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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Felix Karelin

Ich hatte einen Kameraden – Iwan Gurschajew. Es kam vor, daß er und ich eine Zeit lang spazierengingen, uns setzten, ich anfing irgendetwas zu sagen und er dann einwarf: „Nicht! Es ist besser, wenn wir schweigen“. Damals begriff ich zum ersten Mal, was die Weisheit des Schweigens bedeutet. Wenn ich mal auf eine Blume trat, griff er mich am Ohr: „Tut es dir leid? Glaubst du denn, dem Gras tut das nicht weh?“

Einmal sagte er zu mir:

- Einen Menschen solltest du kennenlernen.

- Wen denn?

- Ich werde dich mit ihm bekanntmachen. Komm, gehen wir.

Wir gingen in die Nachbarsektion unserer Baracke, wo Gena Kutschma wohnte. Gerade war er dabei, einem mittelgroßen Burschen mit aschblonden Haaren etwas zu erklären. Neben ihm, auf dem Hocker, lag ein Blatt Papier, auf das ein sechseckiger Stern gezeichnet war, an dessen Spitzen – von oben angefangen und im Uhrzeigersinn – die Worte geschrieben standen: Liebe, Macht, Materie, Seele, Geist, Verstand. Dieses Symbol versetzte mich in großes Erstaunen. Es erinnerte mich an meine weit zurückliegenden wissenschaftlichen Forschungen in den Bereichen der Semiotik und Semantik von Worten, als ich auf einem Blatt Papier verschiedene Begriffe ausgelegt und zwischen ihnen einen wechselseitigen Zusammenhang gesucht hatte.

Felix (so wurde er genannt) beschrieb den sogenannten Schlüssel Davids, und entwickelte seine Grundbegriffe zur Anwendung auf alle Formen der geistigen Kultur. Die Seele entsprach dem Brahmanismus, der Geist – dem Buddhismus, die Vernunft – dem Rationalismus der griechisch-römischen Kultur, die Liebe – dem Christentum, die Macht – dem Islam, die Materie – dem zeitgenössischen Materialismus. So daß man, wenn man im Uhrzeigersinn nach unten ging, das historische Bild des Fortschritts des menschlichen Geistes verfolgen konnte. An den gegenüberliegenden Enden des Sexagons (Sechsecks) lassen sich Paare aufspüren: die Liebe, die ihren Ursprung in der Seele nimmt, die Vernunft, welche die Materie studiert, und die Macht, die dem Geist entspricht. Diesen Schlüssel Davids fand er heraus, indem er das aus einem Spruch im Evangelium ableitete (die vollständige Sammlung der Briefe des Apostels Johannes ders Täufers, Kapitel 5, Absatz 6, 7, 8), wo es heißt: „6. Das ist Jesus Christus, der gekommen ist durch das Wasser und das Blut (und den Geist), nich nur durch das Wasser, sondern durch Wasser und Blut; und der Geist zeugt von, denn der Geist ist die Wahrheit. 7. Denn drei Dinge bezeugen das im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist; und alle drei Wahrheiten sind Eins. 8. Und drei geben Zeugnis davon auf der Erde: der Geist, das Wasser und das Blut; und sie alle drei stimmen überein. „Dem Vater entspricht die Liebe, dem Wort - der Verstand, dem Heiligen Geist – die Macht, dem Geist - der Geist, dem Wasser – die Materie, dem Blut – die Seele.

Diese Auslegung versetzte mich bis ins Tiefste meiner Seele in Erstaunen. Ich fühlte mich plötzlich dermaßen erbärmlich und sündig, daß ich mich für unwürdig hielt, mich all diesem Geheiligten von dem Felix da gesprochen hatte, auch nur zu nähern. Ich ging fort, ohne eine Unterhaltung mit ihm angefangen zu haben, und begann meine Vergangenheit tiefgründig zu durchdenken und mich zu bemühen, mich geistig und seelisch zu reinigen. Etwa zehn Tage vermied ich jegliches Zusammentreffen mit ihm, aber dann bestand Iwan auf einer Zusammenkunft. Wir machten uns miteinander bekannt, und ich ging fast jeden Abend zu seinen Vorträgen. Das waren keine Predigten, sondern eben Gespräche; er verstand es in bewundernswerter Weise mit den Leuten umzugehen, niemals zwang er einem seine Gedanken und Meinungen auf, sondern bemühte sich stets, im Menschen selbständige Gedanken zu entfalten, indem er ihn zum Nachdenken zwang, und all dann meinten alle, daß sie selbst auf den Gedanken gekommen wären.

Viele zog er mit der Weissagung in seinen Bann, daß die Macht des Antichristen (sprich der Sowjets) 36 Jahre andauern und daß dies am 7. November 1953 geschehen würde. Sich selbt zählte er zu den Rechtgläubigen, und viele der Russen, Ukrainer und sogar Moldawier kamen, um ihm zuzuhören. Als seine Prophezeihung sich nicht erfüllte, wandte sich die Mehrheit der Gläubigen aufgrund dieses Tatbestandes von ihm ab. Zuguterletzt waren wir insgesamt nur noch sechs Leute, die zu ihm gingen, darunter auch mein neuer Bekannter Boris Wrangel (ein neffe des berühmten Barons Wrangel), mit dem wir uns angefreundet hatten und bis 1958 zusammenblieben. Wegen unserer Freundschaft hielten auch mich viele für irgendeinen Adligen aus den Reihen der Weißemigranten.

Während einer der Zusammenkünfte besorgte Felix eine Dose Pfirsiche (Kompott), und indem er sich irgendetwas ausdachte, bat er uns, diese Pfirsiche der Reihe nach aus der Dose zu nehmen, und einem sollte das letzte Stück zufallen. Dieser Pfirsich ging an mich. Aus irgendeinem Grunde wunderte er sich darüber sehr und sagte sogar: „Das kann nicht sein!“ Später, nachdem sich alle von ihm abgewendet hatten, war ich eben jener letzte, der auch weiterhin zu ihm ging, bis er eines Tages auf Etappe geschickt wurde. So habe ich auch eine ganz klare Erinnerung an ihn behalten. Ungefähr noch zwei Monate nach meiner Zwangserholung arbeitete ich als ungelernter Arbeiter beim Bau.

 

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