„Wenn deine Vernunft mit dem Herzen in Widerspruch gerät – dann höre auf dein Herz. Die Vernunft ist in der Lage, mit dem Gewissen einen Kompromiß einzugehen, das Herz ist dazu niemals fähig“. Wann begann die Jugend? Welche Kriterien legen die Grenze zwischen Kindheit und Jugend fest? Ich persönlich bin der Ansicht, dass sich dies genau dann vollzieht, wenn du beginnst, dich selber nicht mehr als Zuschauer der Ereignisse, die in der Welt passieren, siehst, sondern als jemand, der daran mitwirkt, und du dich bemühst, deinen Platz auf dieser Bühne zu finden, die sich Leben nennt. Den allgemeinen Hintergrund, vor dem sich die weiteren Ereignisse entwickelten, habe ich in groben Zügen bereits beschrieben. Nach dem wir den finanziellen Zusammenbruch geduldig ertragen hatten, in eine bettelarme Lage geraten waren und man uns aus lauter Barmherzigkeit so etwas wie ein Dach über dem Kopf zur Verfügung gestellt hatte, fanden wir uns auf der allerniedrigsten Stufe der sozialen Leiter wieder. Noch weiter unten setzte bereits das Dahinvegetieren der Vagabunden und Penner ein. Außer einem Dach über dem Kopf mußte man sich aber auch von irgendetwas ernähren. Die Schachtel mit den „Makkaroni Italiano“ wurde nicht zu einem Zaubertopf, aus dem unaufhörlich gekochter Brei herausfloß. Und da betritt eine neue handelnde Person die Szenerie, genauer gesagt – ein ganzes kleines Weltchen, das sich „Russisches Invalidenhaus“ nennt. Dieses kleine Welt spielte keine geringe Rolle in meinem Leben, sowohl im Hinblick auf die Unterstützung unserer Existenz, als auch hinsichtlich der Formierung meiner Weltanschauung. Was war das für eine Erscheinung? Ihr Organisator war ein gewisser ehemaliger Oberst Abramowitsch. ein russischer Jude; er war jedoch orthodox, besuchte immer fleißig die Kirche, was besonders seine Ehefrau und andere weibliche Verwandte überzeugend und anschaulich bestätigten – als ob er einer Karikatur der Zeitschrift „Jidden“ entsprungen war, wie sie auf den Seiten der Ausgabe seines Kampfgefährten Wonsjazkij abgedruckt waren. Dieser Abramowitsch war Träger zahlreicher Orden, darunter auch Gregorianischer Kreuze, weil er in zahlreichen Kriegen ziemlich verkrüppelt worden war, unter anderem auch 1912 im bulgarischen-türkischen Krieg, wo er als Freiwilliger auf Seiten der Bulgaren gekämoft hatte. Er besaß auch das buklgarische „Tapferkeitskreuz“, und anz allgemein kannman sagen, dass dieser Zeitabschnitt seiner Biographie ihm den Weg zu den Herzen und Kassen manch einer stattlichen Einrichtung eröffnete. Zu seiner Ehre nutzte er diese Beziehungen nicht für persönliche Zwecke, sondern schuf vielmehr eine Art Abbild des Pensionats für Emigranten-Invaliden, in das sich später auch einfach betagte Russen und ihre entfernten Nachfahren einschlichen, die sich noch in der Blüte ihres Lebens und sogar in jugendlichem Alter befanden. Zur beschriebenen Zeit pachtete diese gottgefällige Erscheinung 4-5 Gebäude (beziehungsweise besaß sie als Eigentum), die mit Leuten unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft vollgestopft waren. Hier gabe es ehemalige Generäle, aus denen der Sand herausrann, sowie betagte Kosaken, die so aussehen, als wenn sie den Seiten des „Stillen Don“ entnommen worden waren, die heruntergekommenen Fürsten Lobanow-Rostowskij und Wjamsenskij mit einer ganzen Serie degenerativ wirkender Sprößlinge, und die ihres Verstandes beraubte Gräfin Grabbe, die an ihren Rockzipfeln eine ganze Meute von Leuten hinterherzog, die ihr nach dem Munde redeten, aber auch andere Vertreter der einst glänzenden russischen Intelligenz, welche heute eher den Helden in Gorkis „Nachtasyl“ ähneln.
