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P. Sokolow. Schlaglöcher

TEIL 1. KINDHEIT.

Kapitel 4 AUF DEM GRUND DES BODENS.

„Wir sinken auf Grund. Wir sind guten Mutes“.
/Aus dem Funkspruch des Kommandeurs eines
untergehenden U-Boots an das ZK der WKP (B) /

Übrigens, bis zu dem Zeitpunkt, wo alles geschah, vergingen nicht wenige Jahre, und es war bis dahin eine Menge Wasser den Berg hinabgelaufen. So manche Veränderung hatte sich in meinem Leben und dem unserer Familie vollzogen. Wie aus dem vorhergehenden Kapitel bekannt, ließen wir uns in den 1930er Jahren erneut außerhalb Sofias nieder, wobei wir von der Rente der Großmutter und den gelegentlichen Hinzuverdiensten meiner Mutter, die sie durch Nachhilfestunden bei wohlhabenden Nichtsnutzen bekam, die sie, wenn auch nicht sehr häufig, aber doch ab und zu in jener Zeit gab. Es näherte sich wieder einmal der Jahrestag der Befreiung Bulgariens von den Türken. Über Regierungskreise wurde uns ein Maler geschickt, der unter anderem in mehreren Sitzungen ein Portät der Großmutter anfertigte, das später einen Platz im Museum fand und möglicherweise sogar heute noch dort hängt. Danach wurden die noch lebenden Veteranen zu einem großen Mittagessen eingeladen, bei dem man ihnen auch Orden verlieh. Die Großmama war schon alt und schwach, so daß ich sie zu der Zeremonie begleiten mußte. Beim Essen saß ich da und fühlte mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut; ich hätte gern eine Menge appetitlich aussehender und mir nicht bekannter Gerichte probiert, hielt mich jedoch zurück. Die Fahrt, die Reden und Trinksprüche hatten die Großmutter sehr ermüdet, und so wollte so schnell wie möglich nach Hause, aber ich konnte sie dennoch dazu überreden, kein Taxi zu nehmen, sondern mit der Straßenbahn zu fahren, und ich sorgte auch dafür, daß sie während der Fahrt den Orden nicht abnahm. Und so fihren wir dahin – Großmama unter der Last ihres Ruhmes, und ich – in ihrem Glanz und Gloria badend. Übrigens war dies der allerletzte Triumph. Bald schon konnte Großmutter nicht mehr aufstehen und verschied in aller Stille. Das Leichenbegräbnis fand mit allen Ehren, auf Staatskosten, statt, und es wurde ein wunderschöner Grabstein aus schwarzem Marmor aufgestellt. Aber das Tote den Toten und das Lebendige den Lebenden. Großmutters Tod erschütterte endgültig unsere Finanzen, und es begann ein schneller sozialer Abstieg bis auf den Grund. Im Schicksal unserer Familie spiegelte sich die Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Welt wieder. Sollen doch ihre Advokaten, unter ihnen auch die sowjetischen „Sachverständigen“, bestätigen, daß ordentliche Leute auch unter den Bedingungen des Kapitalismus wunderbar leben können, und allenfalls Faulenzer und „Penner“ ohne Besitz und Arbeit dastehen. Aber das alles ist eine Lüge! 90% der „Penner“ aus der „freien Welt“ haben ihren Weg als „ordentliche Menschen“ begonnen; dann mangelte es dort irgendwann an Arbeit, auf der ergebnislosen Suche nach einer anderen Tätigkeit fraßen sie alles auf, was in den Jahren der Arbeit angehäuft worden war, und schließlich und endlich waren sie so heruntergekommen, daß sie mit Müh und Not ein Nachtlager und eine kostenlose Schüssel voll Suppe fanden. All das habe ich mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Zu jener Zeit lebten wir in einer Wohnung in einem nicht besonders großen zweigeschossigen Haus des Armeniers Minasjanow. Ich muß dazusagen, daß es sich bei den bulgarischen Armeniern hauptsächlich um Flüchtlinge aus dem türkischen Teil Armeniens handelt, wo sie Verfolgungen, Pogromen und der Vernichtung ausgesetzt waren. Auch sie besaßen Nansen-Pässe und standen aufgrund ihres Schicksals den russischen Emigranten nahe. Mutter hatte unter ihnen eine ganze Reihe guter Bekannter. Im Unterschied zu den Russen, ergaben sich die Armenier nicht „aus Kummer“ dem Alkohol, sondern wurden, ganz im Gegenteil, findig und geschäftstüchtig; und sie lebten auch gar nicht schlecht, denn sie handelten mit Kaffee und Tee, befaßten sich mit Währungsoperationen usw.

