„An der Front operieren Aufklärungstrupps.“ (Aus einem
Heeresbericht der deutschen Wehrmacht)
„Die Truppen der Alliierten sind auf 180 Yards in gegnerisches Territorium
vorgestoßen.“ (Aus einem Heeresbericht der britannischen Kommandozentrale).
Oft muß ich bei meiner Erzählung in das Gerüst meines persönlichen Lebens Fragmente des allgemeinen Lebenspanoramas einfügen und, um nicht die Ganzheit der Wahrnehmungen durcheinanderzubringen, ist es gelegentlich erforderlich, zeitlich noch einmal in die Vergangenheit zurückzuschweifen, aber auch vorzugreifen, was mitunter die Chronologie der Ereignisse stört. Aber ich denke, dass dies nicht der Logik ihrer Entwicklung schadet – und vor allen Dingen nicht der Wahrheit des Lebens. Wenn wir also nun ein wenig sprunghaft vorrücken, gelangen wir zeitlich zum Abschluß meiner 6. Klasse am Gymnasium, das heißt meinem Eintritt ins 17. Lebensjahr oder in das Jahr 1939 der Menschheitsgeschichte. Der Sommer war gekommen, und ich machte mich auf den Weg zu den topographischen Arbeiten. Diesmal führte mich der Weg an den äußersten südwestlichen Punkt des Landes, wo die Grenzen Bulgariens an Griechenland und Jugoslawien stoßen. Die Gegend lag in einem entlegenen Randgebiet. Mit dem Zentrum war es durch eine ziemlich schlechte Chaussee verbunden, die sich auf den letzten hundert Kilometern in eine Schmalspurbahn verwandelte, auf der einmal pro Tag ein „Kuckuck“ (Bezeichnung für eine Kleinbahn; Anm.d.Übers.) verkehrte. Das Gelände stellte sich als hügeliger Talkessel dar, durch den das Tal des Flusses Struma verlief, der sich anschließend seinen Weg durch eine hohe Bergkette bahnte und schließlich, bereits auf griechischem Territorium, ins Ägäische Meer mündete. An den Rändern des Tals erhoben sich hohe Berge: der Pirin, der Belasiza und andere, vor deren Hintergrund sich dramatischen Ereignisse der bulgarischen Geschichte abspielten. Der Berg Belasiza, einst Arena des Krieges zwischen Bukgarien und Byzanz, zeigte sich als steinerne Mauer, die Bulgarien den Ausgang zum Meer versperrte. Dieser historisch und geographisch ganz natürliche Ausgang war viele jahrhundertelang Gegenstand der Bestrebungen des bulgarischen Volkes und ein großer Zankapfel mit Griechenland. Zu der Zeit, über die ich hier schreibe (und dies ist auch heute noch so) befand sich das Belasiza-Massiv vollständig in den Händen der Griechen, und an seinen Abhängen wurde ein mächtiges Festungssystem errichtet – die „Metaxas-Linie“ (Verteidigungswall der griechischen Armee im Zweiten Weltkrieg entlang der griechisch-bulgarischen Grenze in Ostmakedonien und Thrakien. Sie trägt ihren Namen nach Ioannis Metaxas, einem griechischen General und Politiker, der zwischen 1936 und 1941 Griechenland als Diktator regierte; Anm. d. Übers..), von der aus man die Kanonenkugeln und Geschütze des gesamten Talkessels im Visier hatte. Einzelne langfristige Verteidigungs- und Stützpunkte waren von uns aus zu sehen. Das Klima im Talkessel, der von allen Seiten mit hohen Bergen umgeben war, war sehr heiß und es herrschte praktisch überhaupt kein Wind. Selbst die nächtliche