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P. Sokolow. Schlaglöcher

Teil 2 . JUGEND

Kapitel 7 Menschen und Schicksale

Auch in diesem anderen Leben hatte man seine Begegnungen und Kontakte. In erster Linie möchte ich gern von einigen Bewohnern des Invalidenheims berichten, mit denen wir uns ein wenig näher befassen mußten. Zu einem gewissen Farbklecks vor diesem im großen und ganzen ziemlich schwermütigen Hintergrund wurden die Verwandten von Seiten des Vaters aus der Stadt Schumen, die hierherkamen, nachdem dort die entsprechende Einrichtung geschlossen worden war, genauer gesagt – sein leiblicher Onkel, der Bruder der Mutter, General Kurbatow, mit einer Ehefrau und der Adoptivtochter, einer anderen Nichte des Generals sowie die Kusine des Vaters, Lenotschka Kurbatowa. Die alten Leute gaben ein sehr merkwürdiges Paar ab – eine Kreuzung aus lustigen Alten, wie sie in Operetten vorkommen, und altertünmlichen Gutsbesitzern. Der General selbst, ein kleiner, hagerer Mann mit spärlichem Haarwuchs und einem Schnurrbart, mit einem ewig gutmütigen Lächeln im Gesicht und den hellblauen kurbatowschen Augen, trug einen sauberen, wenn auch mit aufgesetzten Flicken ausgebesserten Militärrock, eine ebensolche Reiterhose und Chromlederstiefel, die ihm an den dünnen, krummen Beinchen bis ganz an die Knie reichten. Der Titel eines generals paßte überhaupt nicht zu seinem karikaturhaften Äußeren, um so mehr, als er völlig unter dem Pantoffel seiner Ehefrau stand, einer bereits betagten Dame in einem Kleid, wie man sie zu Beginn des Jahrhunderts getragen haben mag, und mit den Manieren eines bei Tschechow in Verzückung geratenen Mädchens. Übrigens besaß der General eine ganze Reihe von Orden sowie eine Georgsmütze, wie mein vater, die er für die Verteidigung der Festund Iwan-Stadt im Ersten Weltkrieg erhalten hatte, dessen Kommandant er damals war. Seinerzeit hatte er seinen Militärdienst im Garde-Leibgrenadier-Regiment angetreten. Später, nachdem er es bereits zum Oberleutnant gebracht hatte und sah, daß eine weiterer Aufstieg in seiner Laufbahn wohl er unwahrscheinlich war, wechselte er, wie viele andere Gardesoldaten, in die Armee, was die automatische Verleihung des nächsthöheren Titels und einen Posten als Regimentskommandeur zur Folge hatte. Unter sein Kommando nahm er das Kaspische Infanterie-Regiment. Er verfaßte in schriftlicher Form die Geschichte dieses Regiments, die mit zahlreichen Fotografien nd Dokumenten belegt war, und trug dieses Album durch sämtliche Hindernisse und Widrigkeiten des Lebens. Schade, wenn dieses mühsame Werk verloren gegangen wäre. Seine Ehefrau, Tantchen Lisaweta, wie die Mutter sie ironisch nannte, war schlichtweg dumm; sie schwatzte ununterbrochen, vermischte die französische Sprache mit Nischegorodsker Dialekt, behandelte ihren Mann schlecht und brüstete sich ihrer aristokratischen Herkunft. Aber Hauptgegenstand ihres Stolzes war die angenommene Tochter Lenotschka Kurbatowa – ein Mädel von 17 Jahren, ziemlich groß, mit weichen katzenartigen Bewegungen. Ihr tatarisch-kurbatowscher Ursprung kam in ihrem ganzen Äußeren zum Ausdruck: üppige schwarze Haare, grüne Augen, eine4 kleine, aber sehr östliche Nase. Ihr Vater, der Bruder des Generals, hat die Ausbildung im Paschesker Korps beendet, er diente bei Hofe. Zu Beginn des Krieges wurde er, zusammen mit dem Garde-Kavallerie-Regiment, an die Front geschickt, wo aufgrund der Talentlosigkeit der russischen Genräle, die gesamte Blüte der Garde-Regimenter auf den Schlachtfeldern Ostpreußens ums Leben kam. Lenotschka wurde geboren, als der Vater bereits gefallen war; sie wurde Patenkind der Imperatorin. Dieser Umstand gab Lena nach Meinung von Tantchen Lisa das recht, später nichts anderes als einen Prinzen zu heiraten. Aber Lenotschka selbst ignorierte diesen Tatbestand in ihrer Biographie einfach und heiratete irgendwann einen beinlosen und dazu nicht einmal reinrassigen Burschen mit Nachnamen Peschkow, mit dem sie im übrigen vollständig glücklich war. Viele Jahre später war es ausgerechnet diese Lena, die für mich einige Papiere zsammenstellte und mir ein Dokument über meine Ausbildung zuschickte, das meinen weiteren Werdegang und Lebensweg in vielerlei Hinsicht entscheidend bestimmte. Lenotschkas Heirat traf das eitle und ruhmessüchtige Tantchen Lisaweta wie ein Donenrschlag. Sie resignierte, verlor ihre gewohnte Geschwätzigkeit und legte eines schönen Tages ihre Seele in Gottes Hand. Es schien, als ob General Aleksej Alexandrowitsch nun ein wenig von seinem Laufburschendasein aufatmen könnte, aber ganz im Gegenteil: er begann zusehends abzumagern, und es verging kein Monat, als er auch schon neben seiner unberechenbaren Ehefrau unter der Erde lag.