Unser Zimmerwirt hatte eine Tochter, die seinerzeit nach Amerika abgereist war. Sie und ihr Mann unterhielten auch ein kleines Business, das teilweise mit Parfümerie einherging.. Diese Tochter kam nun also an, während wir bei ihren Eltern wohnten, um die Ihren zu besuchen. Sie trug den amerikanischen Vornamen Lilian, war sehr schön, liebenswert und freundlich. Sie beschenkte mit allen möglichen Nippsachen und Kleinigkeiten nicht nur ihre Eltern, sondern auch uns und traf sich häufig mit der Mutter. Ab und an mußte ich dabei als Dolmetscher fungieren, denn Lilian sprach nur sehr schlecht Französisch und meine Mutter noch viel schlechter Englisch. Da kamen mir die Unterrichtsstunden von Mister Dynnik sehr zustatten. Im übrigen war ich eher ein kläglicher Übersetzer, denn ich besaß lediglich einen spärlichen Vorrat an Worten aus dem Bereich der Parfümerie und der weiblichen Toilettenartikel, und für gewöhnlich saß ich wie auf Kohlen und verging beinahe vor meiner eigenen Ungeschicklichkeit und den schwarzen Augen der östlichen Schönheit. Kurze Zeit später reiste sie wieder ab. Die alten Leute, die sie ein Stück Weges begleiteten, vergossen ganze Tränenströme und eimerweise Wasser, was nach armenischer Sitte die Garantie für eine glückliche Reise bot. Beim Abschied bat die Mutter Lilian für uns irgendein russisches Druckerzeugnis zu abonnieren, denn in Europa gab es für uns, die wir schon die Schwelle zum Jugendalter überschritten hatten, keine geeigneten russischen Zeitschriften. Es verstand sich von selbst, daß Luilian weder von Politik noch von Literatur eine Ahnung hatte, so daß sie die erstbeste Zeitschrift abonnierte, die man ihr anbot. Wie groß war unsere Verwunderung, genauer gesagt unser Schock, als der Postbote uns eines schönen Tages eine Ausgabe der Zeitschrift „Faschist“ brachte. Oh, mein Gott! Was war das für eine chaotische Hetzliteratur im üblen Straßen- und Spelunkenjargon. Andererseits halfen mir diese Zeitschriften, die wir nun ein ganzes Jahr lang regelmäßig erhielten, dabei, mir Klarheit über das abscheulich-gemeine Wesen des Faschismus zu verschaffen, und ganz besonders des russischen. Dieser ganzen schmutzigen Küche stand ein gewisser „Führer“ – der Kampfgenosse Wonsjazkij, ein noch junger Mann, voran, der eine, wenn auch nicht verbrecherische, so doch zumindest äußerst abenteuerliche Vergangenheit besaß, der eine hochbetagte amerikanische Millionärin „geehelicht“ hatte, und beschlossen hatte, sich von ihrem Geld den Heiligenschein eines „Führers“ zuzulegen. Aus den Seiten des „Faschisten“ floßen maßlose Lügen über duie Sowjetunion, ergossen sich ganze Ströme von Schmutz und Dreck über alles Sowjetische, und gleichzeitig über alle „verfaulten Liberalen“ aus der russischen Emigration, die nicht die Ansichten der streitbaren Flegeleien des Kampfgefährten Wonsjazkij teilten. Nicht wenige Schimpfworte ergossen sich auch über die Häupter der Konkurrenten aus dem Fernen Osten, wo unter den Fittichen der Japaner, die bereits die Mandschurei erobert hatten, sich noch ein weiterer „Führer“ des russischen Faschismus aus dem Ei pickte (wenn mich mein gedächtnis nicht im Stich läßt, hieß er Radsiewskij), der seinerseits von einem „weißen Pferd“ träumte und einstweilen mit Mutterflüchen den Mitstreiter Wonsjazkij beschimpfte.

