„Der Weg nach Rußland führt durch Deutschland.“
(Aus den Losungen der Anwerber für das Schützenkorps)
Als die erste Aufregung vorüber war, begann eine Zeit des nüchternen
Nachdenkens über die entstandene Situation und die eigene Position. Allerdings –
in ruhe abwarten, das konnte ich nicht. Also traf ich mich bereits Anfang Juli
mit meinem langjährigen Freund Sorokin, mit dem ich einst die Schulbank im
Russischen Gymnasium gedrückt hatte. In der Folgezeit war Sorokin an das
bulgarische Jungen-Gymnasium N° 6 gewechselt, in dem wir bis zum vergangenen
Jahr, als wir eine neue Unterkunft bekamen, gemeinsam in ein- und demselben
Gebäude Unterricht hatten, allerdings in verschiedenen Schichten. In der Zeit
zwischen diesen Schichten begegneten wir uns häufig, und wenngleich wir nicht
sonderlich eng befreundet waren, verstanden wir uns gut und hatten gemeinsame
Ansichten. Jetzt absolvierten wir beide unsere Prüfungen und trafen uns
zwischendurch, denn wir hatten genügend Zeit, um über alles zu reden. Sorokin
empfand ebenfalls ein schmerzliches Gefühl um die Heimat, und auch er befand es
für notwendig zu handeln; und da beschlossen wir, zur sowjetischen Botschaft zu
gehen. Dieser Schritt war ziemlich gefährlich. Auf die sowjetische Botschaft
hatte man ein Auge geworfen, als wäre es ein Schreckgespenst; dort wußten sie,
dass sie sich unter ständiger Beobachtung befanden und dass diejenigen, die sich
dorthin begaben, nicht selten in die Fänge der Polizei gerieten und dann dort
über die Absichten ihres Besuchs verhört wurden. Jetzt, unter Bedingungen, da
Bulgarien, obwohl es nicht selber am Krieg teilnahm, vollständig Deutschland
zugetan war, schien so ein Unterfangen doppelt riskant. Nichtsdestoweniger waren
wir entschlossen und machten uns also, bekleidet mit unseren Schuluniformen, auf
den Weg zur sowjetischen diplomatischen Vertretung. Allerdings gingen wir nicht
durch den Haupteingang, vor dem ein Polizist stand, von dem wir annahmen, dass
er uns den Zutritt verweigern würde, sondern zum Seiteneingang, an der es eine
Klingel mit der Aufschrift gab, dass man die Pforte beim Erklingen des Summtones
aufdrücken konnte. Wir läuteten und hatten große Angst, dass man uns verhaften
könnte, noch bevor es uns gelungen war, die Tür zu öffnen. Nach 5-6 Sekunden
ertönte der Summer und die Pforte ließ sich aufdrücken. Uns empfing ein düster
dreinblickender Typ, offensichtlich der Pförtner. Nachdem er unsere wirren Worte
angehört hatte, geleitete er uns durch einen Vorbau in ein kleines Zimmer und
befahl uns dort zu warten. Schon bald trat ein junger, elegant gekleideter Mann
in gewichsten Stiefeln zu uns, der in etwa dem karikaturistischen Ebenbild eines
„Beraters“ entsprach. Wir trugen ihm unsere Bitte vor, uns in die UdSSR zu
schicken. Er hörte uns geduldig zu, lobte uns für unseren patriotischen Ausbruch.
Dann führte er uns an eine große Landkarte heran, auf der er uns die Lage an den
Fronten zeigte und optimistische Prognosen über die Entwicklung der
militärischen Aktionen äußerte; aber dann erklärte er, dass er nach derzeitigem
Stand der Dinge unserem Wunsch nicht entsprechen könne. Da stellte ich ihm,
vermutlich angeregt durch frühere Fluchtpläne nach Spanien, die Frage, wie wohl
die Behörden reagieren würden, wenn wir einfach aus freien Stücken in die UdSSR
fahren würden. Er antwortete, dass in der UdSSR Kinder nicht für das
verantwortlich sind, was ihre Eltern getan haben, und dass man uns Verständnis
entgegenbringen würde. (Ich weiß nicht, inwieweit er aufrichtig war). Auf die
Frage, was wir denn nun tun sollten, reagierte er ausweichend; er meinte nur,
dass wir wiederkommen sollten, wenn wir irgendetwas Interessantes erfahren
würden. Entmutigt verließen wir das Gebäude, aber wir waren auch von einem
gewissen Geist der Einigkeit mit dem sowjetischen Volk erfaßt. Niemand hielt uns
zurück, und damit waren unsere Kontakte beendet. Einige Tage später erhielt ich
mein Reifezeugnis und fuhr zur Arbeit – diesmal in ein kleines Städtchen im
Norden Bulgariens. Zu der Zeit war Abadschijews Firma zerfallen, und P.P.