Kühle machte die Hitze nicht erträglicher, außerdem gab es so gut wie kein kaltes Wasser. Die unterirdischen Quellen und artesischen Öffnungen brachten warmes, und manchmal sogar regelrecht heißes Wasser hervor, das in der Regel in Tonkrügen aufbewahrt wurde, wo es dann langsam auf eine angenehme Temperatur abkühlte. Das Wasser hatte Heilwirkung, aber es schmeckte nicht und konnte auch den Durst nicht löschen. Die Bevölkerung betrieb im wesentlichen den Anbau technischer Kulturen: Tabak, Baumwolle, Mohn u.a.; daher gab es so gut wie kein „Weidefutter“. Für uns, die Angereisten, war es auch mit dem Lebensunterhalt recht schwierig. Der Alltag der Bevölkerung unterschied sich auffallend vom Leben in den nordbulgarischen Gebieten. Hier lebte man zurückgezogen innerhalb der Grenzen seines Hofes, der mit einer Mauer aus Lehm oder unbehauenen Steinen umgeben war. Es gab keine Läden, keine Bäckereien – alles, was zum Leben notwendig war, wurde zuhause hergestellt, und in dem kleinen Dorflädchen gab es hauptsächlich Kerosin, Nägel und alle möglichen Kleinigkeiten, die man in Haus und Hof benötigte. Es fehlten auch die für bulgarische Dörfer eigentlich so typischen „Tschitalischa“, eine Art ländlicher Kultureinrichtungen, ähnlich wie ein Klub (meist mit Bibliothek, Theater, Musik- und Tnzveranstaltungen; Anm. d. Übers.). Mit einem Wort – wir lebten unter Menschen, allerdings wie auf einer unbewohnten Insel. Wir ernährten uns hauptsächlich von Gemüse, das man auch kaufen konnte, und den von uns mitgebrachten Vorräten an Konserven und Räucherwaren. Brot wurde einmal pro Woche von der Eisenbahnstation gebracht. Es herrschten schwierige Arbeitsbedingungen. Vor der unbarmherzigen Sonne konnte man nirgends Schutz suchen, und manchmal ruhten wir uns aus, indem wir ein Oberhemd über das Theodoliten-Stativ (Theodolit = geodätisches Gerät zur Horizontal- und Höhenwinkelmessung (Vermessungstechnik); Anm. d. Übers.) hängten und unsere Köpfe in das durch diesen Vorhang entstandene Schattendreieck legten. Wenn es uns mitunter gelang, zur Mittagszeit in der Nähe unseres Zuhauses zu sein, stürzten wir uns auf den steinernen Trog, in den aus den Rohren ein ständiger Strom warmen Wassers floß, und tranken bis zum Umfallen. Dann traten wir ins Haus, in dem es aufgrund der Wände aus gestampftem Lehm angenehm kühl war, und nachdem wir uns dort auf einen Hocker gesetzt hatten. lauschten wir dem Tropfen unseres auf den Boden strömenden Schweißes; es klang so, als ob es regnete. Abends bereiteten wir unser Essen zu. Sehr bald begannen unsere Räucherwaren – Schweinerippchen – zu verderben, und es kam immer häufiger vor, dass in der Suppe weiße Würmer auftauchten. Aber Hunger ist ja nichts Ungewohntes – wir waren daran gewöhnt. Du sammelst sie heraus, wirfst sie weg und – ißt weiter. Ein Festtag war es für uns, wenn wir zufällig in der Mittagszeit oder am Abend in die Nähe des Badehauses gelangt waren, das etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt lag, wo man auch irgendwelche Gerichte finden konnte, in erster Linie Sauermilch, dieses berühmte bulgarische Produkt.