Es war wohl auch der „Faschist“, der mich zuallererst dazu zwang, nach allen Seiten Umschau zu halten, über Fragen der Politik nachzudenken und ganz genau zu definieren, in welchem bunt zusammengewürfelten und verworrenen Gebilden von Ideen, Parteien und Losungen mein Platz in dieser Welt war. Es gab auch andere Wege der Erkenntnis der Lebenswahrheit. An den Anblick des Platzes, an dem Minasjanows Haus stand, hatten die Reichen von Sofia sich gewöhnt, und auf dem unbebauten Platz, auf dem wir immer frei herumliefen, begannen nun Villen wie Pilze aus dem Boden zu schießen – eine luxuriöser als die andere. Zum Neubaugelände wurden Ziegelsteine, Sand und Schotter transportiert, alles mit Pferden. Ich hatte schon von klein auf Pferde immer sehr gemocht, stets die Bekanntschaft irgendwelcher Pferdekutscher gesucht; und in meiner Freizeit, das heißt im Sommer, half ich Baumaterial zu befördern und abzuladen. Auf diese Weise erfuhr ich, daß diese Datscha 300.000 wert vor, und die dort drüben – 500.000,, und die größte, die einem gewissen Anew gehörte, sogar über drei Millionen. Ich wunderte mich, woher sie nur das Geld hatten!? Warum kann einer ein Haus von mehreren Millionen bauen, während andere 12-14 Stunden lang Sand und Ziegelsteine herumfahren, sich und die Pferde bis zur Erschöpfung verausgaben, aber dafür nur ein paar armselige Groschen erhalten; und solche wie wir – die hatten schon ganz und gar nicht ihr Auskommen. Das, was ich aus den Kutschern herausbekam, war äußerst bedeutsam, wenn auch nicht wissenschaftlich, aber so oder so begann ich feindselig auf die glänzenden Limousinen herabzublicken, denen üppige Madonnen mit aufgetaktelten Kindern und arroganten Gentlemen mit getönten Brillen entstiegen. Auch in den Lokalzeitungen fand ich keine Antwort auf die entstandenen Fragen. Zu jener Zeit herrschte in Bulgarien noch die „Demokratie“. Es wurden mehr als ein Dutzend Zeitungen verschiedener Richtungen herausgegeben. Eine schimpfte auf die andere. Das, was die eine Zeitung kritisierte, wurde von der anderen emporgehoben. Eine Zeitung vermeldete in Großbuchstaben den Sieg der Chinesen, die 5000 Japaner vernichtet, die andere den Sieg der Japaner, nachdem diese 10000 Chinesen niedergemetzelt hatten. Unter diesen ganzen Wortgeplänkeln und leerem Gerede waren noch die kommunistischen Losungen am verständlichsten und auffälligsten, die von Zeit zu Zeit an den Häuserwänden oder am Zaun des Hippodroms auftauchten, und an denen ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule mit der Straßenbahn vorbeifuhr. Die kommunistische Partei befand sich zur Zeit Zankos im tiefsten Untergrund, aber diese Losungen, die mit ungelenken Buchstaben in leuchtenden Ölfarben geschrieben waren, unvereinbar mit dem glattgeleckten, wohlgeordneten Stadtcharakter, stachen einem besonders deutlich in die Augen, erregten die Seele mit Besorgnis, als ob sie aus einer anderen, einer unbekannten, geheimnisvollen und deswegen erschreckenden Welt kämen – aber immerhin einer Welt, die sich mit dem Luxus der Reichen und dem gleichzeitig tiefen Elend der Armen nicht abfinden wollte. Und obwohl alle Zeitungen, unabhängig von ihrem Titel und der Partei, nach allen Regeln der Kunst auf die Kommunisten schimpften und sich schon über die nächste aufgedeckte „Kommunistenverschwörung“ freuten, daß ihnen förmlich die Luft wegblieb, ertappte ich mich immer häufiger bei dem Gedanken, daß die soziale Gerechtigkeit sich gerade hinter diesen ungelenken Zeilen, mit den schlampig gezeichneten Symbolen von Hammer und Sichel an