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P. Sokolow. Schlaglöcher

Teil 2 . JUGEND

Kapitel 10. Neue Gesichter, neue Freunde

„Mir ist seit langem
Die selbstlose Freundschaft der Männer bekannt...“
(Aus dem Lied „Leben, ich liebe dich“)

Was hatte sich in persönlicher Hinsicht geändert? Erstens waren wir in eine neue Wohnung umgezogen, was ich bereits weitläufig erwähnte. Der Umzug war das Resultat einer gewissenen Zunahme unseres Wohlstands. Da ich im Sommer arbeitete, sammelte ich einiges Geld an, das nicht nur für die Deckung der Schulkosten reichte, sondern es blieb auch noch ein wenig für unser Familienbudget übrig. Außerdem hatte die etwas engere Verflechtung in den Beziehungen mit Deutschland einen Erhöhung des Interessenbedarfs an der deutschen Sprache ausgelöst, so dass bei der Mutter wieder ein paar Privatschüler erschienen. Später, zur Winterszeit, fiel mir von eben jenen Landsleuten gelegentlich eine Arbeit zur Erstellung von Dokumentationen für die im Freien geleisteten Vermessungsarbeiten zu. Und obwohl sich seit Beginn des Krieges ein jäher Preisanstieg ereigenet hatte war inzwischen, nachdem man gegen die Spekulanten strengste Maßnahmen ergriffen hatte, wieder eine gewisse Stabilität eingekehrt, und wir lebten, wenn auch nicht in materiellem Wohlstand, so doch keineswegs im Elend. Unsere Wohnung bezogen wir fast genau gegenüber unserer ehemaligen Bruchbude, die bald darauf tatsächlich unter der Last ihres Alters und der türkischen Dachziegel einstürzte. Das Haus besaß drei Etagen. In der obersten befand sich unsere Wohnung, genauer gesagt – unser Zimmer mit kleiner Küche. Das Haus stand ganz hinten auf einem Grundstück, auf dem ein Teil mit Bäumen bepflanzt war, während der andere sich als Wiese darstellte, auf dem im Sommer das zur Wirtschaft gehörende Vieh weidete; und zum Winter wurde für die Tiere Heu gemäht. Aufgrunddessen war das Betreten der Wiese oder andere Fleckchen, auf denen Gras wuchs, kategorisch verboten, und für die Bewohner blieben nur die Plätze hinter den Häusern, die mit Brennesseln und Klettern überwuchert waren. Die Hauswirte, mit Nachnamen Nojkow, benahmen sich nicht sonderlich freundlich. Der Mann war ein mürrischer Alter, der uns nur wenig Aufmerksamkeit schenkte; er war in Haus und Hof beschäftigt. Und sie, eine dickliche, krötenähnliche und äußerst streitsüchtige Frau, die häufig Geschrei und Skandale wegen irgendwelcher Nichtigkeiten heraufbeschwor – und das mitunter gänzlich ohne jeden Grund. Die beiden hatten zwei Söhne. Der ältere, Mitka, wer Chemie-Ingenieur; er versuchte die ganze Zeit, ohne sichtbaren Erfolg, seine „Angelegenheiten“ zu regeln; der jüngere, Petka, hatte schon zu unserer Zeit das Gymnasium beendet, aber er trieb sich jetzt ohne Arbeit herum und war ein gehöriger Taugenichts und Failenzer. Die ganze Familie hielt sich ausnahmslos für Kommunisten. Angesichts der eingeschränkten Bewegungsfreiheit wurden unsere paraguayischen Aktivitäten zu Chanow verlegt, wo es ebenfalls ein bemerkenswertes Hofgrundstück gab und wo niemand gegen unsere Spiele protestierte. Mit zunehmendem Alter änderte sich auch der Charakter unseres Zeitvertreibs. Wir befaßten uns viel weniger mit leerem Gerede; stattdessen gab es häufiger Diskussionen zu ernsthaften Problemen – Politik, Ethik u.ä. ImHause der Chanows kam auch eine interessante Erwachsenengesellschaft zusammen, die dort gemeinsam Schach spielte und dem Rundfunkempfänger lauschte, was wiederum Nahrung für scharfe Streitgespräche zum Thema Politik gab, denn alle Stammgäste besaßen unterschiedliche Standpunkte. Unsere Bewegungsspiele beinhalteten einen eher organisatorischen, sportlichen Charakter. Es war noch nicht lange her, dass Fußballmannschaften aus Moskau in Sofia gewesen waren: „Spartak“ und „Dynamo“. Das war vermutlich die erste Auslandsreise sowjetischer Sportler. Der Handel mit Eintrittskarten war kolossal, aber das Ergebnis des Spiels war für die Mannschaften aus Sofia niederschmetternd. Nach diesen Gastspielen teilte sich unsere Generalität in „Spartak“- und „Dynamo“-Anhänger, und all unsere Wettbewerbe liefen unter diesem Zeichen ab. Ich war Spartakianer und habe diesem Klub bis heute die Treue gehalten. Verständlich, dass auch unsere sportliche Konkurrenz in die Seiten der „Paraguayer Nachrichten“ eingeflochten wurde. Ich kann mich noch an einige Verse aus dem Werk Wanka Tinis erinnern:

