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P. Sokolow. Schlaglöcher

Teil 2 . JUGEND

Kapitel 8. Ich gerate in Konflikt mit der Gesellschaft.

Der durchgemachte Kummer war nicht von langer Dauer. Die Jugend heilt traumatische Erlebnisse ziemlich schnell, genau so, wie das Gras im Frühling auch nicht ewig an den Trittspuren der Winterstiefel zu leiden hat. Wieviele solcher Stiefel sollten meine Seele wohl noch durchlaufen! Jedenfalls kann man nicht sagen, daß die Wunden spurlos vernarbten. Wenn ich auch zu der damaligen Zeit schon bis zum Verständnis der sozialen Ungerechtigkeit in dieser Welt, in der ich lebte, gereift war, wenn ich meine Position im zukünftigen Kampf um die Umgestaltung des Lebens doch schon exakt definiert hatte, so war ich trotzdem nun hart und verbittert und ganz versessen auf einen aktiven Protest gegen jene, die für mich diese ungerechte Welt verkörperten. Allerdings nahm der Protest die Gestalt von Taten an, welche die Pfeiler der Gesellschaft nicht zum Schwanken bringen konnten, mir dafür über jede Menge Unannehmlichkeiten einbrachten.

Für den Anfang freundete ich mich mit einem meiner bulgarischen Altersgenossen an, die in jenen Gefilden wohnten. Sie nannten ihn Wladko. Er hatte einen älteren Bruder namens Mirtscho, ein Burscher von 19-20 Jahren, der in der Fabrik arbeitete. Wo oder mit Wem dieser Mirtscho Kontakt hatte, weiß ich nicht, aber über ihn gelangten wir an Flugblätter mit kommunistischen Losungen in der Art wie „Es lebe die UdSSR!“, „Nieder mit den Ausbeutern!“ und ähnliches. Es gab auch ein wenig umfangreichere. Diese Flugblätter waren auf nicht sehr großen Papierblättern abgedruckt, oft auch in eigener Schrift geschrieben und von violetter Farbe – so ähnlich wie bei einem Stempel. Wladko und ich verteilten diese Flugblätter, klebten sie an Pfosten und Zäune. Offenbar hatten sie uns zu dieser Tätigkeit herangezogen, weil wir schnellfüßig waren und es uns überhaupt nichts ausmachte 4-5 km zufuß unterwegs zu sein und die Papiere in einem weiteren Radius in Umlauf zu geben, der doch ein ganzes Stück von unserem eigentlichen Aufenthaltsort entfernt lag. Mitunter warfen wir auch einen ganzen Packen in den Wagenkasten eines vorüberfahrenden Lastwagens, und dann flogen sie während der Weiterfahrt in hohem Bogen auseinander und verteilten sich ganz von selbst. Die Flugblätter konnten die Macht der Besitzenden wohl kaum stürzen; dennoch erinnerten sie sie daran, daß irgendwo unter ihren Füßen ein Feuerchen schwelte, das in der Lage war, sich zu einem Brand auszuweiten. Übrigens kamen derartige Streifzüge nicht häufig vor, vielleicht nur drei-, viermal. Im übrigen richtete ich meinen beißenden Haß auf das Invalidenheim mit seinen ganzen moosbedeckten Gutsbesitzer- und Gouverneurskandidaten, seinen ehamligen Herrschern, den arrogant von den Wänden herabblickenden Kirchenkameraden und ihrem erhabenen Fürsten-Popen Uchtomskij, der die Sowjetmacht mit seinen komisch-altbackschen Verwünschungen und Flüchen bedachte. Diese politischen Motive waren eng verflochten mit der Alltäglichkeit. So verrichteten Uchtomskij und der mit ihm lebende junge, gesunde Mönch, ebenfalls Vater Nikolaj, eine seelenrettende Arbeit unter den ortsansässigen Mädchen, indem sie die Sündhaftigkeit der Beziehungen zu Taugenichtsen wie uns enthüllten, sie von der himmlischen Liebe zu überzeugen suchten, die, wie böse Zungen bekräftigten, sich auch unter den Kirchendienern ausweitete. Die Mädchen folgten den Popen in Scharen, und sogar der alte Sagluchinskij, der Vater des Kioskinhabers, knurrte: „Was ist denn mit denen los ... wohl mit Honig eingeschmiert!