den Wänden und Zäunen verbarg, und nicht in den zuckersüßen Versprechungen der bourgoisen Parteien, die den Wahlen vorangingen und die auf ganz gediegenem Papier, geschmückt mit den wohlanständige Gesichtern ihrer Kandidaten, abgedruckt waren. Zu dieser Zeit vollzog sich in unserem Leben erneut eine jähe Wende. Petr Petrowitsch Schukow, den ich bereits mehrfach erwähnte, ein Arbeitskollege des Vaters, der für uns in den Tagen meiner Kindheit den Schweinekopf gestohlen hatte, besaß damals ein gewisses Vermögen, welches er nach und nach angehäuft hatte. Er arbeitete zusammen mit einem Russen – Talakow – und noch zwei Bulgaren – den Brüdern Abadschiejew - als Landvermesser. Man muß dazusagen, daß es in Bukgarien keine Großgrundbesitzer gab; der gesamte Grund und Boden gehörte vielmehr den Bauern, wurde nach dem Erbrecht aufgeteilt, als Mitgift weitergegeben, und schließlich waren die Besitzungen dermaßen zerteilt und zersplittert, daß einige Grundstücke sich auf 20-30 Hundertstel beliefen. In der Regel besaßen die Bauern mehrere solcher Grundstücke, die häufig weit voneinander entfernt lagen. Die Regierung mußte zuerst eine Bodenreform durchführen – alle Grundstücke zusammenlegen, was die Arbeit des Landmannes erheblich erleichtern und sie produktiver machen, die Ernteerträge erhöhen würde, und dann die Voraussetzungen für eine maschinelle Bodenbearbeitung schaffen, eine Entwicklung, die sich in Bulgarien noch in einem sehr rudimentären Zustand befand. Dies hing mit einer Vielzahl von Problemen zusammen, aber davon soll hier nicht die Rede sein; das Wesen liegt vielmehr darin, daß die Regierung zahlreiche Verträge zur Durchführung topographischer Arbeiten und zur Ausarbeitung von Plänen für diese sogenannte Flurbereinigung abschloß. Es gab auch andere Landvermessungsarbeiten in puncto Bewässerung usw. Solche Verträge wurden auch auf Versteigerungen geschlossen, und zwar mit ebenso kleinen Unternehmern wie die Abadschiejews und Co. Sie stellten zusätzliches Personal sowie Arbeiter ein, arbeiteten selbst von früh bis spät, wie Papa Karlo, aber dadurch verdienten sie auch ausgezeichnet. Während einer dieser Arbeiten am Rande der Stadt Ruse, an der Donau, traf sich die erwähnte „Firma“ mit einem gewissen Geschäftemacher, der seinerzeit in einer Makkaroni-Fabrik in Ruse tätig gewesen war und das ganze Land mit Makkaroni-Produkten versorgt hatte. Diese Persönlichkeit namens Schetschko (an den Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern) zankte sich mit seinen Kompagnons und stieg aus dem Spiel aus. Als er sich mit den Abadschijews traf malte er das schillernde Bild einer erfolgreichen Entwicklung, die eintreten würde, sofern sie in Sofia einen Makkaroni-Betrieb eröffneten. Er malte sich bereits die Eroberung des Marktes aus, den Zusammenbruch der Fabrik in Ruse und die Besteigung des kapitalistischen Olymp der neuen Industriefirma „Abadschijew, Schukow & Co“. Die leichtgläubigen Businessmen-Kandidaten spitzten die Ohren und händigten dem neu aufgetauchten Bender auf einem Tellerchen mit goldenem Rändchen all ihre Ersparnisse aus. Bender-Schetschko machte ein leerstehendes Gebäude ausfindig, erwarb die erforderliche Ausstattung, und die „ Firma“ machte sich an den Ausstoß der ersten Produktionscharge. Sie wurde in Schachteln verpackt, auf denen ein wohlgenährter Elefant, beladen mit Kisten voller Makkaroni, abgebildet war, und auf denen in weißer Schrift „MAKARONI ITALIANO“ geschrieben stand, und zwar sowohl in slawischen als auch in lateinischen Buchstaben. In etwas kleinerer Schrift