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P. Sokolow. Schlaglöcher

TEIL 1. KINDHEIT.

Kapitel 3 Schule

„Uns allen haben sie einmal etwas beigebracht,
wir haben alle irgendetwas gelernt...“

Die materielle Lage der Familie begann sich zum Guten zu entwickeln, wenn auch nicht für lange Zeit. „Die goldenen Berge“, die man dem Vater verheißen hatte, erwiesen sich als nicht sonderlich hoch – dafür waren sie jedoch recht abschüssig, so daß eine Umsiedlung zu den Arabern nicht stattfand. Nichtsdestoweniger trug die finanzielle Hilfe des Vaters, die sich in einem Rahmen von 300 bis 1000 Franken bewegte, wesentlich zu unserem Budget bei. Uns so lebten wir etwa ein Jahr. Zum Herbst bekam ich Scharlach. Die Wohnung wurde unter Quarantäne gestellt. Mama zog mitmeinem Bruder in die Stadt um, während ich mit dem Kindermädchen und der Großmutter zurückblieb. Die Krankheit verlief schwierig und langwierig, aber während dieser Zeit hörte ich von den beiden Alten so viele wundersame Geschichten über Wald- und Hausgeister, über Geisterbeschwörung – Dinge, mit denen sich die alten Mütterchen bei der letzten Hauswirtin beschäftigt hatten, über Gespenster, die „Wunder“ des Heiligen Johannes von Kronstadt, daß ich mir für lange Zeit den Glauben und eine unbewußte Furcht vor jeglichem Teufelswerk bewahrte. Fast täglich kam meine Mutter, um mich zu besuchen, wobei sie stets einen Haufen Kinderbüchlein mitbrachte, die mir die Großmama dann vorlas, und die ich später unter ihrer Anleitung selbständig zu lesen begann, so daß ich im Alter von sieben Jahren bereits recht gewandt zu lesen verstand. Nach Beendigung der Quarantäne zogen wir in die Stadt um, wo Mutter zunächst eine ganze erste Etage im guten Teil von Sofia gemietet hatte. Die Wohnung war riesig, so daß sie in ihr kurz darauf, mit den Rechten von Mitmietern, ein Arzt, der einen Flügel für Wohn-, Sprech- und Wartezimmer belegte, General Wojzechowskij und unser langjähriger Bekannter Pjotr Petrowitsch Schukow, der seinerzeit den Schweinekopf für uns stiebitzt hatte, nieder. Die meiste Zeit des Jahres arbeitete er als Landvermesser auf dem Feld, aber im Winter, wenn die Vermessungsdaten in Form von Plänen und Zeichnungen zu Papier gebracht werden mußten, wohnte er bei uns. Wir selbst hatten 2 oder 3 Zimmer zu unserer Verfügung. Damals wurde es Zeit, daß ich zur Schule kam. In Sofia gab es jede Menge Lehranstalten. Je nach Entwicklungsstufen waren sie in Grundschule (mit Unterricht in 4 Klassen), Progymnasium (3 Klassen) und Gymnasium ( 5 Jahre) unterteilt. All diese Lehreinrichtungen waren in verschiedenen Gebäuden untergebracht und voneinander unabhängig. Jedesmal, wenn man eine dieser Schulstufen beendet hatte, wurden Examine abgelegt, und man erhielt dann ein entsprechendes Dokument. Der Schulbesuch bis zum Progymnasium, d.h. für einen Zeitraum von 7 Jahren, war Pflicht. Gymnasien gab es entweder für Mädchen oder für Knaben. Außer dem Gymnasium gab es auch spezielle Fachschulen mit technischen, kommerziellen und geistlichen Leistungskursen sowie eine ganze Reihe Schulen, die von ausländischen Organisationen unterhalten wurden. So gab es ein amerikanisches College, eine französische Schule, an denen katholische Mönche unterrichteten, die einen Strick als Gürtel um den Leib trugen; später tauchten dann auch noch eine italienische und eine deutsche Schule auf. Unter diesen Einrichtungen befand sich auch die Schule einer gewissen Madame Kusmina, deren Schwerpunkt auf Fremdsprachen lag. Die Schule hatte seinerzeit ihren Betrieb in irgendeiner Bruchbude in Knjaschewo aufgenommen; die Mutter war mit den Pädagogen dieser Schule bekannt, als wären es enge Nachbarn. Später, als sie Madame Kusminas Schulaktivitäten auf ihrem Höhepunkt befanden, war die Schule in einer ziemlich großen Villa im Stadtzentrum untergebracht. Aufgrund ihrer alten Bekanntschaft brachte die Mutter dort zunächst Bruder Igor unter und später dann auch mich. Da ich bereits