Diese ganze kunterbunte Gesellschaft besaß ein Dach über dem Kopf und bekam dreimal täglich Verpflegung, eine sehr kümmerliche zwar, aber dennoch völlig ausreichend, um ein halbes Hungerdasein zu führen. Zu vorgegebener Stunde verkündete ein Glpckenschlag, daß das Essen fertig war, und aus allen Häusern, die etwa 300-400 Meter voneinander entfernt lagen, begannen die alten Frauen und Männer sowie Kinder sich mit ihren Nachttöpfen, Kochtöpfen und Schüsseln in Bewegung, um sich dann an der Essensausgabe in einer Warteschlange Aufstellung zu nehmen. In Erwartung ihrer Essensration tauschten sie in französischer Sprache Grüße aus, teilten ihre Ansichten über politische Ereignisse, vor allem in Bezug darauf, inwieweit diese ihre Rückkehr nach Rußland, zu ihren Landgütern und Gouverneurssesseln fördern könnten; sie teilten aber auch ihren Unmut darüber, daß NN 1904 bei dem betreffenden „Suppensucher“ als Adjutant diente, während er heute den Generalsposten innehatte – und das zu einer Zeit, in der sein ehemaliger Chef lediglich im Range eines Oberst stand. Der General, der barfuß in Gummistiefeln durch die Gegend schlurfte, bewies indessen, daß man zu seiner Zeit in den Masurischen Sümpfen hatte einsinken und nicht in den Stabsquartieren die Stühle blankputzen müssen. Dabei schielte er unverwandt auf die Schüssel des soeben aus der Küche Gekommenen, um nach seinem Augenmaß zu überschlagen, ob diesem in seiner Suppe wohl auch so ein Stückchen Fleisch zuteil geworden war, wie er es bereits bei einem anderen gesehen hatte. In dem gleichen Zentralrevier, in dem sich die Küche befand, stand eine Kirche, die während meines Aufenbthaltes dort bereits fertiggebaut worden war, die sich an Samstagen und Sonntagen, und ganz besonders an bedeutsamen Fest- und Feiertagen, in einen eigentümlichen Klub verwandelte, in dem sich praktisch die gesamte Bevölkerung dieses „Wanzenlochs“ versammelte; sie alle trugen mottenzerfressene Uniformen und Kleider, als ob sie Puschkins Zeiten entstammten. Im übrigen diente die Kirche auch an Werktagen als Klub. Der Altar wurde verhüllt und so zuammegeklappt, daß er wie ein Wandschirm, eine Zwischenwand aussah, und in dem anschließend noch verbleibenden Raum wurden Tischchen und Stühle aufgestellt. Hier wurden Bücher gelesen und gelegentlich Vorlesungen abgehalten; meiner Meinung nach spielten sie hier sogar Karten - unter den mißbilligenden Augen von vier Generationen russischer Imperatoren, die in voller Lebensgröße auf Leinwänden mit gut zwei Meter Ausmaß verewigt waren. Ich habe nmich ein wenig ausführlich auf die Beschreibung der Kirche konzentriert, denn sie spielte eine gewisse Rolle in den nachfolgenden Ereignissen. Unser „Gehöft“ also grenzte sehr dicht an den linken Flügel dieses Invalidenkpmplexes. Anfangs erhielten wir gegen eine jämmerliche Bezahlung und später ganz und gar umsonst zwei Portionen der Invalidenration für drei Personen; auf diese Weise waren wir mit