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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Der Bau der Erdölraffinerie

Im April des Jahres 1954 brachte man uns mit einer Etappe zum Lagerpunkt 01. Damals trug ich die Lagernummer AP-42. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann genau, aber 1954 entfernten sie die Nummern von uns, brachen die Gitter von den Fenstern heraus, entfernten die Türschlösser, begann uns Geld zu bezahlen und erlaubten uns ungezwungene Kleidung zu tragen.

Wie gewohnt geriet ich wieder in eine Strafbrigade. Wir arbeiteten beim Bau der Erdölraffinerie - hauptsächlich Erdarbeiten: wir hoben Gruben unter den Rohren sowie die Baugruben unter den zukünftigen Stützstreben und Fundamenten des Gebäudes aus.

In den Lagerläden tauchten verschiedene gute Lebensmittel auf, die ich nun auf Vorrat kaufte: sowohl eingewecktes, geschmortes Fleisch und Kondensmilch, als auch alle möglichen Arten von Marmelade und Mus. Diese guten Sachen trug ich stets in einem Sack mit mir herum, und auch einen Sack mit Büchern. In der Arbeitszone konnte man immer zu Schieberpreisen Wodka kaufen. Abends, wenn wir weggegangen waren, entfernten sie die Wachposten, am Morgen bezogen sie erneut Position. Bis zur Wachablösung kamen ziemlich oft Frauen des leichten Gewerbes zu den Wachen, sie "kosteten" damals drei Rubel. Das gehört der Vergangenheit an, auf all diese Vorteile war ich nie scharf gewesen. Während meiner gesamten Gefangenschaft habe ich mich vielleicht dreimal betrunken, und viele sagten damals über mich: " Worowiew hat anstelle von Frauen - Bücher, das ist alles, was er braucht". Unter den Häftlingen, die ohne Wachbegleitung herumliefen, erzählten viele ganze "Romane" von den frei im Lager arbeitenden Frauen und von Frauen aus anderen Lagern. In der ersten Zeit befaßte ich mich mit solchen Dingen nicht. Mit der Zeit tauchte aber auch bei mir so ein "Roman" auf, aber davon später.

Die Wohnzone wurde nach und nach ganz komfortabel eingerichtet. Oberst Gromow bemühte sich, daß sein Lager ein Musterbeispiel mit Vorzeigecharakter war. Fast auf der gesamten Fläche zwischen den Baracken blühten im Sommer Blumen, die Wege waren mit Sand zugeschüttet, es gab viele betonierte Becken mit Springbrunnen und Skulpturen.

Beinahe rund um die Uhr war in der Zone ein Kinotheater in Betrieb, in dem die schönsten Bilder der damaligen Zeit gezeigt wurden. Zu uns kamen Artisten und einmal sogar der damals berühmte Omsker Chor. Es wurde eine Vielzahl von unterschiedlichen Kursen angeboten: für Tischler, Zimmerleute, Betonarbeiter, Schlosser, Elektriker, Fahrer, Schweißer, Kinomechaniker und viele andere.

Später konnte man sich von der allgemeinen Verpflegung abmelden und in der kommerziell betriebenen Kantine Gerichte bestellen. Die Versorgung in den Geschäften war hervorragend, selbst die Freien kauften dort vieles über uns.

Zu jener Zeit beschäftigte ich mich verstärkt und aus freien Stücken mit Mathematik und Physik gemäß Universitätsprogramm. Die Bücher, die ich dazu benötigte, konnte man bestellen. Eine Menge solcher Literatur erhielten auch andere Häftlinge und tauschten sie dann untereinander aus. Ich las viele philosophische Werke: Aristoteles, Platon, Kondorse, Ten, Hegel, Lao Tse, und sogar der Koran geriet mir in die Finger. Damals gingen wir etwa drei-vier Kilometer zufuß bis in die Arbeitszone. Neben mir ging immer der litauische Philosophie-Professor Buga. Jeden Morgen und Abend, auf dem Weg zur und von der Arbeit hielt er mir Vorlesungen über die westeuropäische Philosophie: Kant, Hegel, Schopenhauer, Nitzsche, Bacon, Freud, die französischen Enzyklopädisten und viele, viele andere. Wie er sagte, hatte er Vorlesungen an der Schwedischen Universität gehalten. Von ihm schöpgte ich viel Wissen über die Geschichte der Philosophie des Westens. Später, 1956, studierte er selbst nachdrücklich Marx, schrieb Konspekte, zeigte sie alle einer Kommission des Obersten Sowjets und sagte, daß er seinen Ansichten einen neuen Sinn gegeben und die Rechtlichkeit des Marxismus begriffen hatte: offenbar glaubten sie ihm und entließen ihn in die Freiheit.