eine ganze Menge wußte – u.a. konnte ich das französische Alphabet und plauderte bereits ein paar Dinge auf Französisch, kam ich unverzüglich in die zweite Klasse. Der Unterricht wurde in französischer Sprache geführt, aber bereits in den jüngeren Klassen gab es auch Englischstunden. Den Unterricht erteilten hauptsächlich irgendwelche alten Jungfern mit altmodischen Frisuren, sowie einige merkwürdige Männer, von denen der angnehmste Monsieur Termain war. Ich will hier nicht darüber urteilen, ob er ein gescheiter Pädagoge war oder nicht, aber er war immerhin ein Spaßvogel, freundlich, sprach immer irgendwelche französischen Phrasen und – wir liebten ihn jedenfalls sehr. Da die internationalen Beziehungen in Europa vielseitig waren und einen weiten Menschenkreis einbezogen, gab es an der Schule auch genügend Schüler. Unter ihnen befanden sich auch Ausländer. In meiner Klasse lernte ein sommersprossiger, rothaariger Engländer namens Billy Williams, und in den höheren Klassen ein noch viel sommersprossigerer, ebenfalls rothaariger Amerikaner mit Namen Lincoln Woodroff. Die Schüler trugen eine ziemlich komische Uniform nach französischer Art: eine schwarze Satinbluse mit weißem Rollkragen und ein dunkelblaues Barett mit aufgenähtem Schulemblem. Die kleineren Schulkinder trugen rosafarbene Halstücher, die Schüler der mittleren Klassen grüne, die der oberen Klassen dunkelblaue. Die Uniform sah albern aus und wurde häufig zum Gegenstand neugieriger Blicke von Passanten, worüber ich eine Menge Verdruß empfand. Deswegen bat ich meine Mutter auch nach Beendigung der Grundschulzeit, mich von der „Ecole Kusmine“ zu nehmen; und so wechselten mein Bruder und ich zum Russische Gymnasium über. Es war nach einem etwas anderen Prinzip eingerichtet worden als das bulgarische: in einem Teil wurden Mädchen und Jungen von der 1. bis zur 8. Klasse unterrichtet, d.h. vom 11. bis 18. Lebensjahr (in Bulgarien nannte man die ersten 4 Klassen „Gruppen“, in den Progymnasien gab es eine 1., 2. und 3. Gruppe, und das Gymnasium umfaßte die Gruppen 4-8). Die Schüler des Russischen Gymnasiums trugen schwarze Hosen und Militärhemden sowie einen schwarzen Gürtel mit Blechschildchen, wie sie auch an bulgarischen Gymnasien gebräuchlich waren, außerdem schwarze Tücher mit weißem Rand und dem Schulemblem, genauso wie an den vorrevolutionären Gymnasien, und darauf standen die Buchstaben RGS (Russisches Gymnasium Sofia). Im Winter trugen sie schwarze Mäntel, so wie es auch an den bulgarischen Gymnasien üblich war. Ich glaube, dass der wahre Grund für unsere Versetzung ans Russische Gymnasium nicht meine Unzufriedenheit mit der Uniform war, sondern vielmehr der Wunsch meiner Mutter uns im russischen Geist zu erziehen. Mit diesem Ziel vor Augen kaufte sie eine Vielzahl Bücher. Wir hatten eine ganz hervorragende Bibliothek, die aus Reiseberichten sowie historischen und klassischen Werken bestand. Man muß dazusagen, dass es im Ausland eine Unmenge russischer Literatur gab, keine propagandagetriebene, von der es im übrigen ebenfalls mehr als genug gab, sondern qualitativ wertvolle Bücher, die auch äußerlich kunstvoll gestaltet waren. Die Bücher waren teuer.Wir waren nicht gerade verwöhnt von Zerstreuungen und Neunanschaffungen, aber für Bücher war uns das Geld nicht zu schade. Überhaupt, wenn ich so an meine Mutter zurückdenke, dann kann ich mich gar nicht genug über ihr pädagogisches Feingefühl wundern. Äußerlich verhielt sie sich so, als würde sie sich nicht in unsere Erziehung einmischen, sie schrie uns nicht an und hielt auch kein Strafpredigten. Wir wuchsen ganz selbständig auf, und trotzdem dirigierte sie uns nach und nach zu unseren Interessen, Ansichten und Geschmacksbewertungen, und ich schämte mich jedesmal, wenn ich ihr Kummer bereitete. Auf diese Weise also, indem sie uns mit einer russischen Atmosphäre umgab, bemühte sie sich,uns im Geiste der Liebe und treuen Ergebenheit gegenüber Volk und Heimat zu erziehen.