„Sag’ mal, Pawel, es war doch nicht umsonst, dass wir - Danka, mit schweren
Schritten herumhüpfend, wir mit unserer paraguayischen Hitze und
Bobik mit seinen wackelnden Ohren – die im Fußball besiegt haben.
Alle sind vor unseren Augen im Nu vorübergehuscht.
2 : 0 haben wir sie besiegt. Alle waren hier.

Die Erde hat durch die stachlige Hecke hindurch gebebt, wie unsere Ohren,
„Dynamo“ hat sich wie eine schwarze Wolke heranbewegt.
Alles hat sich miteinander vermischt, aber unsere Seelen
Waren mit einer mächtigen Kraft erfüllt.
Wir haben die Heiligkeit unserer Birne bewahrt,
Sie mußten zurückweichen.
Und wir haben den Kampf mit allen Ehren ausgetragen.“

Es wurden auch Schachturniere ausgetragen, und zwar nicht nur unter uns, anläßlich der Paraguayer Meisterschaften, sondern auch Mannschaftswettkämpfe mit den alten Leuten, die wir in der Regel verloren. Die Gesellschaft selbst hatte sich inzwischen aufgrund der Tatsache ein wenig vergrößert, dass wir auch die heranwachsende Generation, vertreten durch die Chanow-Schwestern, teilnehmen ließen, die wir einstweilen nicht für voll nahmen; sie besaßen keine Titel und zählten nur zu den Sympathisanten. Tatsächliches Mitglied der Gesellschaft wurde lediglich eine, an die Wanka seine Sympathien verloren hatte, die den Titel eines Generalsadjutanten erhielt. Sie besuchte die letzte Klasse des Gymnasiums, war Bulgarin und hörte auf den Namen Jelena, aber aufgrund ihrer miniaturhaften Größe wurde sie von allen nur Mini genannt, so dass ihr richtiger Name bei uns fast vollständig in Vergessenheit geriet. Verständlich, dass es auch noch andere Mädchen gab, aber in Verbindung mit ihnen veränderten sich die „Gruppen- oder Team-Arbeiten“ immer mehr zu individuellen Tätigkeiten, die zu erörtern oder kommentieren sich, übrigens, in unserer Gesellschaft nicht schickte. Unter den Neulingen befand sich auch eine gewisse Marusja Godsikowskaja, ein Mädel von 12-13 Jahren, die Freundin des jüngsten Chanow. Mit ihren Eltern, beide Invaliden, und ihrem jüngeren Brüderchen lebte sie in großem Elend im Invalidenhaus. Sie ging am Russischen Gymnasium zur Schule und wohnte während des Schulbetriebs im Internat, wobei sie sich allerdings an den freien Tagen zu Hause aufhielt. Sie war mager, mit schwarzen Zöpfchen, und es gab nichts Bemerkenswertes an ihr, außer den großen, grauen Augen, die ständig ihre Farbe und ihren Ausdruck wechselten und in denen sich alles viel überzeugender widerspiegelte, als man es mit Worten ausdrücken konnte. Für gewöhnlich traf ich mich samstags nach dem Schulunterricht mit Kot und Wanka. Wir besprachen unsere Pläne für den Sonntag und anderes. Mitunter kehrte ich zusammen mit Marusja nach Hause zurück. Später bat sie mich extra darum mit ihr zu gehen. Das war mir lästig und paßte mir gar nicht. Ich war schon ziemlich erwachsen – und dann in Gesellschaft einer solchen Jammergestalt! Aber vor allem dann, wenn ich mit ihr an ihren Internatsfreundinnen vorüberging, die sich paarweise in ihr Wohnheim begaben, dann faßte sie mich bei der Hand,und ihre wunderschönen Augen strahlten so glücklich, dass ich nicht den Mut hatte, ihre diese Begegnungen zu verwehren. Bei den Chanows, wo ständig irgendeiner von den obdachlosen Russen wohnte, tauchte anstelle von Danka Kurakin,der mit seiner Mutter irgendwoanders untergekommen war, ein gewisser Aljoschka Walch auf. Er war mit Mutter und Schwester hierhergekommen; woher – das weiß ich nicht mehr. Die