“ Wir, die Burschen, boykottierten den Popen und die Kirche ganz demonstrativ, aus vielleicht Baruch, der an den Sonntagen als Kirchendiener arbeitete und dafür wohl auch einen kleinen Lohn aus den bescheidenen Geldopfern der Kirchgänger erhielt, die der Kirchenälteste immer einsammelte, wie der dem guten Väterchen Frost ähnelnde Kosak Schepel. Der kalte Krieg wuchs sich schnell zu einem Konflikt aus. Es kam vor, daß wir nicht nur einmal aus purer Menchenliebe den Beinlosen nach Hause helfen mußten. Diese Aktionen liefen unter dem Zeichen des „violetten Kreuzes“ ab. Die Farbe hatten wir ausgewählt, weil sich nach ihr immer die Nasen unserer Kunden gerichtet hatten. An jenem denkwürdigen Abend begleiteten Dimka und ich, die einst die ganze Schwere der fürstlichen Hand wegen Lenotschka zu spüren bekommen hatten, Kot Siwers, der auf dem Weg zu seiner Adotschka war, die an diesem Tage ihren namenstag feierte. Auf dem Weg zur Straßembahn kam uns zufällig Kolka Potatujew mit schwankendem Gang und in einem ziemlich labilen Zustand entgegen. Den Vermächtnissen der Ritter des violetten Kreuzes strikt Folge leistend, beschlossen wir, Kolka nach Hause zu bringen. Er leistete keinerlei Widerstand, aber unterwegs, als sich herausstellte, daß Kot ohne Blumen zum Geburtstag kommen würde, machte sich Kolka Potatujew eiligst daran, dieses Problem zu beheben. Er betrat den Hof eines der Invalidengebäude, wo es schöne Blumenbeete mit Iris gab; man vernahm ein lautes Knistern und Knacken, wie es wahrscheinlich Elefanten verursachen, wenn sie sich einen Weg durch den tiefen Dschungel bahnen, und einen Augenblick später erschien Kolka bereits mit einem großen Irisstrauß. Kot machte sich aus dem Staub, und Kolkins Seele verlangte es nun nach Freiheit. Und da ritt mich plötzlich der Teufel, und ich sagte mir, daß es doch gar nicht übel wäre, die Klöppel der Kirchenglocke zu entwenden. Das wäre ein Spaß! Das würde ein Gelächter geben! Sie beginnen an den Seilen zu ziehen, aber es kommt gar kein Ton! Die Idee war mir ganz unüberlegt entschlüpft, aber Kolka begeisterte sich dafür und kletterte sogleich auf das Gerüst unterhalb der Glocken. Verständlich, daß Kolka aufgrund seiner schlechten Standfestigkeit ins Schwanken geriet und mit seinem vollen Gewicht in den Seilen hängenblieb, so daß er mitten in der Nacht ein heftiges Glockengeläut auslöste. Etwa zehn Meter von dieser Stelle entfernt befand sich das Wärterhäuschen, wo die Liebhaber des Kartenspiels in den Abendstunden Preferance spielten. In der Annahme, daß ein Feuer ausgebrochen sei, sprangen die Spieler auf die Straße hinaus und schlossen Lolka besorgt in ihre Arme. Im Großen und Ganzen bereute Kolka alles; die ganze Geschichte kam ans Tageslicht, und ich bekam richtig große Unannehmlichkeiten. Zum Glück wurde es in der Schule nicht publik, aber die Einstellung zum Popen erreichte ein glühendes Höchstmaß und ich wurde zur Meßeinheit für die Gottlosigkeit überhaupt, und der Umgang der frommen, strenggläubigen Kirchendiener – und mehr noch: der Kirchendienerinnen - mit mir war tabu, denn sie hegten die große Furcht vor späteren Repressionen im Jenseits. Im übrigen waren die Bemühungen der Pastoren ergebnislos, und die Tätigkeit der Paraguayer erwies sich als viel anziehender, als biblische Legenden über den Leichtsinn von Lots Ehefrau, die aufgrund ihrer Unfolgsamkeit zur Salzsäule erstarrte. Zu dieser Zeit tauchte am lokalen Horizont ein neuer Stern auf – Nadja Jastrebowa. Sie lernte am bulgarischen