Außerdem konnte man sich dort ausgiebig waschen. Das Badehaus zeigte sich als einstöckiger Kuppelsaal mit einem Wasserbecken in der Mitte und Nischen, in denen man sich waschen mußte, bevor man sich ins Bassin begeben durfte. Das Wasser fürs Badehaus kam mit einer Temperatur von 70 Grad aus einer unter der Erde hervorsprudelnden Quelle. Deswegen wurde das Wasser in regelmäßigen Intervallen ins Becken geleitet und mußte dann etwa 2-3 Tage abkühlen, bevor man darin eintauchen konnte. Der Wasserüberschuß floß über einen kleinen Kanal in den Fluß Struma ab, der in einer Entfernung von etwa einem halben Kilometer am Badehaus vorbeiführte. An der Stelle, an der das warme Rinsel in den Fluß mündete sammelten sich immer viele Fische. Mitunter fanden sich ein paar krummstämmige und verkümmert aussehende Feigenbäume, und ich konnte diese Früchte zum ersten Mal in frischem Zustand essen. Eine wunderbare Sache. Zeitungen erhielten wir zusammen mit der Brotlieferung und – mit großer Verspätung. Ich muß dazusagen, denn dem heutigen Leser könnte es merkwürdig vorkommen, dass wier nur sehr schlecht über das informiert waren, was sich in der Welr zutrug, dass man zu der damaligen Zeit über das Fernsehen allenfalls ein paar Worte verlor, Radiogeräte gab es auch nicht – allenfalls einige individuelle Rundfunkempänger, die sehr teuer waren und die sich deswegen bei weitem nicht jeder leisten konnte. Aus diesem Grunde stellten also Zeitungen praktisch die einzige Informationsquelle dar, und der Leser mußte sich Kraft seines Intellekts und seiner Interessen anhand von zahlreichen Kleinigkeiten und Bruchstücken selbst die Wahrheit aus dem Riesenberg von Zeitungsenten herausfischen; jene „Enten“, die wir bereits in der einzigen soliden Ausgabe, den „Paraguayer Nachrichten“, erwähnt hatten. Deswegen nagten wir in jenem denkwürdigen Sommer am Hungertuch, und zwar nicht nur in körperlichem Sinne, sondern auch was die geistige Nahrung betraf. Und da eines Tages, als es bereits Zeit war, sich wieder auf den Heimweg zu machen, um sich wieder auf den Schulunterricht vorzubereiten, der am 15. September beginnen sollte, schickte man mich zu einem Rendevous mit dem Chef, Ingenieur Abadschiejew, das an einem Ort stattfinden sollte, der sich in gleicher Entfernung von dem Dorf, in dem unsere Brigade untergebracht war, und dem, in dem der Chef mit seinen Leuten Quartier bezogen hatte, befand. Das Treffen war für die Aushändigung des Lohns und eventuelle Instruktionen vorgesehen. Sie fand in den ersten Septembertagen statt, ganz früh am Morgen, denn wir begannen mit unserer Arbeit in der Morgendämmerung, wenn es noch nicht so heiß war, die Luft noch nicht flimmerte und die Geräte bei der Ausrichtung und Einstellung ihre Genauigkeit noch nicht eingebüßt hatten. Und da erfuhr ich, dass inzwischen der nächste Weltkrieg ausgebrochen war. Zusammen mit dem Geld übergab Abadschiejew mir einige Zeitungen, aus denen wir auch vom Überfall Deutschlands auf Polen und der nachfolgenden Kriegserklärung Englands und Frankreichs erfuhren. Das kam nicht völlig unerwartet. Wir wußten bereits von den territorialen Ansprüchen an Polen und die unaufhörliche Entwicklung der Ereignisse, als, anstelle des erwarteten Abkommens zwischen Frankreich, England und der UdSSR, nach dem Mißerfolg dieser Verhandlungen, der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Hitler-Deutschland geschlossen wurde. Nichtsdestoweniger bedeckte die Nachricht vom Krieg alles mit einer düsteren Wolke der Besorgnis und Unsicherheit über das, was der morgige Tag bringen würde. Einige Tage später kehrte ich nach Hause zurück. Äußerlich hatte sich, wie es schien, nichts verändert, aber in allen Geschäften hingen Plakate: „Nur noch bis zum 30. August zu den gültigen Preisen kaufen!