Schukow hatte bei einem neuen Chef angefangen zu haben. Ich kann mich an seinen
Nachnamen nicht mehr erinnern, aber er war Russe und hieß Nikolaj Iwanowitsch.
Er war mit einer wohlhabenden Bulgarin verheiratet. Sein Schwiegervater nahm zu
dieser Zeit den Posten des Kriegsministers ein. Nikolaj Iwanowitch war 40 und
ein paar Zerquetschte, hatte eine große Glatze, die von den glatt gekämmten,
restlichen Haaren eingerahmt war. Er trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern
und ähnelte eher einem nicht sehr weit vorangekommenen Arzt. Zu seinem Personal
gehörten, außer Schukow, drei junge Leute, zwei Russen sowie ein Bulgare, der,
wie meine früheren Volontär-Freunde, ebenfalls die Landvermesser-Fachschule
absolviert hatte. Er war 28 Jahre alt, etwas weniger emotional, aber genau so
ein überzeugter Kommunist. Er hieß Chajduschki. Er sprach ganz gut Russisch und
hatte es gern, wenn Fjodor Iwanowitsch sich an ihn wandte. Im Gegensatz zu den
vergangenen Jahren, als wir uns draußen nur zufuß fortbewegten, wobei wir bis zu
unserem Arbeitsplatz mitunter 5-6 km zurücklegen mußten, fuhren wir diesmal mit
dem Automobil. Es handelte sich um einen alten – sehr alten Chevrolet, ein
äußerst primitives Modell aus den 1930er Jahren, aber er lief störungsfrei und
ausdauernd. Mit ihm konnte man Ackerland befahren, dichte Maisfelder
durchbrechen und außerdem mit 6-8 Personen in dem fünfsitzigen Wagenkasten
sitzen – mitsamt Werkzeugen und Zeichenbrettern. Gefahren wurde er von einem
Ortsansässigen, einem bulgarisierten Russen namens Wolodja oder Wlado, wie die
Bulgaren ihn nannten. Anfangs war ich als Arbeiter in Nikolaj Iwanowitschs
Gruppe bei der Dreiecksvermessung tätig, später vertraute man mir selbständige
Arbeiten in der Vermessung von Truppenübungsplätzen und dann im Bereich der
Nivellierung an. Manchmal mußten wir ziemlich weit gehen, und am Ende des Tages
kam dann der Chevrolet angefahren und brachte uns nach Hause, aber es kam auch
gelegentlich vor, daß er aufgrund irgendwelcher Defekte nicht kommen konnte, und
dann mußten wir entweder 8-10 km zufuß heimtrotten oder in einem Strohhaufen
übernachten. In einer solchen Nächte dröhnte über uns ein Flugzeug, und einen
Tag später gab es in der Zeitung eine Mitteilung, daß etwa 50-60 km von uns
entfernt Fallschirmspringer gelandet seien. So machte sich der Krieg selbst in
dieser abgeschiedenen Gegend bemerkbar. Einmal, als man uns am alleräußersten
Rande unseres Objekts „vergessen“ hatte, beschlossen wir, uns irgendwo eine
Unterkunft, ein Obdach zu suchen. Nachdem wir einen der Arbeiter nach Hause
geschickt hatten, mit der Bitte, uns von dort Lebensmittel zu holen, machten ich
und der zweite uns im 2,5 km entfernten Nachbardorf, in dem deutsche Kolonisten
wohnten, auf die Suche nach einem Nachtlager. Ich hatte sie auch früher schon
aus der Ferne gesehen und mich über ihre gediegenen Fuhrwerke und wohlgenährten,
großen Pferde gewundert, aber hier versetzten mich nun die gepflegten Häuschen
und Blumenbeete in Erstaunen. Bereits in der ersten Hütte wurden wir aufgenommen,
aber als allererste Amtshandlung rief die Hausbewohnerin zwei Mädchen herbei,
die uns warmes Wasser brachten und uns energisch zum Waschen – vor allem der
Füße – aufforderten; danach betraten wir das Haus. Man bewirtete uns mit Brot,
Milch und Honig und führte uns anschließend in ein Zimmer, in dem ein Bett mit
schneeweißer Bettdecke und einem ganzen Berg von Kissen stand. Wir wollten gegen
einen derartigen Luxus protestieren, aber davon wollte die Hausfrau kein Wort
hören.