In unserer rechtlosen Lage war es unmöglich, sich die Frage nach der eigenen beruflichen Orientierung zu stellen, und überhaupt: wer von den besitzlosen Klassen konnte unter kapitalistischen Bedingungen schon Pläne für die Zukunft schmieden!? Aufgrund meiner kindlichen Naivität waren all diese Probleme für mich unzugänglich, und ich glaubte fest daran, dass mein Weg der Weg meines Vaters und meiner Großväter sein würde, der Weg eines Soldaten. Die Mutter versuchte nicht, mir die Illusionen meiner Träume auszureden, sie meinte nur, dass ich dafür fleißig lernen, alles über die Heimat wissen und dorthin zurückkehren müßte. Die Versetzung ans Russische Gymnasium btrachte mich mit der russischen Kolonie in enge Berührung. Hatten meine Kontakte zu russischen Altersgenossen früher eher einen episodenhaften Charakter in sich getragen und sich meine Begegnungen mit Erwachsenen auf einen äußerst engen Bekanntenkreis beschränkt hatten, so tauchte ich jetzt in eine völlig neue, mir unbekannte und sehr bunt gewürfelte Welt ein.

Am Gymnasium lernten zu der Zeit etwa 300 Schüler. Der Unterricht fand, wie ich bereits erwähnte, gemeinsam statt. Ein Teil der Schüler kam täglich dorthin, andere wohntenin den beiden Internaten, einem für Jungen, einem für Mädchen. Es handelte sich um Kinder, die aus anderen Städten kamen oder keine Eltern mehr hatten.Antagonismen zwischen Internatsbewohnern und Pendlern gab es nicht, allerdings waren erstgenannte organisierter, und im Falle einer Keilerei hielten sie stets treu zusammen und unterstützten sich gegenseitig.