beiden Frauen waren einander sehr ähnlich: klein, unansehnlich und irgendwie auch ein wenig merkwürdig. Der Leiter des Invalidenhauses – Abramowitsch – hatte ihnen Obdach gewährt, und sie nahmen dort einen Status ind er Art von Hausangestellten ein. Aljoschka dagegen war bei Chanow untergekommen, mit dem er auch zusammen in der Fabrik arbeitete. Mütterlicherseits war Aljoschka Halb-Pole, etwa 23-24 Jahre alt, von gut mittlerer Größe; er hatte kein sonderlich ansprechendes Gesicht und tiefliegende, blaue Augen. Im Unterschied zu seinen kränklichen Angehörigen war er kräftig und gesund wie ein Bulle. Er hatte die Schule nicht abgeschlossen und war im Umgang mit wissenschaftlichen Fragen wenig gewandt, aber immerhin ziemlich intelligent, wobei er auch merkliche Spuren einer familiären Erziehung aufwies. Wir hatten keinen engen Kontakt, wenngleich er gelegentlich an unseren Gesprächen und allgemeinen Spielen teilnahm. Da ich in der Nachbarschaft häufiger zu den Chanows kam, sah ich auch Aljoschka öfter, und das brachte uns ganz unmerklich zusammen. In der Folgezeit zog er mich mit in eine Genossenschaft zum Weißen von Wohnungen. Chef der Genossenschaft war Aljoschkas Freund, ein gewisser Oleg Gojer. Er war Nachfahre einer baltischen Baronenfamilie. Der Vater, ein kahlköpfiger Dickwanst mit gebogener Nase und dünnem Schnurrbärtchen, das zuerst nach unten zeigte und sich dann wie ein spitzer Pfeil jäh nach oben bog, war das typische Abbild eines Ostsee-Deutschen. Er war auf seinen Titel äußerst stolz, und an der Tür seines Zimmers im Invalidenheim hing sogar eine Visitenkarte: Baron von Gojer und Boot. Ihm ähnlich war auch der jüngste Sohn, der später die deutsche Staatsangehörigkeit annahm und so tat, als ob er bei der Hitler-Luftwaffe gedient hätte. Oleg war in dieser Familie das häßliche Entlein. Er fühlte sich als aufrechter Russe und pfiff auf seine Baronen-Herkunft. Um den Vater zur Weißglut zu bringen, hatte er auch sein Visitenkärtchen an die Tür geheftet: Oleg Gojer – Anstreicher. Im übrigen hatte sein Äußeres schon etwas Baronenhaftes. Er war hochgewachsen, nahm aber stets eine gebeugte Haltung ein. Er verfügte über eine schiefe, große, ziemlich aristokratische Nase und einen spärlichen, rötlich schimmernden Schnurrbart. Er stotterte merklich und stieß gern äußerst komische Flüche und Verwünschungen aus. Im allgemeinen gab es im Frühling reichlich Arbeit; dann nahm Oleg mich und Aljoschka als Gehilfen. Für gewöhnlich bedienten wir 2-3 Kunden. Aljoschka und ich strichen und weißten die erste Schicht mit dem Pinsel; dann kam Oleg mit der Farb-Spritzpistole, kümmerte sich um die Türfüllungen oder trug an den Stellen Farbe auf, die er mit dem Wohnungsinhaber abgesprochen hatte. Er entlohnte uns verläßlich und großzügig, und wir arbeiteten mit ihm freundschaftlich und fröhlich zusammen. Mitunter mußte ich wegen dieser Malerarbeiten die Schule seinlassen, aber ich lernte gut und diese Unterrichtsversäumnisse wirkten sich nicht auf meinen Leistungsstand aus. Die folgenden Monate waren weniger reich an bemerkenswerten Ereignissen des persönlichen Lebens; sie wurden vielmehr von Geschehnissen mit globalem Charakter in den Schatten gestellt, in denen sich eine ganze Reihe individueller Schicksale einfach ausflösten oder wieder einrenkten, und deswegen werden sich auf den nächsten Seiten nicht allzu viele Fakten aus meiner Biographie finden.

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