Gymnasium, war bereits ein Schuljahr weiter als wir – ein ernstes, vernünftiges Mädchen, das bei uns eine gewisse Verlegenheit und Ehrfurcht hervorrief. Sie benahm sich uns gegenüber freundlich, aber zurückhaltend, und suchte nur selten mit uns Kontakt; um so mehr Unbesonnenheit und Entschiedenheit brauchte es, um ihr an einem sternenklaren Frühlingsabend die Liebe zu gestehen. Ich wartete darauf, daß sich die Erde weit auftun oder der Blitz einschlagen würde, aber da hörte ich ganz plötzlich Worte der Gegenseitigkeit. Ich war total erstaunt und verwirrt – und sogar ein wenig enttäuscht: die Göttin war auf die Erde herabgestiegen. Na und? Der Schock ging vorüber und meine erste ernsthafte Romanze begann. Im allgemeinen waren wir gut und auf lange Zeit befreundet, aber dennoch hinterließ diese Begegnung bei mir hauptsächlich Erinnerungen daran, daß auch ich anfing mich für Latein zu interessieren, um nicht hinter ihr zurückzubleiben, daß ich mich in alle diese „Ablativus absolutus“ und „Akkusativus cum infinitivum“ hineinfuchste, was mir schließlich eine Eins in Latein und die Gunst des Klassenleiters einbrachte. Um ein wenig näher zu erläutern, worin diese Gunst sich äußerte, muß ich ein paar Momente des schulischen und gesellschaftlichen Lebens beschreiben. Die Sache ist nämlich die, daß die breite Allgemeinheit, wenn der Staat gegenüber seinen Verstoßenen keine Fürsorglichkeit bekundet, selber eine gegenseitige Hilfe organisiert, die bis zu einem gewissen Grad den Riß zwischen Wohlstand und Elend verringert. Auf diese Weise war beispielsweise die Tradition der „Winterhilfe“ entstanden, bei der man für die Kollekte sammelte und das Geld später, in der einen oder anderen Form, unter den Ärmsten der Armen verteilt wurde – über die örtlichen Räte oder andere gesellschaftlich-öffentliche Organisationen. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders erwähnen, daß diese Hilfe weder irgendwelche Bescheinigungen, noch Besichtigungen, Überprüfungen oder andere demütigende Verfahren erforderte. Diejenigen, von denen die Hilfeleistung abhing, wußten selber sehr gut, wie die Dinge in ihrem Kollektiv und in ihrer Umgebung standen; sie gewährten Unterstützung nach den jeweiligen Erfordernissen und Möglichkeiten. So brachte man beispielsweise uns einige Male Gutscheine zum Bezug von Brennmaterial beim Dorfrat. Einmal kam unser Klassenlehrer, Michail Wojnow, zu uns nach Hause, um mir wegen meiner langen, krankheitsbedingten Abwesenheit vom Schulunterricht Nachhilfestunden zu erteilen, und dieser Besuch kam ihm auch ganz gelegen, um sich ein genaues Bild vom Wohlstand innerhalb unserer Familie zu machen. In der Schule wurde ebenfalls Geld gesammelt, um den besitzlosen Schülern zu helfen. Und das wurde so gehandhabt: jedem wurde ein Umschlag ausgehändigt, in dem sich ein bedrucktes Blatt Papier befand, auf dem die Bitte zu lesen war, eine den Möglichkeiten entsprechende Spende zu geben. Am nächsten Tag wurden die nun bereits gefüllte und zugeklebten Umschläge abgegeben und im Beisein der Klasse geöffnet. Das Geld wurde auf einen Haufen gelegt, gezählt – und das war auch schon die ganze Aktion. Die Papierblätter waren anonym; niemandem wurde bekannt, wer wieviel gegeben hatte, und man mußte sich weder seiner Wohlhabenheit brüsten, noch aufgrund seiner eigenen Armut rot werden. Übrigens kam stets ein recht beeindruckender Betrag zusammen, denn, wie ich bereits sagte, gab es unter den Schülern nicht wenige, die aus ziemlich vermögenden Familien stammten. Nach einiger Zeit wurden diejenigen, die