Es herrschte eine festgelegte Subordination – die jüngeren Kinder mußten sich den älteren unterordnen, und die setzten sich immer für die Kleinen ein, wenn diese beleidigt wurden. Gegenüber den Mädchen nahm man eine gönnerhaft-verächtliche Haltung ein, aber jedweder Grobheit oder Zügellosigkeit wurde mit einem allgemeinen Tadel geahndet, ohne viel Gerede, ohne viel Kritik, sondern vielmehr durch Ergreifen „ganz entschiedener“ Maßnahmen, die solche Aktionen künftig unterbinden sollten. Die Lehrer waren, aus meiner heutigen Sicht, ausreichend qualifiziert; jeder unterrichtete nur in seinem Fach, und nur der jeweilige Klassenlehrer befaßte sich mit den inneren Problemen der Klasse. Neben dem Unterricht wurde keinerlei Veranstaltungen, Versammlungen oder Exkursionen durchgeführt. Im übrigen war das auch nirgends möglich. Die Schule war im Gebäude des bulgarischenMädchengymnasiums untergebracht, und der Unterricht wurde in der zweiten Schicht abgehalten. Die außerschulische Beschäftigung der Schüler konzentrierte sich auf schulunabhängige Kinderorganisationen. Es gab Pfadfinder, altrussische Heldengruppen, Kundschafter. Die älteren Schülerinnen und Schüler konnten in der Sportorganisation „Falken“ mitmachen – eine der internationalen Gesellschaften, welche die Turner der slawischen Länder unter sich vereinigte. Es gab auch offenkundig politische Organisationen, wie beispielsweise „General Kutepows Kompagnien“, in deren Mittelpunkt die militärische Vorbereitung mit deutlich antisowjetischer Tendenz stand, wenngleich sie auf Grundlage der Satzungen und Dienstvorschriften der Roten Armee geführt wurde.

Hier, in der ersten Klasse des Russischen Gymnasiums begegnete ich auch meinen Busenfreunden Wanka Tinin und Kot Siwers. Erstgenannter war ein schlaksiger, wenig stattlich aussehender blonder; zu jener Zeit ziemlich stiller und schüchterner Junge; er weinte häufig bei Mißerfolgen, wofür er den Spitznamen Kissel (süßsaure, mit Fruchtsaft und Mehl gekochte Speise; Anm. d. Übers.) verpaßt bekam, und machte sich die Zuneigung der Mädchen zunutzte. Er lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater, der in der Vergangenheit Dorfschullehrer gewesen war, hielt sich mühsam mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser; er trank häufig. Die Mutter stammte aus dem einfachen Volk; sie war eine kränkliche, aber stets arbeitende Frau; sie war als eine Art Reinmachefrau tätig und sorgte praktisch allein für den Lebensunterhalt der Famuilie, in der es auch noch einen jüngeren Sohn gab – Lenka, später ein ausgiebiger Faulenzer und sogenannter Kombinator. Kot Siwers war zu jener Zeit der größte und gewichtigste der Jungs in der Klasse; er geizte nicht mit Kränkungen, Kopfnüssen und ähnlichen Erscheinungsformen von Überlegenheit. Sein vater, der aus irgendeiner entfernten Linie der Grafen Siwers stammte, ähnelte einem englischen Gentleman; er war von seiner Frau geschieden und jetzt mit einer anmutigen, jungen Person verheiratet, die einen Sohn namens Jurka Gontscharow hatte, der die bulgarische Schule besuchte. Papachen Siwers beschäftigte sich mit irgendwelchen Verträgen und, wenn er auch nicht reich war, so fügte er doch immer erfolgreich alle Enden zusammen. Kot lebte mit seiner Mutter, die zu jener Zeit einen Musikanten geheiratet hatte – Djadju Schenju (Nowoschilow). Jener arbeitete als Dirgent im Nachtkabarett, verdiente offenbar nicht schlecht, aber er arbeitete auch bis zur völligen Erschöpfung. Er schlief in seinem Zimmer bis etwas zwei Uhr, aß dann zu Mittag, setzte sich in den Sessel, las die Zeitung, trank dabei in kleinen Schlucken ein Glas Wein und zog sich dann in seine nächste schlaflose Nacht zurück. Ich weiß nicht, ob es bei ihm jemals freie Tage oder Urlaub gab. Wohl kaum. Er war sehr groß, mit breiten Schultern, besaß ein feines Künstlergesicht mit äußerst kurzsichtigen Augen hinter großen Brillengläsern sowie die zarten Hände eines Geigers. Er sprach wenig, aber wenn, dann immer wie zu Erwachsenen – höflich und ernst. Deswegen verstanden sie ihn nicht als Hausvorstand, sondern eher wie einen, der irgendwie zur Familie gehört. Die übrigen Familienmitglieder waren Mutter Natalia Aleksejewna, ihre Mutter und jüngste Schwester Marina mit Töchterchen Nataschka. Übrigens, die Familie selbst lernte ich erst viel später kennen. Kot benahm sich innerhalb der Familie sehr erwachsen, seine Tante nannte er einfach Marina; in der Familie nahm er eine zentrale Stellung ein. Er lebte in einer kleinen Wohnung, deren größtes Zimmer die Eltern einnahmen; alle anderen hatten sich in dem anderen Raum eingerichtet, der deswegen bis an den Rand mit Möbeln, Kissen und ähnlichem Krimskrams vollgestellt war. Alle Frauen waren intelligent, gastfreundlich, entgegenkommend und irgendwie unauffällig, mit Ausnahme der kleinen Nataschka, mit der wir uns oft scherzhafte Wortgefechte lieferten, die häufig in Kissenschlachten und Kämpfe mit anderen Wurfgeschossen ausarteten.