Mit Boris Wrangel verband mich eine ständige Freundschaft, mehrmals schickte er meiner Mutter Geld, weil er welches über hatte und selbst keine Verwandten besaß. Sehr oft kam Lew Nikolajewitsch Gumilew zu ihm - der Sohn des berühmten Poeten, aber irgendwie kam es nicht dazu, daß ich ihn näher kennenlernte.

Im August 1954 wurde unser erster Fall überprüft, die Haftzeit auf 10 Jahre herabgesetzt, und ich wurde in eine Brigade für Häftlinge mit geringer Haftzeit verlegt. Aus irgendeinem Grund schenkte die Leitung der Existenz meiner zweiten Vorstrafe lange Zeit keinerlei Beachtung. Wir gingen zu einem neuen Objekt - eine Fabrik für die Herstellung von synthetischem Kautschuk, und zogen um das Gelände einen Stacheldrahtzaun. Es war vorgekommen, daß der Begleitsoldat total betrunken gewesen war, unsere Gefangenen ihm die Waffen entwendet und selbst mit dem Auto in die Zone gefahren waren. Bald jedoch, eineinhalb Monate später, zeigte es sich, daß ich doch noch eine zweite Vorstrafe hatte. Man verlegte mich wieder zurück ineine Brigade für Langzeitinhaftierte, in der Wrangel der Brigadeführer war. Danach nahmen wir erst 1958, als die Etappe nach Tajschet abging, voneinander Abschied.

Eine Zeit lang arbeitete ich beim Bau des Gradierwerkes für das Omsker Wärmekraft- und Fernheizwerk. Das war ein Sonderprojekt, zu dem unsere Brigade geschickt wurde. Ich hielt mich damals bei der Bearbeitung von Holzfasern in heißer Kreosot-Lösung auf. Es gab einen kleinen Hahn, mit dessen Hilfe ich die Holzfasern hochnehmen und herunterlassen konnte. Die Arbeit war gesundheitsschädlich, aber ziemlich leicht. Die Brigade bestand hauptsächlich aus Häftlingen aus dem Baltikum. Das war ein äußerst arbeitssames und ehrbares Volk. Sie waren so ehrlich, daß mitunter eine freie Verkäufern zum Objekt kam, um Lebensmittel zum Lagerladen zu bringen; die ließ sie dann dort zurück und fuhr davon. Wir wogen selber auf einer Waage alles ab, was wir benötigten, bezahlten selbst unsere Schulden, und es kam niemals vor, daß jemand den Verkäufer betrog. Damals witzelten wir darüber, daß bei uns der vollkommene Kommunismus eingekehrt war.

Es kam das Jahr 1956. Eine Kommission des Obersten Sowjet kam zu uns, um unsere Strafakte durchzusehen. Die überwältigende Mehrheit der Gefangenen wurde entlassen, den übrigen wurde die Haftzeit verkürzt. Mir wurde aufgrund der zweiten Vorstrafe, offen sichtlich wegen meiner Zugehörigkeit zur RKDPR (Demokratische Arbeiter- und Bauernpartei Rußlands), die Haftdauer auf 15 Jahre ermäßigt, und das bedeutete, daß ich noch mehr als 10 Jahre sitzen sollte. Von mehr als 20000 Häftlingen blieben nun noch 700 im Lager zurück. Wir arbeiteten alle an einem einzigen Objekt - der Ölfabrik, einem Werk für technische Öle. Nach und nach begann man zu uns, in eine abgetrennte und eingezäunte Zone, Kriminelle heranzuschaffen. Offenbar näherte sich damit der Zeitpunkt der Liquidierung unseres Lagers.

 

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