für die Zuteilung einer Geldhilfe vom pädagogischen Rat ausgewählt worden waren, einzeln in die Kanzlei gerufen, wo man ihnen eine gewisse Summe Bargeld aushändigte, für die sie auch quittieren mußten. Es wurde keine Rechenschaft darüber verlangt, wo und wofür dieses Geld verwendet wurde. Auf diese Weise bekam ich zweimal einen Betrag von 1000 Leu – die maximale Größenordnung für diese Art der finanziellen Hilfe. Das kam dem monatlichen Einkommen eines mittleren Arbeiters gleich und reichte für die Anschaffung einer kompletten Schuluniform (aber natürlich keiner qualitativ hochwertigen). Sie bestand aus einer schwarzen Hose, einer Militärjacke mit Stehkragen und vier aufgenähten Taschen, einem Mantel, einer Schirmmütze und einem Gürtel mit Schnalle. Die Schirmmütze unterschied sich von anderen durch die Farbe des Mützenrandes: grau, grün (bei uns waren traditionsgemäß alle Mützen von dinkelgrüner Farbe). Von der gleichen Farbe waren auch die Kragenspiegel am Mantel, und bei uns auch die Jackenkragen. Am Mützenrand sowie auf dem Blechschild der Gürtelschnalle befand sich das Schul-Emblem. Die Schüler sollten stets ihre Personalausweise bei sich tragen, welche von den Lehrern oder der Polizei jederzeit beschlagnahmt werden konnten, sofern einer die Ordnung verletzte; die Ausweise wurden dann der Schule übergeben. Es herrschte eine strenge Disziplin. Sie konnten einen sehr schnell vom Unterricht ausschließen – wegen mangelhafter Leistungen, wegen Schuleschwänzens, aber auch wegen ernsthafter Vergehen, wie beispielsweise das Entfernen der Kirchenglocken.

Wie sah die Politik in den 1930er Jahren, im Landesmaßstab gemessen, aus – und wie in der Welt allgemein? In Europa war ein heftiger Kampf der „Demokratie“-Länder, allen voran Frankreich und England, gegen die Kräfte des Faschismus im Gange, der von Deutschland und Italien angeführt wurde. Der Kampf war reich an politischem Trubel, Hektik, Sitzungen der Liga der Nationen, Resolutionen und Abrüstungskonferenzen. All das geschah vor dem Hintergrund der Streitigkeiten zwischen den Parteien - Kabinettsablösungen in Gestalt der Demokratie, sowohl als nachfolgende wie auch ganz gezielt betriebene Politik ihrer Gegner, die auf der Unterdrückung der inneren Opposition basierte, aber auch auf einer Politik der Revanche und Aggression im Geltungsbereich der internationalen Beziehungen. Bezeichnend dafür ist die folgende Anekdote, die zu der Zeit im Umlauf war: Über einem See ereignete sich ein Flugzeugunglück. Die drei im Flugzeug befindlichen Personen – ein Franzose, ein Deutscher und ein Italiener fielen ins Wasser. Der Deutsche begann zu kraulen, schrie „Heil Hitler! Heil Hitler! ...“ und schwamm an Land. Der Italiener begann wie ein Hund zu schwimmen. Dabei rief er: „Duce, Duce, Duce...“ – auch er gelangte ans Ufer. Der Franzose machte „Blum!“, ging unter und ertrank. Gemeint war Leon Blum, Frankreichs Premier und Führer der sogenannten „Volksfront“. Auch die sowjetische Diplomatie war nicht passiv. Sie war bemüht, die antifaschistischen Kräfte zu ihrer Stützung und der Abwendung des sich zusammenbrauenden Krieges zu vereinen, allerdings ohne Erfolg. Das Doppelspiel der Bourgeoisie, die durch zahlreiche Bande mit den Rüstungsindustrie-Monoplen in Deutschland verbunden war, machte die Bemühungen der Diplomaten zunichte. Schritte zu einem Brückenschlag zwischen den sich gegenüberstehenden Blocks, d. h. zur „Entspannung“, wie wir das heute nennen, unternahm der jugoslawische König Alexander. Er tätigte eine ganze Reihe von Reisen, in deren Verlauf er