Außer diesen beiden Freunden, die dauerhaft in mein Leben traten, gab es da auch noch eine Gruppe Jungs, die an unseren Streichen beteiligt waren: Walka Tukow, mit dem ich mich nicht sehr eng anfreundete, aber unsere Freundschaft brachte eine gewisse Wende in mein Leben; die beiden außergewöhnlich häßlichen Brüder Injutin, von denen der eine den Spitznamen Gorilla trug; Mischka Zybulewskij, von kleinem Wuchs, mit klaren, himmelblauen Augen, aber er war ein ganz durchtriebener Kerl und erstklassiger Zotenreißer – dabei wirkten seine spitzfindigen Tiraden noch komischer, weil er leicht stotterte. Schließlich war da noch ein sehr dunkelhäutiger, äußerst anständiger Junge – Pawel Pawlowitsch Sorokin. Die letzten Umstände brachten uns sogleich einander näher, und für eine lange Zeit drückten wir mit ihm ein- und dieselbe Schulbank. Sein Vater war Arzt in der Provinz, seine Mutter Bulgarin. Der letzte in unserem Umfeld war Rostik Pawtschinskij. Die Brüder Pawtschinskij lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen. Die junge, geschminkte und irgendwie nicht ganz normale Mutter buk Pfannkuchen, während der Vater, ebenfalls ein seltsamer Mensch, der hinkteund eine verstümmelte Hand hatte, sie verkaufte. Mitunter löste der ältere der beiden Brüder ihn ab, manchmal auch Rostik, aber nur selten. Dafür hänselten sie ihn mit dem Spitznamen Pfannkuchen, worüber er äußerst gekränkt war und die Angelegenheit häufigmit Prügeln klären wollte. Auch mich empörte das, und ich versuchte mit allen mögliche Mittel, die Kampfeslust zu beschwichtigen; ich begann ihn Powtschik zu nennen. Allmählich verdrängte diese Beziechnung den beleidigenden Gebrauch des anderen Spitznamens aus dem täglichen Leben. Allerdings hatte Mischka Zybulewskij irgendwoher erfahren, dass der Mädchenname von Rostiks Mutter Seiler lautete, und er begann daher jenen Seiler zu rufen, und was noch viel schlimmer ist: er machte im Strom seines Redetalents das Seilersche Mamachen herunter, was dann wieder häufig in Prügeleien ausartete, aus denen der kleine Mischka nicht selten mit ein paar Beulen hervorging, die wiederum an die leckere Ware von Mamachen Seiler erinnerten. Allerdings habe ich hier mit meinen Berichten von meinem schulischen Umfeld ein wenig vorgegriffen. Ich bin nicht gleich allen begegnet und konnte somit damals noch gar nicht alles über sie und ihre Familien wissen; aber ich wollte gern von vornherein ein möglichst vollständiges Bild von denen vermitteln, die auf den Seiten dieses Heftchens noch in Erscheinung treten werden. Noch vor meinem Eintritt ins Russische Gymnasium vollzogen sich im Schicksal unserer Familie gewichtige Veränderungen. In erster Linie ging die Zeit unseres nicht lange währenden und verhältnismäßig guten Gedeihens zuende. „Die große Depression“ der 1930er Jahre, die die gesamte kapitalistische Welt ergriff, rollte auch bis nach Bulgarien vor. Firmen und Unternehmen gingen zugrunde und mußten schließen. Im mehr Menschen wurden arbeitslos. Es wurden auch keine Mahlmaschinen mehr gekauft. Mit der Firma „Momelin“ ging es stillschweigend zuende, die Mutter hatte keine Arbeit mehr. Danach bekam sie bis zum Ende meines Aufenthalts in Bulgarien, nie wieder eine dauerhafte Arbeit. Die Regierung Bulgariens verabschiedete ein diskriminierendes gesetz, um seinen Staatsbürgern die ärmliche Lage zu erleichtern, indem sie den Unternehmen verbot, zum Nachteil der eigenen Landsleute Ausländer einzustellen. Allerdings hielt sich niemand besonders streng daran, und so manch einem Russen gelang es eine Arbeit zu finden, aber man bezahlte ihm viel weniger, als einem Bulgaren, der genau die gleiche Arbeit verrichtete. Wie man sieht, sind die kapitalistischen gesetzt unserer heutigen Tage uralt und ewig - sie galten schon vor Jahrzehnten und werden so lange in Kraft bleiben, bis es eine „freie Welt“ gibt. Einstweilen blieb als einzige Existenzquelle die Rente der Großmutter. Erstes Resultat der ökonomischen Krise war der Verfall unserer Kommunalka (Gemeinschaftswohnung; Anm.d. Übers.). Als erster verließ der Arzt sie, der von seinen ohnehin schon wenigen Patienten nun noch mehr eingebüßt hatte. Das Geld reichte nicht mehr für die Wohnungsmiete, und so fanden auch wir uns erneut außerhalb der Stadtgrenzen, wo die Behausungen schlechter, aber dafür auch billiger waren. Zu unserem neuen Wohnort wurde der Vorort Pawlowo, der näher an er Stadt lag als Knjaschewo. Er lag an derselben Chaussee, und parallel dazu verlief die Straßenbahnlinie. Von dort aus fuhr ich im Alter von zehn Jahren bereits selbständig zur Schule. Auf diesen Zeitabschnitt bezieht sich auch meine Bekanntschaft mit einem gewissen Dynnik, einem anglomanischen Sonderling. Er war ein Mann unbekannter Herkunft von etwa 32 Jahren (es hieß, daß er von Polen abstamme), der sorgfältig geheimhielt, wo er wohnte und welcher Tätigkeit er nachging. Ab und an hatte er ein wenig Geld in der Tasche, und dementsprechend gewann er dann eine gewisse Eleganz, aber es kam auch vor, daß er fast an den Rand des Elends geriet – dann sah man ihn jedesmal zerlumpt und hungrig herumlaufen. Im übrigen beschwerte oder beklagte er sich nie und erzählte absolut nichts von sich. Der geistige Ursprung dieser Bekanntschaft war der Wunsch der Mutter, daß wir auch weiterhin Englischunterricht erhalten sollten, denn Englisch hatten wir schon in der Kusmina-Schule bangefangen zu lernen. Mister Dinnik, wie er sich selber gern vorzustellen beliebte, sprach ganz ausgezeichnet Englisch, und er versicherte, daß seine Mutter Engländerin sei, und daß er sich sehr, gegen ein bescheidenes Entgelt, ein- bis zweimal pro Woche mit uns befassen würde. Später mußte die Mutter diese Stunden aufgrund der ganzen sich verschlechternden finanziellen Lage ablehnen, aber Mister Dynnik tauchte auch weiterhin immer wieder bei uns auf – meiner Meinung nach so manches Mal nur deswegen, um bei uns zu Mittag zu essen, und anläßlich solcher Besuche sprach er mit uns ausschließlich Englisch. Häufig unternahmen wir mit ihm Ausflüge und Spaziergänge, schwatzten dabei auf Englisch, und diese, wenn auch nicht systematischen Begegnungen, haben irgendwo in den Tiefen des Bewußtseins jenen Vorrat an englischen Wörtern und Ausdrücken abgelegt, die mir in meinem späteren Leben sehr zupaß kamen. Mister Dynnik liebte es mit seiner Mutter über Metaphysik zu diskutieren; er schleppte Büchlein über Okkultismus, Massonismus und Gott weiß was mit sich herum. Ich vernahm jenen Gesprächen mit halbem Ohr. Sie hinterließen keine Spuren in meiner Weltanschauung, bereicherten jedoch ganz erheblich meine Vorstellungen von Philosophie und Religion der Völker Indiens und anderer Länder des Ostens. Der Großmutter fühlte sich hier besser. Sie ging viel spazieren und nahm mich dazu häufig mit. Unsere gewöhnliche Marschroute führte bis zur Straßenbahnhaltestelle „Owtschaja Kupel“, wo sich das Badehaus mit heißen Quellen befand. Großmutter verwechselte diese Bezeichnung mit der nahe Leningrad gelegenen Station „Malaja Wischera“, was mich stets zum Lachen brachte. Großmutter verstand es mit allen möglichen merkwürdigen Wesen Bekanntschaften anzuknüpfen. Mal tauchte zuhause eine knochige Deutsche mit einer Ziege auf, mal eine Alte mit einerm ganzen Rudel Hundchen, und dann wieder soe ein Exemplar aus der Kunstkammer. Im weiteren Verlauf erinnere ich mich an ein ganzes Kaleidoskop von Wohnungen, aber die Reihenfolge der Umzüge in die eine oder andere Wohnung kann ich schon nicht mehr rekonstruieren. Auf jeden Fall waren die häufigen Wohnungswechsel keine Macke, und sie erklärten auch nicht die Neigung der Mutter zu diesbezüglichen Veränderungen. Es hing ganz einfach mit den ständig steigenden Wohnungsmieten und der ebenfalls sehr beständigen Tendenz der Senkung unserer Einkünfte zusammen.

