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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Erneut in Tajschet

Jetzt weiß ich schon nicht mehr genau, in welches Lager wir zuerst gerieten. Ich kann mich nur noch erinnern, daß Kriminelle dieses Lager verließen, und an ihrer Stelle ließen wir uns dort nieder. Ich glaube in dem Lager habe ich Rewolt Iwanowitsch Pimenow kennengelernt. Ich erklärte irgendjemandem die theosophische Kosmogonie (Lehre von der Entstehung des Weltalls - Anmerkg. d. Übers.) und benutzte das Wort "Weltenräume". Da trat ein junger Mann zu mir heran und meinte, daß ich das nicht korrekt gesagt hätte: "Es gibt nur ein Weltall, es kann nicht viele davon geben". Aber ich erwiderte, daß dies Weltenräume einer höheren Ordnung wären. Damals gingen wir los, um verschiedene Häuser zu errichten, und ich weiß noch, wie ich in einen zweistöckigen Ziegelbau zwei Öfen eingebaut habe, in der ersten und zweiten Etage. Danach machte ich mit Sanja Jemeljuschin Verputzarbeiten.

Pimenow ging zur Arbeit, aber gewöhnlich zog er sich zurück und schrieb an seinen physikalisch-mathematischen Theorien, und dann zeigter er sie mir, damit ich sie vom Standpunkt der Philosophie aus analysieren sollte. Aber seine Ideen waren derart abstrakt, daß ich ihren Kern gar nicht begriff. Damals traf ich auch mit Wolodja Perewerow zusammen, dem ich von den theosophischen Konzepten erzählte, die ihm jedoch nicht gefielen; er war der Meinung, daß aus ihnen der Geruch von Naphthalin strömte. Später vollzogen sich in ihm bemerkenswerte geistige Verändernungen, und er entschuldigte sich mir gegenüber sogar wegen des "Naphthalins". Er schenkte mir ein dickes Schreibheft von bestimmt fünfhundert Seiten, mit einer schwarzen Hülle, in das ich dann östliche (tibetanische, indische, chinesische) Texte hineinschrieb und das ich "Schwarzes Heft" nannte. Ich habe es heute noch. Auf den Umschlag schrieb Perewerow: "Alles kehrt zu seiner Quelle zurück", - und er sagte, daß es, wenn ich es vollgeschrieben hätte, wieder zu ihm zurückkehren sollte.

Ich besaß noch solch ein ähnliches Heft, da hinein schrieb ich Aphorismen (Lebensweisheiten - Anmerkg. d. Übers.) großer Leute. Zu jener Zeit hatte ich bereits 4700 dieser Sprüche gesammelt, aber während eines Etappentransportes wurde es beschlagnahmt.

Irina schrieb mir ständig, beinahe täglich bekam ich von ihr einen Brief, und es waren niemals weniger als zwei Blatt, und manchmal sogar zwölf. Ich antwortete gewöhnlich auf einem Blatt Papier. Damals warteten wir auf die Verabschiedung des neuen Strafgesetzbuches und dachten, daß man vielleicht auch uns die Haftzeit ermäßigen würde. Ich schrieb ihr, daß ich auf sie warten würde, und daß ich, falls sie meine Haftfrist verkürzten, mich mit ihr treffen wollte. Sie versprach, egal was auch kommen würde, mich wiederzusehen...

Ich weiß nicht mehr genau wann, aber etwa zu dieser Zeit lernte ich David Masur kennen. David war ein überzeugter Marxist und meine pilosophischen Interessen schienen ihm sehr "pikant" und ungewöhnlich. Wahrscheinlich hatte man ihm von meiner Freundschaft mit Wrangel erzählt, und deswegen hielt er mich offenbar für einen Zugewanderten aus der Weiß-emigration. Das vermutete ich aber erst viel später. Damals aber interessierte ich mich einfach für neue Menschen und neue Ansichten.