lebensnotwendigem Brot versorgt, auf der anderen Seite fanden wir uns total verwickelt in den Orbit des Emigrantensumpfes, aus dem wir uns bis zu dem Zeitpunkt hatten fernhalten können. Unter den Mietern dieser Häuser, aber auch unter den „Unabhängigen“ waren auch meine Altersgenossen, denen zu gegebener Zeit in meiner Erzählung noch ein Plätzchen zugewiesen werden soll. Mitunter gelang es der Mutter vorübergehend eine Arbeit zu finden, sich auch ab und an als Repetitor zu beschäftigen, und dies gestattete es uns, wenigstens die allernotwendigste Kleidung, Schulsachen, usw. zu beschaffen. Zu dieser Zeit lernte ich in der 4., 5. Klasse des Gymnasiums, was unseren Klassen 7 und 8 entspricht, d.h. ich war 13-14 Jahre alt. Ob es daran lag, daß ich erwachsener geworden war oder daran, daß sich in der Welt eine stürmische Zeit zusammenzubrauen begann – jedenfalls begann ich mich, genauer gesagt wir alle uns, mehr für Politik zu interessieren. Meiner Meinung nach war es eine italienische illustrierte Zeitschrift, die zum ersten Mal mein Interesse daran weckte. Sie trug den Titel „Il Popolo“ oder „Popolo d’Italia“. Auf der Titelseite sah man für gewöhnlich im Großformat Bilder, auf denen mal eine Lokomotive in ein Zimmer hineinraste, in dem eine Familie schlief, mal ein Flugzeug auf ein Hausdach stürzte oder es irgendeine andere blutrünstige Szene zu sehen gab. Mit Beginn des italienisch-äthiopischen Krieges waren dann Schlchtszenen an der Tagesordnung: eine Horde Äthiopier mit Speeren in den Händen, die einem italineischen Panzer den Weg versperren und ihn angreifen, oder, umgekehrt, ein paar tapfere Bersaglieri mit Hahnenfedern auf den Helmen, die zu viert eine Menge dunkelhäutiger, barfüßiger Krieger in die Flucht schlagen. Anfangs betrachtete ich diese Bilder einfach nur aus Neugier, aber nach und nach fing ich an, das Wesen der dort ablaufenden Ereignisse vollständig zu erfassen, und in mir entstand Mitleid mit den schwarzen Opfern der Aggression, und auch ein Gefühl von Zorn und Haß gegenüber den Eindringlingen und dem wie ein Truthahn aufgeblasenen Duce Mussolini.
Bald darauf fing diese Zeitschrift damit an, Szenen aus dem Bürgerkrieg in Spanien abzudrucken. Den Platz der Äthiopier nahmen nun zerlumpte Menschen mit roten Bändern und Personen mit kriminellem Gesichtsausdruck ein, denen die wackeren, tapferen Jungs von General Franco Widerstand leisteten, sowie Sturzkampfbomber mit den Erkennungszeichen Italiens oder schwarzen Kreuzen. Der Krieg in Spanien war der erste Funke eines Feuers, das bald darauf ganz Europa ergriff, und obwohl nach unseren Maßstäben, als Entfernungen von 30 oder 50 Kilometern als „weit“ galten, Spanien sich „auf dem Mond“ befand, brachen diese Ereignisse dennoch in unser Alltagsleben ein, das ab und an höchstens von einem weiteren makedonischen Mord oder einer aufgedeckten kommunistischen Verschwörung erschüttert wurde, und zogen einen deutlichen Strich zwischen jenen, die mit den „roten“ Republikanern sympathisierten, und den Anhängern der Faschisten, die nund „endlich Ordnung schaffen“. Dieser Bruch zog sich auch durch unsere Klasse. Wahrscheinlich war er nicht ganz klar zu erkennen und auch nicht besonders überzeugend gefestigt, aber so oder so teilten wir uns in zwei Lager, die ihre Einstellung in den Pausen auf der