Sie ließ uns allein; wir sahen uns ein schweigend um und legten uns dann zum
Schlafen auf den Fußboden. Der Sommer verging. Diesmal mußte ich nirgends
hineilen, und so blieb ich bis zum Ende der Außenarbeiten im Dorf, um danach auf
abenteuerlicher Weise mit dem gänzlich erschöpften Chevrolet die Berge zu
überqueren; und so kehrten wir mitten in der Nacht, durch mein Heimatstädtchen
fahrend, das ich im Dunkeln überhaupt nicht richtig zu sehen bekam, nach Sofia
zurück, wo ich meine Arbeit in Nikolaj Iwanowitschs Firma wieder aufnahm, wobei
ich nun allerdings scgon mit dem Zeichnen der Ergebnisse unserer
Bodenvermessungen beschäftigt war. Unser Kontor, welches aus einem einzigen
großen Raum bestand, war im dritten Stock eines großen Gebäudes im Stadtzentrum
untergebracht. Die gesamte Zimmermitte nahm ein (etwas 2 x 4 Meter) großer Tisch
ein; dies war unser aller Arbeitsplatz. Es gab auch noch zwei einzelne Tische.
Der eine stand am Fenster: auf ihm saß ein technischer Zeichner, der alle
Blätter in Tusche nachzeichnete, die wir anhand der Vermessungsdaten lediglich
mit einem Bleistift zusammengestellt hatten. Der andere Tisch befand sich am
gegenüberliegenden Ende des Raumes; dort arbeitete Nikolaj Iwanowitsch. Übrigens
ging er häufig fort, um verschiedene Dinge zu erledigen, doch auch während
seiner Anwesenheit ging es immer äußerst ungezwungen zu: wie unterhielten uns,
erzählten Anekdoten und Witze. Ab und zu gönnten wir uns eine Verschnaufpause;
dann schickten wir einen von uns los, um Weintrauben oder andere Früchte zu
besorgen. Wichtigstes Gesprächsthema war die Politik. Wir spalteten uns in zwei
heftig diskutierende Lager. In dem einen, dem prosowjetischen, waren ich,
Chajduschki sowie der Zeichner Georgij Ottowitsch Zetermann, ein Mann von 50
Jahren, mit dicken Brillengläsern, der niemals die Zigarette aus dem Mund nahm.
Er war als hochqualifizierter technischer Zeichner bekannt, wurde von allen
respektiert und geachtet, einschließlich des Chefs, war aber gleichzeitig auch
Gegenstand von Angriffen jeglicher Art. Er war gehässig und antwortete auf jeden
Angriff mit einem Gegenschlag. Erstens versuchte man ihn zu tadeln, weil er,
seiner Herkunft nach ursprünglich Deutscher, sich gegen Deutschland äußerte. Das
verletzte Zetermann; er bewies, daß er kein Deutscher war, sondern Schwede, und
bat sogar darum, ihn notfalls für einen Juden zu halten – nur nicht für einen
Deutschen. Wir drei waren eine freundschaftliche Gesellschaft, und unsere
Opponenten, die wohl durch ihre antisowjetische Einstellung miteinander vereint
waren, verloren dennoch im Kampf der Wortgefechte, weil sie sich untereinander
nicht vollständig einig waren, weil es bei ihnen innere Widersprüche gab. Einer
von ihnen, Pankratow, ein Kosak, beharrte vor allem auf seinem persönlichen Ich,
der zweite dagegen – er hieß Sgonnikow, war leidenschaftlicher Monarchist und
Anhänger eines einheitlichen, nicht teilbaren Programms; und der dritte, mit
Naman Filimonow, hatte sich einer der neumodischen Strömungen mit ziemlich
verschwommenen Leitlinien profaschistischer Art angeschlossen. Nikolaj
Iwanowitsch nahm an den Diskussionen nicht teil; er litt schweigend und fühlte,
daß unsere Wortgefechte, wenn alle ihren Bleistift und ihr Lineal hinwarfen,
keineswegs die Arbeitsproduktivität förderten. Oft gab es auch ganz einfach nur
unterschiedliches „Gelächter“. So brachte Sgonnikow beispielsweise einmal ein
Tütchen Sahnebonbons mit, das er unter ihnen allen aufteilte. Zetermann, der von
seiner permanenten Raucherei jegliches Geschmacksempfinden verloren hatte, kaute
lange Zeit, und erst als er bemerkte, daß das Konfekt überhaupt nicht kleiner
wurde, kamen ihm Zweifel auf, und er fand heraus, daß man ihm eine Fälschung aus
Wachs untergejubelt hatte. Er nahm das folgende Gelächter mit stoischer Ruhe und
Gelassenheit hin, brachte jedoch einige Tage später ein ziemlich teures Gebäck
mit, das äußerlich wie Nüsse, Eicheln und ähnliches aussah und in dessen Inneren
sich eine Creme aus Nüssen befand. Einige wunderten sich über eine derartige
Verschwendung. Alle ließen es sich schmecken und beglückwünschten den Helden des
Tages. Plötzlich heulte Sgonnikow auf: „Ottowitsch! So eine Sauerei!“ Es stellte
sich heraus, daß jener, obwohl er jeden selbst ein Stück aus der Tüte hatte
nehmen lassen, es so gedreht hatte, daß Sgonnikow sich ausgerechnet das Stück
nahm, in dessen Füllung er Chininpulver eingebracht hatte. Sgonnikow spuckte den
ganzen restlichen Tag, während Zetermann ebenso lange unerschütterlich vor sich
hin lächelte und sich fleißig über sein Zeichenbrett beugte. Einmal provozierte
Pankratow Zetermann erneut, indem er erklärte, wie nach dem Sieg der Deutschen
Zetermanns Aktien steigen könnten, weil er doch einen deutschen Nachnamen hatte.