Ein häufiger Gast in unserem Haus war ein gewisser Wyschiwanjuk, ein aus den Karpaten stammender Ukraine-Russe. Seinerzeit, als diese Gebiete noch zum Österreich-Ungarischen Imperium gehörten, hatte er als Offizier in der österreichischen Armee gedient, war in russische Gefangenschaft geraten und letzendlich dann auch dort geblieben, angezogen von den Wellen des Schicksals, die ihn später bis ins Russische Invalidenheim nach Bulgarien forttrugen. Er war hoch gewachsen, ziemlich gebeugt, mit markanten und recht hübschen Gesichtszügen und schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren. Er trug eine grau-grüne Uniformjacke mit Stehkragen sowie eine gleichfarbige Reithose mit Wickelgamaschen. Er sprach mit einem ganz typischen, ihm ureigenen Akzent, wobei er die einzelnen Worter mit schwülstigen Wendungen in die Länge zog. Wenn er über die Vorkriegszeit sprach, begann er stets: „Zur Zeit des verstorbenen Kaisers Franz-Josef...“. Er war überzeugter Monarch und Befürworter „strikter Ordnung“; in Bezug auf die Emigrantenleitung benahm er sich allerdings gesetzeswidrig, indem er all diese „Ehemaligen“ als „Großväter mit vertrockneten Hirnen“ bezeichnete. In die Kirche ging er regelmäßig, bekreuzigte sich übertrieben, aber die Geistlichkeit an sich konnte er nicht ausstehen: „ ... weil die Popen, bis auf wenige Ausnahmen, alle Schurken sind ...“, so lautete ein Teil seiner Tirade, an die ich mich erinnern konnte, und die er in dem für ihn typischen, episch-melodischen Stil von sich gegeben hatte. Ähnliche Ansichten über die Emigration vertrat auch ein anderer unserer Bekannten, der sich allerdings noch etwas entschiedener ausdrückte: „Generäle und Oberster, Hundesöhne“, und mitunter noch mit dem Zusatz – „Flegel!“. Bei diesemKritiker der Generalität handelt es sich um den Kuban-Kosacken Grigorij (Chwedorowitsch) Nikolenko. Er war ein Mann von ungefähr 60 Jahren, sein Gesicht glich ein wenig dem von Taras Schewtschenko. Er trug sommers wie winters einen Umhang von undefinierbarer Farbe, eine Lammfellmütze und Stiefel. Er besuchte unser Kindermädchen, das er bei seinem Landsmann Tschernjagi kennengelernt hatte, und zwar zu jener Zeit, als jene sich gerade mit Heiratsplänen herumtrug. Im Unterschied zum intelligenten Publikum, das unter den Bedingungen des Invalidenheims, sofern es nicht mit Schnapstrinken beschäftigt war, unaufhörlich in Erinnerungen an seine Dienstgrade und verloren gegangenen Gutshöfe schwelgte, lebte Nikolenko als Wächter bei einem reichen Villenbesitzer und verdiente sich zu dem durch das Hacken von Brennholz und Mähen von Heu noch etwas hinzu. Er war kräftig wie ein Ochse, und dementsprechend aß er auch. Er liebte es, in seiner Freizeit Pilze zu sammeln oder ansonsten auch einfach nur herumzureisen, wobei er an einem Tag Fußmärsche von bis zu 40-50 Kilometernzurücklegte. Häufig nahm auch ich an solchen Wanderungen teil und studierte dann mit großem Interesse diese urwüchsige Persönlichkeit, lauschte seinem ukrainischen Gerede, seinem herben, aber treffenden Humor.

Unter unseren bekannten gab es noch eine weitere interessante Gestalt, Fürst Wizidsijew oder – einfacher gesagt – Wizidse. Er war ein typischer Kaukasier, wie er in Büchern vorkommt, und zwar sowohl in Bezug auf sein Äußeres als auch im Hinblick auf seine Sprache. Er trug eine Tscherkessenmütze und einen Dolch im Gürtel. Der Kopf war rasiert, unterder großen Nase trug er einen nach oben gezwirbelten Schnurrbart. Er war klein und untersetzt, sogar ein wenig schwerfällig, aber wenn auf einem Pferd saß, war er wie umgewandelt. Er befaßte sich damit, dass er auf der Pferdezuchtfarm Jungvieh kaufte, die Pferde zuritt und sie dann an Kavallerie-Offiziere oder andere Liebhaber verkaufte. Zu der Zeit besaß er zwei reinrassige englische Hengste und einen Araber. Der Fürste wohnte ein wenig abseits von der Siedlung zusammen mit der Nichte der Fürstin Dadianja, seinem Sohn Wanytschka, der etwa in meinem Alter war, und seiner Tochter oder irgendeiner anderen Verwandten namens Lenotschka, die nicht von kaukasischem Aussehen war. Die Fürstin, eine schon leicht verblichene Schönheit, mit stark ausgeprägten georgischen gesichtszügen, war eine leidenschaftliche Reiterin, hatte selber schon Preise erhalten, trainierte Offiziere und Sportler, die in er europäischen Pferdesportwelt nicht zu den schlechtesten zählten Oft ritenn Fürst, Fürstin und Wanytschka gemeinsam die Allee entlang, und man konnte sich nicht sattsehen, wie weich ihre Bewegungen mit denen der Pferde verschmolzen, wenn sie in Galopp verfielen. Manchmal besuchte ich Wanytschka und ritt mit ihm aus. Wanytschka war ein schrecklicher Dummkopf, aber in puncto Pferde bereits ein Kenner. Einer unserer Jungchen, Dimka Schewtschenko, besaß die Unvorsichtigkeit, sich an Lenotschka heranzumachen. Die zeichnete sich keineswegs durch einen sonderlich strengen Charakter aus, aber Dimka war ein unerfreulicher Kavallier, und des wegen beklagte sie sich beim Fürsten. Am nächsten Sonntag ereignete sich nach dem Gottesdienst in der Kirche des Invalidenheims die folgende komische Szene: Der Fürst schnappte sich Dimka und schüttelte ihn, nachdem er ihn hinter das Tor gezerrt hatte, wie einen Hund. „Warum hat du meine Lenotschka gekniffen?“ fragte der Fürst, aber in dem Moment sah er eine ihm bekannte Dame vorübergehen, und während er Dimkas Kragen mit der einen Hand weiter festhielt, riß er mit der anderen seine Kosakenmütze vom Kopf und rief, übers ganze Gesicht lächelnd und mit einer tiefen Verbeugung: „Guten Tag, Madame!“ – Anschließend schüttelte er Dimka ein zweites Mal durch und begann erneut zu grinsen – „Ich lüsse ihre Hand, Madame!“ – Zur Krönung des Ganzen muß man zu den Exponaten noch Kolka Potatujew, oder einfach Potatuja, hinzufügen. Das war ein Mann so um die 40, von geringer Größe, aufgeweckt und mit fröhlich dreinblickenden Augen und einem irgendwie unanständigen Lächeln. Früher war er einmal Matrose gewesen; sein Körper war von Tätowierungen nur so übersät. Er wohnte ebenfalls beim Invalidenheim und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die Hauptsehenswürdigkeit bei Kolka Potatujas war seine reichhaltige Sammlung an Unflätigkeiten und Obszönitäten, die mit der Klassik anfing und mit Anekdoten gänzlich unterschiedlichen Profils endete. Uns gegenüber verhielt er sich herzlich und entgegenkommend, teilte gern mit uns sein litearisches Gepäck, wofür er dann acuh zum Ehrenbürger der Republik Paraguay ernannt wurde. Ich erwähne ihn hier nicht so sehr wegen seiner alltäglichen (nicht) literarischen Begabung, sondern aufgrund der Rolle, die ihm noch im weiteren Verlauf meiner Erzählung zukommen wird.

Es mag so aussehen, als ob ich meinen Bericht mit eine ganzen Reihe nebensächlicher Personen gespickt hätte, die auf dessen Verlauf überhaupt keinen wesentlichen Einfluß nehmen, aber ich wollte einfach einen möglichst vollständigen Hintergrund schaffen, auf dem sich die großen und kleinen Ereignisse meines Lebens entfalteten; zum Zweiten wollte ich die Schlußfolgerung untermauern, daß alle mich umgebenden Menschen in irgend einer Weise auf die Formung meines Charakters und meiner Weltanschauung Einfluß genommen haben. Es war nämlich so, daß aufgrund der Lebensbedingungen, des beengten Zusammenlebens, wir – die Kinder – nur wenige Möglichkeiten besaßen, uns aus der Erwachsenenwelt zurückzuziehen, mal für uns zu sein oder Kontakt mit unseren Altersgenossen zu haben. Wir sonderten uns von ihnen nicht ab, sondern nahmen sie, wenn auch nicht als gleichgestellte, so doch zumindest und auf jeden Fall als lebendigen Teil der Gfesellschaft an. Deswegen gewöhnte ich mich bei all der Buntheit meiner Bekanntschaften und ungeachtet aller persönlichen Sympathien oder Antipathien schon früh daran, die Leute, ihre Wortwahl und ihre Verhaltensweisen eingehend zu betrachten und zu analysieren und, was das Wichtigste war, zu lernen, unter ihnen zu wohnen, Berührungspunkte zu finden, Geduld an den Tag zu legen; und all das half mir in den folgenden Wirrnissen und Strudeln meines Lebens in so mancher Hinsicht – es half mir am Leben zu bleiben und in den extremsten Situationen trotzdem meinen Platz zu finden.

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