Toilette klarstellten. Spanische „Spitznamen“ tauchten auf: so wurde beispielsweise, analog zum faschistischen General Molla, Schorka Injutin zu „General Swolla“; und nach Art des Republikaners Largo Caballero hieß der ewig fluchende Mischka fortan Micha Zybulero, usw. Zu jener Zeit machte durch ihre Standhaftigkeit die Garnison der Burg Alkasar, in der Nähe von Toledo, von sich reden. Unser Alkasar wurde der Wasserhahn im Toilettenvorraum, auf den ein Schlauch aufgesteckt war, mit dem der Marmor-Fußboden dieser Einrichtung, die etwa 5 x 6 Meter maß, sowie die eigentlichen Kabinen gereinigt wurden. Der Machthaber über diese Festung vertrieb die Feinde mit dem Wasserstrahl und zwang sie dadurch, in Schmach und Schande das Schlachtfeld wieder zu verlassen oder in den Kabinen Schutz zu suchen, die im übrigen auch keinerlei Sicherheit garantierten, denn die Wände reichneten nicht bis zur Decke hoch, und mit einem gewissen Geschick konnte man sogar alle noch so unverwundbaren Positionen der Belagerten erreichen. Aus diesem Grunde verstreht sich, daß wir in den allerletzten Unterrichtsminuten stets wie Wettläufer in ihren Startlöchern hockten, bereit, beim ersten Klang der Schulglocke sofort unser „Alkasar“ im Sturm zu erobern. Die Sache endete schließlich damit, daß einmal einer der „Spanier“, der beim Druck des Wasserstrahls das Gleichgewicht nicht hielt, von Kopf bis Fuß klitschenaß, in den Korridor flog, auf dem gerade unser Klassenlehrer Tarzan vorüberspazierte. Tarzan, der den Grund für einen derartigen Vorfall herausfinden wollte, öffnete die Tür zu den Toilettenräumen. Mischka Zybulewskij, der genau in diesem Moment den Schlauchg in seinen Händen hielt, war sich sicher, daß da der unbesiegte Feind zurückkehrte, und richtete demzufolge den strammen Wasserstrahl auf die im Türrahmen erscheinende Gestalt. Während des gesamten spanischen Krieges hat es wohl kein blutigeres Ereignis gegeben, als das, was danach begann. Alle Republikaner und Frankisten mußten unter der großen Standuhr Aufstellung nehmen. Das Zensurenbuch wurde kreuz und quer vollgeschrieben und die Eltern zur Schule bestellt. Die Toilettenschlachten verstummten und gingen über auf eine Ebene heftiger verbaler Wortgefechte und Diskussionen, in denen es gar nicht so sehr um die Teilnehmer selbst ging, sondern vielmehr um ihre weiblichen Verwandtenb.
Jetzt will ich von der allgemeinen Schilderung zu den konkreten Teilnehmern an den Geschehnissen dieser Zeit sowie ihren Wechselbeziehungen mit meinem persönlichen Leben übergeben. Manches über meine Kameraden und Freunde habe ich bereits geschrieben, bei manchen Dingen habe ich vorweggegriffen, und nun möchte ich übver den Beginn unserer Bekanntschaft und ihre weitere Entwicklung berichten. Einer der aktiven Teilnehmer am „spanischen Krieg“ war Kot Siewers, den ich bereits früher erwähnte. Damals gehörte er zum gegnerischen Lager, und das nicht nur aufgrund der ideellen Auffassungen. In diesem Jahr erschien in unserer Klasse eine neue Schülerin, Alotschka Newejnowa, ein wenig erwachsener als unsereins – sowohl im Hinblick auf die Körpergröße, als auch in puncto geistigem Entwicklungsstand.. Sie war in einer großen Familie aufgewachsen, in der sie die jüngste war, wo jedoch eine bemerkenswerte Gleichberechtigung herrschte, was sie sogar