Ottowitsch war wieder gekränkt und fing an davon zu erzählen, daß, egal wer auch
immer er sei, er seinen Familiennamen ganz bestimmt niemals ändern würde; aber
ihr würdet euch bald umbenennen müssen – in Filimonowmann, Sgonnikowdorf ,......
„Und wie soll ich dann heißen?“ fragte Pankratow. „Aus Ihnen wird ein reiner
Ukrainer – mit Namen Pinkrat-Sal......“. Da hatte Ottowitsch ja ein gänzlich
unerwartetes, aber sehr gelungenes Wort hinzugefügt, so daß alle, einschließlich
Pankratow selbst, laut auflachten. Und sogar Nikolaj Iwanowitsch gab in seiner
Ecke ein zufriedenes Grunzen von sich. So verging der Winter. Für gewöhnlich
gingen wir nach der Arbeit mit Chajduschki und sprachen auf ernsthafter Ebene
über Politik. Bald darauf übernahm er mir gegenüber so eine Art Patenschaft, und
ich fing an, mich durch ihn an die Arbeit einer illegalen Parteiorganisation zu
gewöhnen. Trotz der Tatsache, daß ich als echter erwachsener Arbeiter tätig war,
brach ich die Beziehungen zu meinen alten Freunden nicht ab. Kot war aus der
Gemeinschaft ausgeschieden. Im Herbst war er in die Armee einberufen worden. Er
verrichtete seinen Militärdienst beim Stabsinfanterieregiment in Sofia. In
meiner Vorstellung mußte er, mit Kopfhören über den Ohren, an einem von allen
möglichen Apparaturen umgebenen Tisch sitzen, um so mehr, als Kot seine
Tätigkeit stets mit einem Schleier des Geheimnisvollen umhüllte. Einmal beschloß
ich ihn zu besuchen. Der diensthabende Wachmann am Eingang wollte wissen, wohin
ich wollte und ließ mich dann passieren, wobei er mir kurz mit dem Finger den
Weg zum Regimentsstab wies. Als ich dort in das kleine Zimmer, das einem Vorraum
ähnelte eintrat, sah ich Kot, der mit gekreuzten Beinen auf einer großen Truhe
saß. Mit anderen Worten: seine Pflichten als Melder bestanden darin, daß er
eigentlich als einfacher Laufbursche tätig war. Aber diese Sache ist von
zweitrangiger Bedeutung. Abends gingen Mutter und ich fast täglich zu den
Nojkows, unseren ehemaligen Wohnungsvermietern. Ich sage „ehemalige“, weil sie
unsere Wohnung inzwischen als Laboratorium für ihren ältesten Sohn Mitko
eingerichtet hatten, der seine nächste Geschäftsidee ausprobieren wollte, und so
waren wir in ein kleines Nebengebäude umgezogen, das etwa 200 m näher an
Knjaschewo und direkt an der Straßenbahn-Haltestelle lag. Die Nojkows besaßen
einen Rundfunkempfänger, aber die Unkenntnis der Sprachen hinderte sie daran,
daß sie Sendungen aus Moskau oder London hören konnten. Die Mutter spielte in
solchen Fällen die Rolle der Übersetzerin und Kommentatorin. An der Front sah es
schlecht aus. Die Deutschen strebten gen Moskau, allerdings nicht so erfolgreich,
wie sie es vermutet hatten. Radio London erinnerte in seiner
französischsprachigen Übertragung täglich an Hitlers Versprechen, das er dem
deutschen Volk gegeben hatte, den 7. November mit einer Parade der deutschen
Truppen auf dem Roten Platz zu begehen, und zählte die Tage, die dem Führer noch
übrigblieben, um sein Versprechen zu erfüllen. Ein Tag nach dem anderen
verstrich, aber die siegesbewußte Wehrmacht kam nicht recht voran: immer noch
trat sie in den Schneemassen vor Moskau von einem Fuß auf den anderen. Endlich
kam der Tag der langersehnten Parade ... und voilà! Die Parade fand statt, aber
nur die der sowjetischen Truppen. Wir beglückwünschten einander als allererste