wurde die nicht ganz einfache Methode des Kochens des Schachtelinhalts dargelegt. Diese Rezepte gab es ebenfalls in bulgarischer und „italienischer“ Sprache – meiner Meinung nach im Stil „schnell ein paar Millionen machen und aufs Gesetz pfeifen“. An der Fabrik gab es auch Wohnunterkünfte. Da wir zu jener Zeit dauerhaft auf dem Trockenen saßen, schlug Peter Petrowitsch der Mutter vor, in die Fabrik umzuziehen, wo eine kostenlose Wohnung sowie Makkaroni in Hülle und Fülle gewährt wurden., was für uns auch nicht weniger bedeutsam war. Hier lichtete sich unsere Familie noch mehr. Unsere Njanja „ehelichte“ einen bereiuts betagten Kuban-Kosaken namens Tschernjaga. Er war zugleich Veteran des befreiungskrieges und bekam eine Pension. Er war etwa 80 Jahre alt, benötigte Pflege, und am Horizont schimmerte eine gewisse Hoffnung, daß nach seinem Tode, der wohl nicht mehr in allzu weiter Ferne lag, Njanja seine, wenn auch gekürzte, so doch immer noch ausgezeichnete Rente, als Witwe eines Kriegsveteranen, erhalten würde. Bereits ein wenig vorweggreifend erwähne ich, daß diese Kombination nicht stattfand: Tschernjaga baute Mist, erwies sich als schrecklich gierig, so daß er ein Hungerdasein führte, zu dem er auch die Njanka verurteilte, so daß diese schon bald darauf sowohl auf die Hochzeitspläne, als auch auf die Aussicht auf Rente verzichtete; allerdings blieb sie in Knjaschewo wohnen, denn sie bekam Unterstützung vom Russischen Haus der Invaliden (darüber später mehr) und gewann sich ein wenig Geld mit Wäschewaschen hinzu. Mit meinem Umzug in die Makkaronifabrik stieß ich auch auf die Arbeits- und Lebensbedingungen des bulgarischen Proletariats. Ich will hier nicht das düstere und freudlose Äußere der Arbeitsbereiche beschreiben, das in scharfem Kontrast mit den fröhlichen Dorflandschaften stand, von denen ich in Knjaschewo umgeben gewesen war. Das Wesentliche lag in den Menschen selbst. Die ganze Produktionstechnologie der Makkaroniherstellung bestand im Vermischen eines äußerst zähen Teiges, der durch verschiedene Arten und Größen von Sieben (Förmchen) gegeben werden mußte, und dem Trocknen des fertigen Produktes auf mit Papier bespannten Rahmen an Stellagen, die im zweiten Geschoß standen. Nach dem vollständigen Trocknen der Makkaroni oder Fadennudeln wurden diese in die bereits beschriebenen Schachteln für den Einzelhandelsverkauf verpackt, oder auch in Holzkästchen für Großverbraucher wie Kantinen, Armee, usw. Der Produktionsprozeß verlief hauptsächlich mittels Maschinen, während die Einlagerung zum Trocknen und das Verpacken der Ware per Hand erledigt wurden. In der Produktion waren in erster Linie junge Mädchen tätig, es gab dort nur einen einzigen Mann, der die Presse bediente, aber gleichzeitig auch als Schlosser, Elektriker und „Meister für alles“ fungierte. Der Arbeitstag umfaßte wohl nicht mehr als 8 Stunden, aber es war schwierig überhaupt zu arbeiten: in allen Räumen war es heiß, und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Die Maschinen dröhnten, Antriebsriemen schepperten. Für diese Arbeit erhielten die Mädchen 20-25 Leu pro Tag, die Männer 40 Leu. Zwar war das Leben in Bulgarien im allgemeinen, ganz besonders aber im Hinblick auf Lebensmittel, billig, aber wenn man davon ausgeht, daß ein Kilogramm Brot 5 Leu kostete und ein Anzug der mittleren Preislage 1500 Leu, dann kann man verstehen, daß man sich bei einem derart niedrigen Lohn eben gerade nur am Leben halten konnte und nicht verhungerte. In dieser Fabrik beschritt auch ich erstmalig meinen Weg als Werktätiger. In