noch weiter entwickelte und viel selbständiger machte, als viele ihrer Altersgenossinnen und –genossen. Verständlich, daß sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, besonders der Jungchen, allerdings hatte nur Kot Erfolg, der, wie ich bereits schrieb, damals ebenfalls gewisse physische und moralische Überlegenheit aufwies. Diese Tatsache verstärkte noch jene verborgene Feindseligkeit, welche die meisten von uns gegen Kot empfanden. Ich bereue es, aber da ich auf der Schulbank hinter Ada Newejnowa saß, hegte ich oft blinden Haß gegen Kot, wenn er seinen Sitzplatz neben Ada einnahm und begann, ihr Zeichen seiner Aufmerksamkeit kundzutun. Zu jener Zeit saß ich neben einem gewissen Walka Tukow, mit dem ich eine recht enge Freundschaft schloß; er war für jeden groben Unfug zu haben. Eine unserer gemeinsamen Leidenschaften waren Waffen. In Bulgarien waren Waffen im allgemeinen nur sehr schwer zugänglich – sowohl wegen der sehr begrenzten Möglichkeiten ihrer Beschaffung, als auch wegen ihrer außerordentlich hohen Preise, aber nichtsdesto-weniger gab es Waffengeschäfte; und wir starrten mit riesengroßen Augen auf die Vitrinen, die mit verschiedenen Walter- und Browning-Modellen, aber auch Jagdwaffen der Marke Sauer bestückt waren. Es war ganz natürlich, dass wir davon in unserem rosaroten Schlaf nur träumen konnten, aber in der Realität waren zumindest kleinkalibrige Ein-Schuß-Gewehre und –Pistolen, die sogenannten Flauberts, frei erhältlich. Sie hatten Kaliber 6 und 9. Auch die Patronen dazu konnte man frei kaufen. Natürlich kam es nur selten vor, dass so ein Jungchen, das etwas auf sich hielt, nicht die entsprechend notwendigen Kopeken von seinem Frühstücksgeld beiseitelegte, um sich irgendwann eine solche Waffe zu kaufen. Sie hatte im allgemeinen ein derbes Äußeres, überhaupt nicht treffsicher, konnte aber ernsthafte Verletzungen hervorrufen; aber für gewöhnlich diente sie auch nur als Lärmquelle und dazu, das Selbstwertgefühl zu stärken. Ich war bereits glücklicher Besitzer einer 6 mm-Pistole, während Tukow noch am Sparen war. Endlich kam der erfreuliche Tag. Wir gingen gemeinsam los, um eine Waffe auszusuchen, und Walka ließ seine Wahl schließlich auf eine Pistole, Kaliber 9 mm, fallen. Sie ähnelte in Größe und Form einer D’Artagnan-Muskete und paßte nur mit Mühe in die Schultasche. Versteht sich von selbst, dass er sie in den ersten Tagen immer mit in die Schule brachte, wo sie von allen Seiten betrachtet und in den Pausen sowie allen Unterrichtsstunden, in denen man sich ein wenig ungehemmter benehmen konnte, genauestens untersucht wurde. Ein dieser Stunden war Zeichnen. Der Lehrer, ein ruhiger Mann mittleren Alters, dem der rechte Arm fehlte, hielt seinen Unterricht stets in demokratischer Atmosphäre ab: man durfte sich woanders hinsetzen, aneinander helfen und sich unterhalten. Tukow und ich befaßten uns mit einem Cowboy-Projekt, während wir mit Müh und Not eine uns vorgeschriebene Vase malten, und Kot setzte sich zu Adotschka, um eifrig ihre Zeichnung zu korrigieren. Im Schweiße seines Angesichts kniete er auf der Sitzbank, wobei er sich dicht zu seinem Schützling hinabbeugte – unserer Ansicht nach viel zu dicht!Zu diesem Zeitpunkt hielt Tukow seine Waffe in der Hand und war andauernd dabei, den Hahn zu spannen und zu entspannen. Nachdem Kot vor ihm dieses Techtelmechtel und mein säerlich dreinschauendes gesicht bemerkt hatte, beschloß er mir Unterstützung zu gewähren. „Dem schieß ich jetzt ‚ne Kugel in den A.....