr 1800 Häftlinge.

Zu Beginn des Krieges arbeitete in SAMSONOWKA die Deutsche Luisa (Luise) EKK (geb. ca. 1905) als Operationsschwester. Bevor sie ins KRASLAG kam, saß sie in SALECHARD. Dort war auch, bevor er ins KRASLAG kam, der Feldscher GALJAN inhaftiert.

Der Lette Wladimir RUBINS (geb. ca. 1900), Mediziner, saß wegen des § 58 in TUGATSCH; nach seiner Freilassung arbeitete er dort als Röntgenologe zusammen mit F. SCHACHTJOROWA. Die beiden heirateten und fuhren später nach Riga.

Außer Mamsa, Kuscho, Schajbino, Samsonowka, Matwejew Kljutsch, B. Retschka, Marinij Klein und eben Tugatsch gab es noch die Lagernebenstelle IGIL, am Zusammenfluß von IGIL und KUNGUS, sowie das saisonabhängige Nebenlager zum Holzabflößen – JEREMEJEW KLJUTSCH am Ufer des KAN, wohin während des Holzabflößens laufend hunderte von Häftlingen ohne Wachbegleitung entsandt wurden.

1945 war TERSKIJ Leiter der Außenlagerstelle TUGATSCH. Während des Krieges wurden von TUGATSCH jedes Frühjahr Häftlingstransporte (derer, die kräftig genug waren) nach KOLYMA und WORKUTA gebracht, und von dort trieben sie dann die dem Tode Geweihten nach TUGATSCH.

Laut Schreiben der Nowosibirsker regionalen KGB-Verwaltung vom 03.06.1991 wurde A.F. MOLOTOW, geb. 1900, von 1919-1937 Mitglied der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken, Ingenieur beim Materialtrupp der Luftbrigaden, Kriegsingenieur 3. Ranges, wohnhaft im Militärlager an der Station OB, Block 2, Wohnung 26, am 08.05.1937 wegen „Mitwirkung an einer militärisch-faschistischen, terroristischen Verschwörung“ verhaftet. Am 28.10.1937 durch ein Fernurteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichtshofes des UdSSR nach § 58-7, 17, 58-8, 58-11 zur Höchststrafe verurteilt. Am 28.10.1937 in NOWOSIBIRSK erschossen. Am 02.02.1957 kraft Bestimmung des Militärkollegiums des Obersten Gerichtshofes der UdSSR rehabilitiert.

Dem Brief lag ein Gefängnisfoto von A.F. Molotow bei.

20.04.1991, aufgezeichnet von W.S. Birger, Gesellschaft „Memorial“, Krasnojarsk

 

Im Archiv

Fotos

J.J. Beresina

A.F. Molotow

A.F. Molotow

J.J. Beresina, 1950

A.G. Gumerow, 1956, Glinka, Nischneingaschker Kreis

A.G. Gumerow, 1957, ebenda

A.G. Gumerow, Wl.Rubins, G.I. Nawodnyj, um 1953, Tugatsch;

J.J. Beresina, F. Schachtjorowa, A.G. Gumerow, 1952, Tugatsch;

Nechoroschew, 1967, Abakan;

E.F. Basok  um 1952, Tugatsch;

Blumenau, Nawodnyj, Rubins, Schachtjorowa, Gumerow, Beresina u.a., etwa 1953, Tugatsch.

R. Blumenau, 1954, Tugatsch.


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