Verhandlungen mit den Oberhäuptern anderer Staaten führte.. Er war auch in Bulgarien. Einmal, als ich gerade auf unserer Hauptstraße unterwegs war, sah ich plötzlich ein ungewöhnliches Automobil. Ich interessierte mich damals schon für Automobile, kannte sämtliche Marken und Modelle der noch nicht sehr zahlreich auf den Straßen verkehrenden Fahrzeuge, und deswegen zog dieses vollkommen unbekannte Modell sogleich meine Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um einen großen „Phaeton“ (Bezeichnung für eine bestimmte Karosseriebauform; Anm. d. Übers.) mit aufgeklapptem Dach, mit der charakteristischen Linienform an der Vorderfront, wie sie der Marke „Packard“ zueigen sind. Das Auto rollte lautlos und mit niedriger Geschwindigkeit dahin; angesichts dieser beeschaulichen Fahrweise wurde ich durch eine mir nicht geläufige Militäruniform eines auf der Rückbank sitzenden Mannes abgelenkt. Als das Fahrzeug näher kam, erkannte ich in ihm sofort Zar Boris und den neben ihm sitzenden König Alexander. Ich war ziemlich verblüfft, als ich in nur 5 Metern Entfernung gleichzeitig zwei Monarchen zu Gesicht bekam, und ich muß wohl einen recht dümlichen Gesichtsausdruck gehabt haben, wenngleich ich meine Fassung schnell wiedererlangte und den beiden zuwinkte. Der König hab eine Hand an den Mützenschirm, der Zar schmunzelte und nickte mit dem Kopf. Ich rannte nach Hause, um der Mutter Bericht zu erstatten. Einige Tage später wurde König Alexander, nachdem er französischen Boden betreten hatte, von einem kroatischen Nationalisten ermordert, aber die Fäden des Verbrechens führten geradewegs nach Berlin.

Ich muß hinzufügen, daß die diplomatische Aktivität der UdSSR nicht nur in der Liga der Nationen zutage trat. In Sofia wurde eine Vertretung zum Verkauf von Automobilen eröffnet, ein Geschäft mit der Beziechnung „Russisches Buch“ ins Leben gerufen, eines der Kinotheater wurde zur Vorführung sowjetischer Kinofilme angemietet. Bevollmächtigter des Präsidenten der UdSSR war Raskolnikow. Ein hervorragender Mann des öffentlichen Lebens während der Revolution in der Lenin-Epoche. Was die Automobile betraf, so erlangten diese keine Popularität. Die Lastkraftwagen SIS-5, EmKa und SIS-101 sah man nur in vereinzelten Exemplaren. Dafür erfreuten sich die Bücher einer großen Nachfrage, und zwar bei den Bukgaren genauso, wie unter den Vertretern der russischen Kolonie. Es gab hervorragende Lehrbücher der Mathematik von Kiseljew, und sie wurden sogar am russischen Gymnasium als wichtigstes Lernmittel angenommen. Ich war in dem Geschäft ebenfalls Stammgast, machte dort biis zu einem gewissen Grad die Bekanntschaft des Inhabers, einem vorsichtigen Mann, der in puincto Kontakte sehr zurückhaltend war und außergewöhnlich häßlich aussah. Die Emigranten ordneten ihn sogleich in die Reihen der Tschekisten ein. In dem Wort klang etwas Boshaftes mit. Aber eine ganz besondere Rolle auf dem Gebiet der Propaganda fiel dem Kino zu. Nach Vorführung des ersten Films mit dem Titel „Frühliche Jungs“, den Liedern „Herz“ und „Marsch der fröhlichen Jungs“ hatten sie Sofia innerhalb weniger Tage erobert. Überall ertönten sie – in russischer und bulgarischer Sprache. Dann kam „Der Zirkus“, Als das Lied „Groß ist mein Heimatland“ ertönte, war der ganze Kinosaal zutiefst ergriffen. Es war auch wirklich ergreifend und durchlutete das Herz mit Stolz. Ich sah mir alle Filme an, traf bei der Gelegenheit nicht selten Tarzan und tauschte dann mit ihm meine Eindrücke aus. Diese Gemeinsamkeit der Interessen stimmte mich ihm gegenüber wieder versöhnlich.