“, verkündete er und knackte und fuchtelte mit der Pistole herum. Völlig unerwartet ertönte ein Schuß, der zum Glück vorbeiging. Kot war augenblicklich verschwunden, wie vom Winde verweht. Alle saßen da wie erstarrt. Tukow stand schweißgebadet da, während er sich verzweifelt bemühte, die Pistole in meine Schultasche zu stopfen. „Was ist passiert?“ – fragte der Lehrer ziemlich beunruhigt. Tukow versuchte zu erklären, dass ihm ein Stöpsel heruntergefallen war, wie sie üblicherweise für Kinder-Schreckschußpistolen verkauft wurden. Darin befand sich als Ladung irgend so ein Zeug, das einen furchtbar lauten Knall auslöste, sobald man mit dem kleinen Bolzen darüberstrich. Na ja, und er war angeblich aus Versehen an so ein Teil gestoßen. Übrigens: eine Durchsuchung fand nicht statt; die gesamte Klasse unterstützte stürmisch die version von der Schreckschuß-Ladung, und damit war der Zwischenfall auch schon erledigt. Es war schon recht merkwürdig, aber mit diesem Tag vollzog sich eine Annäherung zwischen Kot und mir, und schon bald darauf wurde er nicht nur Mitglied unserer Gesellschaft, sondern nahm in ihr auch einen sichtbaren Platz ein. Besonders ich war es, der sich ihm näher kam und häufig bei ihm weilte. Schnell hatten wir uns mit Kots Monopolstellung bezüglich Adotschka abgefunden, und in den nachlassenden Kriegshandlungen bei Madrid waren nun schon keine persönlichen Motive mehr präsent. Der echte Krieg in Spanien war dagegen mit zunehmender Verbitterung im Gange. Und da kam bei Kot und mir die Idee auf nach Spanien zu fliehen. Wir umgaben uns mit Landkarten, arbeiteten verschiedene Varianten aus, angefangen mit der Fahrt unter einem Waggon des Expresszuges Istanbul-Paris, dem nachfolgenden Überqueren der Pyrenäen, bis hin zum Grenzübertritt in Jugoslawien und dem weiteren Vordringen per Schiff, das uns vom Hafen in Richtung Adriatisches Meer und weiter nach Spanien bringen sollte. Es wurden Kalkulationen im Hinblick auf die während der Reise benötigten Lebensmittel und diverse andere Vorbereitungsmaßnahmen durchgeführt. Diese Vorbereitungen dauerten lange, und je erwachsener wir wurden, um so illusorischer wurde die Wahrscheinlichkeit, die Abenteuer des Mantigomo-Habichtsklaue (aus einem Roman von F. Cooper; Anm. d. Übers.) zu wiederholen.
Von der Abenteuerromantik lenkte uns auch die Prosa des Lebens ab. Es wurde immer schwieriger mit dem Geld auszukommen. Hier an unserem Horizont tauchte erneut Peter Petrowitsch Schukow auf, ein Arbeitskollege des Vaters und unvermögender Hersteller italienischer Makkaroni. Er war zu seiner früheren Tätigkeit als Landvermesser zurückgekehrt und bot mir nun eine Stelle für das saisonale Arbeiten im Freien als „Figurant“ an; so wurden in der Berufsfachsprache Arbeiter genannt, die das Zeichenbrett trugenoder andere topographische Hilfsarbeiten erledigten. Das war mein erste Abfahrt von Zuhause und gleichzeitig meine ersten Schritte ins Arbeitsleben. Die Reise führte mich zur Bahnstation Kritschim, unweit der Großstadt Plovdiv in Süd-Bulgarien. Ziel der vermessungen war die Vorbereitung eines Projektes zur Bewässerung