meiner Freizeit arbeitete ich in der Produktion, aber hauptsächlich abends wog und verpackte ich Makkaroni oder beklebte die Schachteln mit Etiketten, auf denen der dicke Elefant abgebildet war. Das brachte einen miserablen Hinzuverdienst, aber er garantierte meine bescheidenen Bedürfnisse und wanderte gelegentlich auch ins Familienbudget. Mitunter ging ich sonntags über Felder und Waldlichtungen nach Knjaschewo zur Njanka, schöpfte dabei reichlich frische Luft und genoß den hellen Sonnenschein, denn ich im Alltag in der dunstverhangenen Arbeitersiedlung so gut wie nie sah. Der Makkaroni-Boom brach ein. Ob es Schetschko war, der krumme Sachen gemacht hatte, oder ob der kleine, schwache Fabrikbetrieb mit den mächtigeren, besser laufenden Produktionsbetrieben nicht mithalten konnte, weiß ich nicht; jedenfalls gaben die „Makkaroni Italiano“ ihren Geist auf, wobei sie ihre Produzenten mit gescheiterten Hoffnungen und uns buchstäblich mit unseren kümmerlichen Siebensachen und einer Schachtel Makkaroni, die man uns als „Entlassungsgeld“ vermacht hatte, auf der Straße zurückließen.

Zur Hilfe kam Mutters ehemaliger Chef, Doktor Klein, bei dem unser Fedot Sergejew weiterarbeitete; „Serjoscha“, die Ordinanz des Vaters, Klein als Advokat, verwaltete als Treuhänder den Besitz irgendwelcher verstorbener Österreicher, die in Knjaschewo ein Stückchen Land mit zwei Häuschen besessen hatten. Das eine war aus Ziegelsteinen erbaut und im allgemeinen zum Bewohnen geeignet, das andere war – eine fast vollständig in sich zusammengefallene Lehmhütte. Und diese Bruchbude gab man uns nun als Unterkunft, ohne dafür Miete zu kassieren. Sie verfügte über zwei Zimmer, von denen das eine in geradem Winkel an das eigentliche Hauptgebäude angebaut worden war, und eine Küche. Die Wände bestanden aus mit Lehm bestrichenen und anschließend geweißten Brettern, die Decke aus unverputzten Brettern, ebenfalls geweißt. Die weiße Farbe hielt sich auf dem Untergrund nicht, ständig bröckelten kleine Teilchen davon ab und rieselten zu Boden. Der Eingang befand sich direkt an der Straße; es gab keinen Vorbau, nicht einmal einen Windfang. Das Dach war mit sogenannten türkischen Ziegeln gedeckt, die wie eine Reihe übereinandergelegter kleiner Rinnen aussahen. Sie waren mit Moos bedeckt; das Dach war undicht, es tropfte hindurch, und wenn es regnete, schafften wir es in der Regel nicht rechtzeitig Eimer oder andere Behältnisse darunterzustellen. Auf dem Dachboden huschten die Mäuse herum. Die Hütte stand ganz in der Nähe jenes Wladajsker Flüßchens, mit dem ich meine Erzählung begonnen habe. An diesem Ort hatte das Flüßchen bereits die Abwässer zahlreicher kleiner Färbereien und Fabriken in seinem Flußbett aufgenommen, und seine stürmischen Wasser schwemmten völlig unerwartete Farb- und Geruchskombinatinen heran. Hinter dem Haus befand sich auf dem mit Unkraut und Holunder überwucherten Gelände auch ein Weidenbaum. Von der Vorderseite bis hin zu der in ca. 20 m Entfernung vorbeiführenden Chaussee, gab es einen alten verwahrlosten Garten, der jedoch noch Früchte trug. Darin standen 5-6 große Kirschbäume, ein alter Birnbaum, einige Pflaumenbäume und einen riesigen Nußbaum, der mit seiner Krone fast den gesamten Raum zwischen den Häusern wie ein Dach schützte. Im Hintergrund dieser malerischen Landschaft überschritt ich die Schwelle der Kindheit und trat in die sorgenvolle, unruhige, gedankenverlorene Zeit der Jugend, mit all ihren unüberlegten und abenteuerlichen Schritten, ein.


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