Die Ereignisse der Jahre 1938-38 wälzten sich als vages, undeutliches und verfälschtes Echo bis nach Bulgarien heran. Weder das Wesen noch die ganze Tragweite dessen, was geschehen war, gelangten ins Bewußtsein, und selbst Raskolnikows Flucht und sein nachfolgendes Auftauchen in Frankreich als „Nichtrückkehrer“ riefen merkliche Resonanz hervor. Allerdings vollzog sich in Emigrantenkreisen eine gewisse Belebung: es keimten Gespräche über Spinnen in der Dose und den baldigen Zusammenbruch der Bolschewiken auf, aus Kisten und Truhen wurden mottenzerfressene Hosen mit Biesen hervorgekramt, Namen wie Wladimir“ und Anna“ hatten ihren Bedarf verloren, aber im allgemeinen war die Aufmerksamkeit der Leute durch die Geschehnisse absorbiert worden, die sich in unmittelbarer Nähe entfaltet hatten. Hitler verschlang Österreich, als nächstes waren die Sudeten an der Reihe, danach ganz Jugoslawien. In Bulgarien gewannen die Rechten an Macht. Die Oppositionsparteien wurden verboten, selbst die Mazedonier verstummten, und anstelle von Mitteilungen über den nächsten mazedonischen Mord tauchte4n nun Informationen über über politische Prozesse und Verhaftungen auf. Politische Jugendorganisationen erblickten das Licht der Welt. Unter ihnen auch die chauvinistische Organisation „Ratniks“ („Krieger“ zur Verbreitung des bulgarischen Nationalgeists; nationalistische bulgarische, quasi-militärische Jugend-Organisation, gegründet 1936;Ideen nahe dem deutschen Nationalsozialismus mit rechtsgerichtetem Nationalismus, Antisemitimus, aber auch Ergebenheit gegenüber der bulgarischen Orthoxen Kirche; Anm. d. Übers.). Formell war die Teilnahme von Schülern an diesen Organisationen verboten, aber in Wirklichkeit tauchten an den Uniformjacken immmer häufiger Abzeichen auf, darunter auch ein roter Kreis mit Zickzackpfeil – das Emblem der „Ratniks“. In den Toiletten wurden die üblichen Unanständigkeiten durch politische Aufschriften verdrängt. Zum Beispiel: „Es lebe Hitler!“ Ein schwungvoll geführter Strich hatte den Namen „Hitler“ durchgestrichen und etwas weiter unten stand „Stalin“. Das wiederholte sich viele Male, so lange der Platz eben ausreichte. Schön anzusehen waren Hammer und Sichel. Darunter hatten die „Ratniks“ ihr Emblem dargestellt. Darunter hatten die Kommunisten wieder etwas gemalt, aber anstelle des Pfeils hatten sie dort ein zerbrochenes, zickzackförmiges, männliches „allerheiligstes“ verewigt und den „Ratniks“ angedroht, eine derartige Operation an ihnen vorzunehmen. Schließlich und endlich befand sich etwas weiter unten noch eine tiefsinnige Rezension: „Wie weit istr es mit der Freiheit des Wortes gekommen, wenn die Aborte zur einzigen Bühne menschlicher Gedanken geworden sind!?“ In einer Welt solch brodelnder Leidenschaften verliefen also die letzten Jahre meiner Gymnasialzeit und weder der Nachtigallengesang noch das Gurren von Nadja Jastrebowaja konnten ihr dumpfes Gedröhn dämpfen.

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