Die Depression hatte ihre Auswirkungen auch auf den Vater, und wenngleich in den Kolonial- und halb kolonialen Ländern dem Weißen eher seltener die Arbeitslosigkeit drohte, so hatte dennoch auch in Syrien und im Libanon der Umfang der Arbeiten im Staatsdienst abgenommen, und genau das wirkte sich auf das Gehalt des Vaters aus. Er bekam irgendeinen nicht sonderlich beneidenswerten Posten, der mit häufigen Dienstreisen verbunden war. Auf den Breifumschlägen standen, anstelle der gewohnten Bezeichnungen „Beirut“ und „Damaskus“, irgendwelche hinterwäldlerischen Städtenamen: Homs, Hama, Tripoli. Im öfter trafen die Briefe leer ein, ohne Geldbeilage. So vergingen mehrere Jahre. Damals ging ich bereits ins Russische Gymnasium und wurde von Klasse zu Klasse weiterversetzt. Meine Schulkameraden habe ich bereits ziemlich vollständig beschrieben; deswegen werde ich nun, mehr oder weniger ausführlich, von meinen Lehrern sowie der herrschenden Atmosphäre in und außerhalb der Schule erzählen.

Während meiner ersten Schuljahre war Vater Georgij Schawelskij, ein Pope, der Schuldirektor. Damals war er die wichtigste geistliche Persönlichkeit der Russischen Armee und Flotte; er trug am Georgsband ein Kreuz aus Gold mit höchstem Feingehalt und war ein äußerst gebildeter uns kluger Mensch. Bei der Emigranten-Oberschicht war er wegen der Vielfalt und Fortschrittlichkeit der Ansichten ziemlich unbeliebt, und mit der russischen Geistlichkeit, die, wie ich bereits erwähnte, aus einem etwas beschränkten Bischof und ein paar idiotischen Fürsten bestand, lebte er ebenfalls nicht in Eintracht, sondern bezeichnete sie vielmehr als „Akrobaten vor dem Altar“; wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er nicht lange auf dem Posten eines Erziehers der jungen Generation blieb. Übrigens war der in Sofia ansässige Metropolit Stefan, ein in der Politik äußerst bewanderter Mensch, der auch großen Einfluß bei Hofe hatte und eine nicht unbedeutende Rolle beim Widerstand gegen die deutsche Politik während des Krieges speilte, Vater Georgij recht wohlgesinnt. Dieser Stefan berief Schawelskij zu sich in die Kirche zur Heiligen Woche, die nach einer Sprengung gerade erst wieder aufgebaut worden war, und ernannte ihn ferner zum Professor an der Fakultät für Theologie an der Universität Sofia. Gemeinsam mit ihm wurde auch ein gewisser Parmanin auf den Direktorenposten erhoben, der aus dem aufgelösten russischen Gymnasium in Varna kam. Er war ein hochgewachsener, dicklicher Mann, mit den farblosen Gesichtszügen eines Beamten, nachlässig gekleidet und verfügte über nicht sonderlich erlesene Manieren. So bohrte er ständig n der Nase, und das tat er auch noch mit dem großen Daumen. Bei uns unterrichtete er nicht, und ich erinnere ihn nur als obligatorisches Zubehör bei allen allgemeinschulischen Zusammenkünften oder wenn wir uns im Korridor in Reih und Glied aufstellen mußten.

In meinen ersten Schuljahren war Nina Georgiewna Kobylko unsere Klassenlehrerin, offenbar eine sehr professionelle Lehrerin. Sie besaß kein besonders auffälliges Äußeres, hatte eine altmodische Frisur undbenutzte zum besseren Sehen einen Kneifer. Sie unterrichtete Russisch. Als Lehrerin und Klassenleiterin war sie gut, gutmütig, nachsichtig gegenüber Streichen, aber streng in Bezug auf die Kenntnisse. Lateinisch wurde von einer ehemaligen Popentochter gelehrt, an deren Nachnamen ich mich nicht mehr erinnern kann. Nicht sehr groß, mit kinnlangen roten Haaren, brachte sie uns bereits in der ersten Unterrichtsstunde mit der 1. Deklination der Substantive aus der Fassung, zu denen auch Wörter mit weiblichem Geschlecht gehörten, die auf „a“ endetenb, aber auch einige Wörter männlichen Geschlechts mit derselben Endung, die einen Berug bezeichneten. Die Worte wurden im Nominativ, Genitiv und weiter bis zum Ablativ dekliniert. Sie kam stets mit eiligen Schritten, man kann fast sagen, in die Klasse gerannt, warf uns ein abgehacktes „Salvete!“ entgegen, woraufhin wir in freundlichem Chor „Salve, Domina Magistra!“ zur Antwort gaben (Guten Tag, Frau Lehrerin!). Französisch wurde von einer gewissen Gubskaja unterrichtet, die den Spitznamen „Feuerhaken“ trug. Nach dieser Charakterisierung gehe ich davon aus, daß ich ihr Äußeres nicht näher beschreiben muß. Von Zeit zu Zeit dachte sie ziemlich lange nach und erstarrte auf ihrem Pult mit einem dümmlichen Lächeln im Gesicht. Dann wurde die Klasse jedesmal ganz still, in der Hoffnung, diesen Zustand des Nirwana bis zum Klingelzeichen hinauszögern zu können. Sie hatte ein Faible für seelenrettende Moralpredigten. Einmal konnte zum Beispiel niemand ihre Frage beantworten. Nachdem sie uns dreimal einen Denkanstoß versetzt hatte, erhob sich in der letzten Bank die Hand Tinins. Das gab Anlaß zu einer langen Tirade darüber, daß starke Schüler zu faul zum Denken sind, aber der leistungsschwache Wanja Tinin – der bemüht sich um Teilnahme am Unterricht. Danach meinte sie mit enem milden Lächeln: „Na los Wanja, was wolltest du sagen...?“, woraufhin dieser zur Antwort gab: „Darf ich austreten?“. Die ganze Klasse brach in lautes Gelächter aus.