“ Diese Mitteilung war für die Käufer unmißverständlich; und die Verkäuferinnen begannen unverzüglich damit, die Preise zu erhöhen, die Waren heimlich wegzulegen, um damit ein künstliches Defezit hervorzurufen. Es war ganz natürlich, dass nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesamte Ordnung, das gesamte gesellschaftliche Leben, unter dem Zeichen des Krieges verlief, und wenngleich die Kampagne in Polen nach einigen Wochen beendet war und die militärischen Aktivitäten im Westen praktisch nich gar nicht begonnen hatten, unterschied sich die ganze Atmosphäre schon merklich von der Stimmung, die an der Schwelle des 31. August anzutreffen war. Für uns, die Russen, war der Einmarsch der Sowjettruppen in die West-Ukraine und Weißrußland ein besonderes Ereignis. Meiner Meinung nach ließ dieser Tatbestand niemanden gleichgültig; er brachte vielmehr eine gewisse Belebung und Spaltung in den Emigrantensumpf. Ein Teil fing an über die „sowjetische Bedrohung“ zu klagen, bei anderen war das Gegenteil der Fall: sie nahmen die Neuigkeit mit Geenugtuung auf, als einen Schritt der Rückkehr Rußlands in seine historischen Grenzen. In besonderen Lagern vermischten sich sowohl Liberale als auch Konservative sowie Vertreter der jungen Generation. Die Idee der Grenzüberprüfung wurde auch von anderen Ländern aufgegriffen. Ungarn und Bulgarien erhoben ihre Stimmen zur Rückgabe eines Teils der während des Ersten Weltkrieges verlorenen Landstriche. Zum Sündenbock wurde Rumänien, das nach dem Krieg auf Kosten der benachbarten Gebieten angewachsen war: Transsylvanien, das hauptsächlich von Ungarn besiedelt war, die bulgarische Dobrudscha und unser Bessarabien. Die Bewegung um die Rückgabe der Drobudscha nahm einen ganz großen Aufschwung. Hier und da wurden spontane Zusammenkünfte abgehalten, es fanden Demonstrationen vor den Botschaften der Nachbarländer statt. Die Leidenschaft kochte auch innerhalb der Schulen und Schulklassen. Ich persönlich sympathisierte im Großen und Ganzen mit der Idee, blieb jedoch abseits von diesem ganzen Trubel stehen. Ich lebte bereits mehr von den Geschehnissen, die Rußland – und nicht Bulgarien – betrafen. Trotzdem berührten sie mich. Einmal, auf dem Heimweg, an der Endstation meiner Straßenbahn, die zu dem Platz führte, auf dem die Kirche der „Heiligen Woche“ stand, die ich bereits mehrfach erwähnte, geriet ich in einen Menschenauflauf aus vorwiegend jungen Leuten, die den Platz überflutet hatten und nationalistische Losungen und Lieder brüllten. Ich kam in der Menge nicht voran und hatte keine Chance, die Straßenbahn noch zu erreichen. Ich blieb stehen, um der Szenerie ein wenig zuzuschauen und zu lauschen. Ein paar Polizeiangehörige versuchten die Ordnung wiederherzustellen, aber die Menge, die für eine kurze Minute vor der Polizei auseinandergerückt war, drängte unverzüglich wieder zusammen. Im Großen und Ganzen ar das alles sehr interessant. Plötzlich kam es in diesem Menschenstrudel zu einem irgendwie stürmischen Durcheinander, und bevor ich noch begreifen konnte, worum es eigentlich ging, wäre ich um ein Haar durch den heftigen Stoß in den Rücken eines hinter mir aufgetauchten Kleppers umgerissen worden. Die berittene Polizei hatte also in die Angelegenheit eingegriffen. Damals gab es kein Tränengas oder das sonst heute übliche Arsenal, mit dem man Leute wieder zur Vernunft bringt. Hauptargument waren zur damaligen Zeit die Nagajka (Riemenpeitsche; Anm. d. Übers.) sowie Feuerfehrspritzen. Es war Herbst, vielleicht auch Vorfrühling, wie dem auch sei: ich trug einen Mantel und brachte deswegen für die Wiedervereinigung Bulgariens keine besonderen Opfer. Das ganze endete mit einer Konferenz der führenden Politiker Deutschlands, Italiens und der UdSSR, die auf Rumänien „Druck“ ausübten und auf diese Weise die Forderungen seiner Nachbarn zufriedenstellten. Die Dobrudscha wurde an Bulgarien zurückgegeben, Bessarabien an die UdSSR angegliedert, und auch Ungarn bekam einen Bissen zugeworfen. Diese Aktion knüpfte Bulgarien und Ungarn endgültig an die deutschen Kampfwagen an, und dem zerrupften Rumänien blieb nichts anderes übrig, als Miene zum bösen Spiel zu machen und sich freiwillig Deuschland anzuschließen, indem es im eigenen Lande das faschistische System Antonescus aufbaute.
Inhaltsverzeichnis Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel