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P. Sokolow. Schlaglöcher

Teil 2 . JUGEND

Eine kurze, aber absolut notwendige Abschweifung

Ich wollte meinen Bericht ganz bewußt nicht mit irgendwelchen Ablenkungsmanövern über Psychologie und ganz persönliche Erlebnjisse stören, denn sie sind die Frucht meiner Erfahrung und meines Nachdenkens, und all denen, die das nicht selbst gesehen und erlebt haben, wird es unverständlich und letztendlich auch unnütz erscheinen, aber dennoch wären meine Erinnerungen ohne all dies unvollständig, so daß ich also den mutigen Ton meiner Erzählung unterbrechen muß. Bei der Beschreibung meines letzten Lebensabschnitts habe ich die übrigen Mitglieder meiner Familie und ihre Welt kaum angeschnitten. Dies betrifft in erster Linie meinen Bruder Igor. Er war 5 Jahre älter als ich. Zusammen mit der Mutter stand er alle Schwierigkeiten des Umherwanderns, der Entbehrungen und Krankheiten durch. Auf-grunddessen war er ein äußerst verschlossener, häufig kränkelnder Junge; er lernte nicht besonders gut, hatte jedoch eine Neigung zur Kunst: er malte und zeichnete, spielte auf der Mandoline, unter anderem auch im Streichorchester des Russischen Gymnasiums. Im allgemeinen waren wir, sowohl hinsichtlich unseres Charakters, als auch im Hinblick auf unsere Fähigkeiten grundverschieden. Aus deisem Grunde, aber auch wegen unseres Altersunterschieds, standen wir uns nicht besonders nahe. Die erhöhte Sorge der Mutter, ihr Bemühen, ihn nicht allzu sehr zu mit häuslichen Verpflichtungen zu belasten, sind mir heute sehrwohl verständlich, aber damals keimte in mir deswegen häufig ein Gefühl von Eifersucht und Unzufriedenheit auf. Dennoch lebten wir einträchtig miteinander, ohne ernsthafte Streitereien. In der Zeit, als unser Leben sich in einem besonderen Chaos befand, Igor 17 Jahre alt war und in der 7. , der vorletzten Klasse des Gymnasiums lernte, wurde er krank. Kopfschmerzen, Halluzinationen – ein qualvoller Anblick. Die existierende medizinische Hilfe war für uns veil zu teuer, wenn schon das einfache Herbeirufen des Arztes nach Hause nicht wenig Geld verschlang. Jedenfalls, als sich sein Zusatand immer weiter verschlechterte, gelang es schließlich, ihn im kostenfreien staatlichen Krankenhaus unterzubringen, wo man Menschen, wie es hieß, höchstens kurz vor ihrem Tode aufnahm. Ich weiß nicht, inwieweit diese Worte gerechtfertigt waren, aber in Igors Fall erwiesen sie sich als wahr. Er starb wenige Tage später an einer Art Meningitis. Er bekam ein ebenso erbärmliches Begräbnis, wie es unseren Lebensverhältnissen entsprach. Sie brachten ihn in einem großen Planwagen für Kranke, vor den ein paar große Pferde gespannt waren; und er lag darin in einem unbeschlagenen und innen nicht mit Stoff bezogenen Sarg. Ohne diesen noch einmal zu öffnen, ließen sie ihn ins Grab hinunter, der Pope schwenkte sein Weißrauchfaß, und alles endete ohne Kränze, ohne Leichenschmaus und ohne Grabstein. Alles was zur Erinnerung an Igor übrigblieb waren ein wenig steiniger Lehm und ein schlichtes Kreuz. Ich vermag jetzt nicht den Zustand zu beschreiben, in dem ich mich damals befand. Es war wohl am ehesten eine gewisse Erstarrung, eine Nicht-Verstehen all dessen, was geschehen war. Mutter schonte mich natürlich, nahm sich zusammen und wollte ihren Tränen und Gefühlen keinen freien Lauf lassen. Ich hatte bereits „Die Kinder im Verließ“ von Korolenko gelesen, und die Worte:

„Der graue Stein saugte das Leben aus ihm heraus“ kemen nir wie die ville Realität vor. Zunächst nahmn ich diesen Tod wie etwas Zufälliges, aber dennoch Gesetzmäßiges auf, aber nach und nach begriff ich, sowohl aufgrund einzelner Äußerungen der Mutter, als auch durch eigenes Nachdenken, daß dieser Tod hätte vermieden werden können, wenn wir nicht am Abgrund des Lebens gestanden, sondern das notwendige Geld für eine entsprechende Behandlung besessen hätten. Erst spät verstand ich, wie unendlich viel Kummer wir der Mutter bereitet hatten und was für eine immense Standhaftigkeit sie hatte aufbringen müssen, um, ungeachtet aller Widrigkeiten, durchzuhalten und es dabei auch noch zu schaffen, mich auf eigene Füße zu stellen, wobei sie sich nicht nur um meine physische, sondern auch um meine geistige und sittlich-moralische Entwicklung sorgte. Wenn ich zurückblicke, dann muß ich dutzende und hunderte Male bei dem Gedanken an die zahlreichen Wirrnisse und chaotischen Zustände in meinem Leben verweilen; dann erarbeite ich in meinem Inneren mögliche Varianten, nach denen mein Leben hätte ablaufen können, entdecke meine Fehler und Irrtümer; aber niemals habe ich eine verspätete Reue oder Mitleide mit mir selber empfunden. Aber ein Gefühl der Schuld vor der Mutter, unermeßlich und nicht wieder gut zu machen, läßt mich bis heute nicht zur Ruhe kommen und verursacht mir nicht wenige schmerzvolle und schlaflose Stunden. Natürlich werden diese Zeilen dir kaum unmittelbar ins Herz dringen, mein Sohn, aber trotzdem: wenn du dein Leben durchdenkst, über einen verantwortungsvollen Schritt entscheidest, dann denke an die Mutter, daran, ob er ihr nicht vielleicht Schmerzen bereiten könnte und ob sich diese Schmerzen später nicht möglicherweise später auf deine eigene Seele auswirken.

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