Einmal flog eine Wespe ins Klassenzimmer. Es stellte sich heraus, daß die kleine Französin schreckliche Angst vor ihr hatte, so daß die gesamte Klasse den ungebetenen Gast zu jagen begann. Wen wundert es, daß in den folgenden Unterrichtsstunden die Wespen in Scharen herumflogen. Mathematik,in jenen Jahren bescheiden Arithmetik genannt, wurde von Danil Naumowitsch Sawtschenko unterrichtet. Sein Äußeres wäre hervoragend für ein Porträt von Adelsmarschall Kisa Worobjaninow aus den „12 Stühlen“ geeignet gewesen: die dünnen Spitzen seines aschgrauen Schnurrbarts in einer Linie, seine flauschigen, ebenfalls ergrauten Haare, die kleinen Äuglein hinter den ovalen Brillengläsern in metallischer Fassung. Wenn man zu diesem kauzigen Äußeren noch den klar zum Ausdruck kommenden ukrainischen Akzent hinzugibt, dann kann man schon eine recht vollständige Vorstellung von diesem Nachfolger Euklids bekommen. Lehrbücher besaßen wir so gut wie keine; deswegen schreiebn wir ab der ersten Klasse, die heute der fünften entspricht, alles auf, darunter auch die Regeln der „Arithmetik“. Alle Lehrer beschreiben kann ich nicht, aber auf keinen Fall darf ich die schilldernde Gestalt des Lehrers für Naturwissenschaften, Aleksej Alexandrowitsch Rjasanow, auslassen, dessen Spitzname „Tarzan“ lautete. Er wußte ganz genau, daß man ihn so nannte und meinte, daß er sogar stolz darauf wäre, denn der wäre ein Freund der Natur gewesen. Dieser Tarzan also war in seiner Vergangenheit einmal Schiffsarzt gewesen; er war etwa 50 Jahre alt, von mittlerer Größe, ziemlich schwergewichtig und mit tief eingeschnittenen Gesichtszügen. Er hatte kurzgeschorene Haare. Auf seiner nicht besonders schönen Nase, die wie ein alter Schuh geformt war, thronte eine Brille mit runder Fassung. Unter der Nase ein kleines Bürstchen, das einen Schnurrbart darstellte, in der Art, wie ihn oft die englischen Sergeanten der viktorianischen Epoche trugen. Bekleidet war er mit einer alten, aber tadellos sauberen, dunkelblauen Uniform mit Stehkragen, und auf der Brust trug er ein akademisches Abzeichen – einen zweiköpfigen Adler – zusammen mit weiteren Ehrenabzeichen und Aufschriften, die diesem Gelehrtensymbol verwandt waren. Tarzan war der Schrecken der gesamten Schule. Bei seinem Anblick verlangsamten die Umherrennenden ihre Schritte, die lauthals Sprechenden – verstummten. Die Verletzter der Ordnung erhielten sogleich einen Verweis und mußten sich zur Strafe in die Ecken stellen oder wurden unter die Standuhr im Korridor geschickt. In der Klasse herrschte eine tödliche Stille. Den Unterrichtsstoff konnte er hervorragend vermitteln. Ich erinnere mich nicht daran, daß ich bei ihm jemals das Lehrbuch oder meine eigenen Aufzeichnungen aufgeschlagen habe, aber ich weiß bis heute noch ziemlich genau, was wir damals durchgenommen haben, bis hin zu den Anteridien und Archegonien (die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgande von Farngewächsen; Anm. d. Übers.). Die Schulbücher, die wir benutzten, entnahmen wir der Schulbibliothek. Es handelte sich vorwiegend um vorrevolutionäre Ausgaben. Gelegentlich verwendeten wir auch bulgarische, aber die wichtigste Grundlage bildetenn unsere eigenen Aufzeichnungen, die wir während des Unterrichts machten. Wie ich bereits erwähnte, fand in der Schule ausschließlich Unterrichtarbeit statt. Für außerschulische Aktivitäten gab es Kinderorganisationen. Einen von ihnen waren die Scouts. Diese Organisation hatte in England, auf Initiative des kolonialen Haudegens – Oberst Baden Powell, ihren Ursprung genommen und war bald darauf schon in der ganzen Welt verbreitet. Die Scouts, das heißt übersetzt „Pfadfinder“, verfügten über einen ganz bestimmten Moralkodex, sie trieben Sport, kümmerten sich um die Natur. Sie trugen Uniformen, hatten ihre ureigenen Symbole und Rituale, die teilweise aus Indianer-Romanen entlehnt waren. Die Pfadfinder-Organisation bestand bis zur Revolution auch in Rußland; nach der Revolution übernahm die Pionier-Organisation vieles von den Pfadfindern, vor allem im Hinblick auf Strukturen, Rituale und so weiter. Kot Siewers war es, der mich mit in die Scout-Organisation hineinzog, dessen Verwandter, Onkelchen Kostja Alesandrowitsch, früher einmal an ihrer Spitze gestanden hatte. Die Scouts waren in Boy-Scouts und Girl-Scouts unterteilt und befanden sich jeweils auch in getrennten Riegen. Eine Riege bestand aus drei Grüppchen, mit eigenen Fahnen, auf denen „ihr“ Tieremblem abgebildet war. Bei uns gab es „Adler“, „Biber“ und „Fuchs“ Die Scouts trugen Schutzhemden, die sie in die Hosenhineinsteckten, sowie ein dreieckiges Halstuch, ähnlich den Pioniertüchern, nur war es doppelt gefaltet. Bei den Kleinsten, den „Bärchen“ war es von grüner Farbe, bei uns „Wölflingen“ – orange, und bei den älteren Scoutmeistern, Burschen oder Mädel zwischen 16 und 18 Jahren - dunkelblau. Über der Schulter hing eine Art Achselband, an dem eine Pfeife hing. Auf der linken Hemdentasche bafand sich ein Abzeichen: eine Lilie, wie sie auch auf dem Wappen der französischen Könige zu sehen ist, das Symbol geistiger Reinheit, und darauf die Abbildung Georgs des Siegreichen, wie er den Drachen bezwingt, ein Symbol für den aktiven Kampf gegen das Böse. Auch auf der Schnalle des Gürtels war diese Lilienabbildung zu sehen, an den es erlaubt war ein Messer zu hängen, das wie ein Jagdmesser aussah, das zusammen mit anderen Gegenständen an die Scouts ausgegeben wurde. Als Kopfbedeckung wurden in den meisten Ländern breitkrempige Hüte getragen, wie sie damals in der englischen und amerikanischen Armee getragen wurden; wir dagegen trugen Pilotenmützen. Unser Ehrenkodex war in den Scout-Gesetzen verankert, die man bei Eintritt in die Organisation auswendig können mußte. Zudem gab es eine ganze Reihe von „Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuchen“, welche die Gesetze in kleinen Lebenssituationen noch ergänzten. Beispielsweise: „Der Scout – ein Freund der Tiere“ oder „Ein Scout trinkt und raucht nicht“. Natürlich fanden sich hier und da Witzbolde, die die Parolen abwandelten: „Ein Scout raucht Tabak und ---- verjagt den Hund“, aber im großen und ganzen waren diese ganzen Verhaltensregeln durch und durch ethischer Natur, und ich erinnere mich auch noch bis heute an jedes einzelne Wort der Scout-Hymne, denen ich nach Kräften Folge zu leisten bemüht war:

Sei bereit, Pfadfinder, zur redlichen Aufgabe,
Ein schwerer Weg liegt vor dir,
Schau dem Unbekannten mutig ins Angesicht,
Munter mit Körper, Gedanken und Seele.