In jener Periode bemühte ich mich zu begreifen, was dieses "Ich" eigentlich ist. Bei allen möglichen chirurgischen Eingriffen werden dem Menschen verschiedene Organe entfernt, und dennoch hört der Mensch deswegen nicht auf, eine Persönlichkeit zu sein. Im Gehirn bleiben die unterschiedlichen Stempelabdrücke des Lebens zurück, aber nichtsdestoweniger und ungeachtet des Anwachsens von Informationen, setzt sich die menschliche Persönlichkeit ununterbrochen fort. Ich stellte mir vor, daß es in der Hirnrinde auch einen Bereich gibt, in dem alle Informationen zusammenfließen und daß es in diesem Bereich einen zentralen Kern gibt. Letzten Endes kam ich auf den gedanken, daß das "Ich" - irgendeinAtom sein müßte. Von da war es auch nicht mehr wert bis zu dem Gedanken über die Möglichkeit einer Transmigration (Abwanderung - Anmerkg. d. Übers.) dieses Atoms in andere Körper, folglich auch der Möglichkeit ihrer Umgestaltung oder Verwandlung. Daher fiel es mir im folgenden auch so leicht, die Ideen des Hinduismus anzunehmen.

Ich bestellte sehr viel Literatur aus dem Buchladen "Akademknigi", Buchprospekte gab es in den Lager-Büchereien. Anfangs bestellte ich Roja Monorondschonas "Indische Philosophie", und später das Hauptwerk von Gadchakrischnan "Die Geschichte der indischen Philosophie" in zwei Bänden. Ebenso gerieten mir "Artchaschastra" von Kautilja, "Dao de Dschin" von Lao Tse, "Dchammapada und die Gesetze Manu" sowie viele andere Bücher über den Osten in die Hände.

Zum Frühling hin kam ich in eine Lager-Abteilung, wo fast überhaupt keine Häftlinge arbeiteten. In diesem Lager machte David Masur mich mit Abraam Schifrin, ebenfalls Jude, bekannt. David sagte, daß es hier einen Menschen gäbe, der "auf der gleichen Interessenswelle arbeitete" wie ich. Abraam erzählte, daß es auf seinem letzten Krankenhaus- Lagerpunkt einen Arzt gab, einen gewissen Subtschinski, der seine Kameraden mit den theosophischen Lehren der Jelena Blawatskaja bekannt gemacht hätte, indem er ihnen deren Werk "Geheime Doktrin" zu lesen gegeben hatte. Subtschinskij war ein Weiß-Emigrant aus der Mandschurei. Er war auch der Lehrer Genja Kutschmas, der dann wiederum mich mit der theosophischen Lehrer vertraut gemacht hatte. Noch in Omsk hatte Abraam Subtschinskij einige Freunde in die geheimnisvollen Wissenschaften der Magie eingeweiht. Abraam erwähnte Felix Krasawin, Gena Tscherepow, Kolja Batistinow, Rjakuschin.

Er war im Besitz einer Übersicht zur "Kosmogonen Konzeption der Rosenkreuzer" von Hendel mit zahlreichen schematischen Darstellungen über den Aufbau und die Strukturen der Welt. Gierig nahm ich das alles in mir auf, um so mehr, als ich dafür ja schon vorbereitet war. Damals schien es mir, als hätte ich in letzter Instanz die geistige Reinheit gefunden. Abraam selbst (damals nannten ihn alle Ibrahim - offenbar aus Angst vor Antisemitismus hatte er sich als Kaukasier ausgegeben) war niemals ein Jurist gewesen. Er lebte in der Baracke zusammen mit Litauern. Die Litauer hatten unter der Baracke einen unterirdischen Gang gegraben, mit Hilfe von Blasebälgen leiteten sie Frischluft hinein, und das Erdreich schütteten sie sogar auf den Dachboden. Der unterirdische Gang war mehr als 60 m lang, sein Ausgang an die Oberfläche lag hinter der verbotenen Zone. Aber am Morgen wurde die Öffnung von den Schäferhunden entdeckt und der gesamte unterirdische Gang daraufhin zugeschüttet. Die Litauer wurden zur gerichtlichen Untersuchung gezerrt, und manch einer ist wohl auch verurteilt worden.

 

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