des entsprechenden Territoriums mit dem Wasser des Flusses Mariza. Ein Teil der Kanalsysteme existierte bereits, und wir mußten sie im Verlauf unserer Arbeiten nicht nur einmal bezwingen. Die Örtlichkeiten zeigten sich uns in Form von dicht bewachsenen Tomaten-Plantagen, Obstgärten und Weinbergen. Während der ganzen Saison dröhnten auf den Straßen Tag und Nacht Fahrzeuge, welche die Ernteerträge, die später an der Station nachreiften, von den Feldern abtransportierten. Dort wurden sie auf Waggons verladen und zum Export in alle Länder Europas verschickt. Dieser ganze Fließbandablauf war gut organisiert, und ich mußte später of daran denken, wenn ich die Mißwirtschaft und das Durcheinander in unserer russischen Landwirtschaft sah. In Bulgarien waren Obst und Gemüse billig, und ich erlebte niemals einen Mangel an ihnen; aber hier überaßen wir uns buchstäblich an ihnen, fingen sogar an zu nörgeln und wählten nicht nur die Sorte an Früchten und Weintrauben aus, sondern auch die gegend, in der sie wuchsen, wobei wir höher gelegene Gebiete bevorzugten, in denen es keine künstliche Bewässerung gab, wodurch die Produkte zwar äußere Vorteile hatten, jedoch um einiges an Geschmack verloren. Anfangs lebte und aß ich zusammen mit Schukow, aber dann zog er in ein anderes Dorf , und am alten Ort blieben nur ein paar Mann zurück, um die noch unerledigten Arbeiten zuende zu führen. Es waren alles Volontäre und Praktikanten, die ein höheres Praktikum an der Technischen Fachschule in Sofia absolviert hatten. Mit ihnen sollte auch ich nun weiterarbeiten. Die Fachschule war wegen ihrer Linksabweichung berühmt und berüchtigt. Die Schüler selbst nannten sie „Staatliche kommunistische Lehranstalt“,und alle zählten sich durchweg, vielleicht aus Tradition, zu den Kommunisten. Hier stieß ich zum ersten Mal auf die Grundzüge der Politik. Unter diesen Praktikanten waren auch illegal herausgegebene Büchlein und Blättchen im Umlauf, es wurden Diskussionen über theoretische Fragen geführt und revolutionäre Lieder gesungen. Man ließ uns eine gewisse Geldsumme für unseren Lebensunterhalt. Am ersten Abend meines selbständigen Lebens begab sich unsere ganze lärmende Gruppe zur Bahnstation, die sich etwa 3-4 km vom Dorf entfernt befand, zechten dort ausgiebig und ließen praktisch all unsere finanziellen Ressourcen im Geldbeutel des örtlichen Gaststätteninhabers. Die folgenden Tage schlugen wir uns dann bezüglich des Essens irgendwie durch. Morgens aßen wir eine kalte Suppe aus Milch und Brot, welche uns die Wohnungsvermieterin auslieh, und abends noch einmal fast dieselbe Suppe; allerdings wurde nun die Milch durch Wein ersetzt, den uns aus lauter Mitleid der lokale Kneipenwirt zur Verfügung stellte. Nach einem solchen Abendessen wurden hauptsächlich Seminare über Politökonomie abgehalten, in der die Ausbeuter und Kapitalisten, die ihre Arbeiter mit dem Ziel, den Mehrwert einzustreichen, auf Weindiät gesetzt hatten, in schwärzesten Buchstaben ausgemalt wurden. Der Sommer ging zuende, und ich kehrte, braungebrannt, erwachsener geworden und mit einer (für meine Verhältnisse) noch nie dagewesenen Summe Geldes, nach Hause zurück – und außerdem mit einer verborgenen Malaria-Erkrankung, die ich mir auf den wasserüberfluteten Feldern der Mariza-Niederungen eingehandelt hatte.