Schande über den, der teilnahmslos zusieht,
Und gleichgültig dem Stöhnen des Bruders lauscht.
Fürchte weder Arbeit noch Gefahr.
Glaub fest daran, daß du jung und stark bist.

Hilf dem Kranken und Unglücklichen,
Eile zum Sterbenden,
Sei bereit für alles Große und Schöne!
Und vor allem: sei immer bereit!

Das wichtigste in unserer Pfadfinderpraxis war wohl die Selbständigkeit. Im großen und ganzen kannten wir keine höheren Instanzen. Jegliche Aktivität lag in den einzelnen Gruppen, die vom Scoutmeister angeführt wurden, selbst. Einer von ihnen war ein gewisser Ljulja (Ilja) Schut. Er ging in die 7. Klasse des Gymnasiums und stellte für uns eine unbestreitbare Autorität dar. Die Einheit, die in drei Gruppen aufgeteilt war, bestand aus Jungs im Alter von 12-13 Jahren, die aus unterschiedlichen Schulen und Klassen kamen. In jeder Gruppe gab es einen Pionierleiter sowie 6-7 gewöhnliche Gruppenmitglieder. Die Einheit versammelte sich an den Sonntagen. Sie erkundeten die Topographie, lernten das Morse-Alphabet, Notsignale u.ä. mehr. Im Sommer gingen sie gewöhnlich in den Wald und machten Bewegungsspiele oder organisierten Wettstreite bei der Nachrichtenübermittlung mit Hilfe von Flaggen. Zum Schluß des Treffens stellte der Sclutmeister eine Bewertung in Form von Pluspunkten auf. Man konnte sich zwischen einem und drei solcher Pluspunkte erarbeiten. Aber es kam auch vor, daß Minuspunkte vergeben wurden, zum Beispiel, wenn einer Schimpfwörter benutzt hatte oder sonst irgendwelche verwerflichen Taten begangen hatte. Die Miunsberwertung hob die Plusbewertung auf. Wer 50 Pluspunkte gesammelt hatte, besaß das Recht, auf seinem Ärmel ein „Winkelchen“ zu tragen. Im großen und ganzen aber fand in der Einheit ein Wettbewerb um das Recht auf den Erhalt der Fahne mit dem Ehrenabzeichen eines Wolfes statt. Für die Jungs in diesem Alter war das alles interessant und aufregend, und wir waren aufrichtig bemüht, uns unsere Plusse“ zu erarbeiten, wenngleich wir überhaupt nicht besser waren, als die anderen Jungs aller Zeiten und Völker. Aber auch diese Idylle ging ihrem Ende zu. Seinerzeit stand, wie ich bereits erwähnte, an der Spitze der Scout-Organisation ei gewisser Aleksandrowitsch, der Ehemann von Kot Siwers’ Tantchen Marina. Persönlich kannte ich ihn nicht, hatte jedoch viel Gutes von ihm gehört. Und einmal, während ich auf der Arbeit war, nahm er die Flinte und erschoß sich. Er hinterließ keine Nachricht, und über die Gründe für seinen Selbsmord kursierten verschiedene Gerüchte – bis hin zu der Mutmaßung, daß er wohl staatliche Gelder veruntreut habe. So oder so – es kam der Tag seiner Beerdigung. Einige der älteren Scouts machten den Vorschlag, eine Scout-Delegation zu entsenden; alle sollten ihre Uniform und Regalien tragen. Aber der jetzige Leiter, ein gewisser Konkow, lehnte das glattweg ab, indem er erklärte, daß er unter keinen Umständen eine Ehrenwache für einen“Veruntreuer und Selbstmörder“ zulassen würde. Alle waren empört, um so mehr, als die Ermittlungsergebnisse die Variante hinsichtlich der Unterschlagung überhaupt nicht bestätigten, und um Konkow eins auszuwischen gingen wir, das heißt die meisten aus der Einheit, trotzdem zum Begräbnis, in Uniform und mit unseren Fähnchen, und hielten am Sarg die Totenwache. Kurze Zeit später kam das Donnerwetter; der Befehl, uns aus den Reihen der Scouts auszuschließen. Allerdings wurde nach einiger Zeit denjenigen, die Reue zeigten, gestattet wieder zurückzukehren. Einige taten dies auch und kehrten wieder zu den Pfadfindern zurück, aber ich wollte meine Seele nicht verbiegen und mich erniedrigen und beschloß, ein freier Mensch zu bleiben. Im übrigen war ich damals schon fast erwachsen, mich ergriffen langsam die Interessen des großen Lebens, während die von der Realität weit entfernten Scout-Ideen mich nicht mehr zufriedenstellten. Außer den Pfadfindern gab es noch diverse Jugendorganisationen – die „Bogatyry“ (Recken aus mittelalterlichen russischen Sagen; Anm. d. Übers.), die „Kundschafter“, die allslawische Sport-Organisation Sokoly (Falken; Anm. d. Übers.). Für Sport, genauer gesagt für Gymnastik, konnte ich mich nicht begeistern, und von den Recken und anderen Kraftprotzen ging ein stark fauliger Geruch von Weißgardismus aus, und so entfernte ich mich ein für alle mal aus den organisierten Emigrantenkreisen.


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