zum 7. November, dem Symbol für den Sieg des Sozialismus nicht nur im Jahre
1917, sondern auch im Jahre 1941. Nachdem die Deutschen ihre Reserven
zusammengekratzt hatten, führten sie ihre Truppen aus dem Teil Jugoslawiens,
einschließlich der Territorien heraus, auf die die Bulgaren Anspruch erhoben,
und übergaben sie an Bulgarien zur weiteren militärischen und administrativen
Verwaltung. Einerseits erzeugte dies nationalistische Euphorien, andererseits
aber auch entschiedene Unzufriedenheit, denn die durch den Krieg zerstörte
Wirtschaft in den neuen Landesteilen, die in ihrer Gesamtgröße etwa mit der
Hälfte des Landes vergleichbar waren, benötigte dringend Unterstützung, was sich
auf die Lebensqualität im alten Bulgarien auswirkte. Insbesondere wurden für
eine Reihe von Lebensmitteln Bezugskarten eingeführt, unter anderem auch für
Brot, welches sie neuerdings mit einer Beimischung aus Mais, Soja und anderen
Surrogaten buken. Zum Jahr 1942 traf die erfreuliche Nachricht von der
Niederlage der Deutschen bei Moskau und Rostow ein. Es wurde klar, daß die Pläne
von einem Blitzkrieg gescheitert waren und nun ein langer Kampf mit fragwürdigem
Erfolg für die Deutschen bevorstand. Aus diesem Anlaß wurde die Idee geboren,
das neue Jahr gebührend zu feiern. Wir stürzten uns förmlich darauf (ich besaß
ja jetzt Geld!), opferten eine ganze Reihe von Lebensmittelkarten und begaben
uns in irgendeine Wohnung (ich war zuvor noch nie dort gewesen). Eine Menge
Menschen waren dort zusammengekommen, Erwachsene und junge Leute, darunter
unbekannte bulgarische Mädchen. Aber in der Hauptsache waren dort die Paraguayer,
einschließlich Kot, der direkt aus der Kaserne gekommen war – in groben, für ihn
viel zu großen Stiefeln sowie einer Jacke aus dickem Tuch. Von seiner ganzen
früheren Eleganz und Akkuratesse war keine einzige Spur mehr zu sehen. Das neue
Jahr wurde sowohl nach der in Sofia gültigen Zeit, als auch nach Moskauer Zeit
begangen, wobei sich alle gegenseitig Glückwünsche und Toasts zusprachen. Bis
zum Morgen wurde getanzt, man beschäftigte sich mit allen möglichen Spielen und
weissagte die Zukunft. Im Großen und Ganzen war dies der erste und auch letzte
vollwertige Festtag im Kreise meiner Freunde. Dort lernte ich auch ein
sympathisches Mädel kennen, tanzte mit ihr und verabredete mit ihr sogar ein
weiteres Rendevous. Als wir uns später bei leichtem Schneefall trafen und auf
der Bank herumknutschten, erzählte sie mir, daß sie bei der Polizei arbeitete
und hielt mir ihren Ausweis unter die Nase. Ich unternahm nicht den Versuch
herauszufinden, was dort ihre Pflichten und Aufgaben waren, aber meine Gefühle
für sie waren im Nu dahingewelkt; und danach kam ich mit ihr auch nicht mehr
zusammen. In Zusammenhang mit der Erschließung der neuen Landesteile wurde eine
zusätzliche Mobilisierung ausgerufen, und mein politischer Lehrmeister –
Chaijduschki – wurde in die Armee einberufen. Einen Monat später kehrte er
wieder zurück, und in ihm hatte eine deutlich wahrnehmbare Wende stattgefunden.
Der Rausch des Nationalismus war auch auf ihn übergegangen. Er verhielt sich
gemäßigter in seiner Kritik an der Regierung, seinen Sympathien zu
Sowjet-Rußland und seiner feindlichen gesinnung gegenüber dem Faschismus.
Übrigens wurden viele von dieser Stimmung erfaßt.
Von nun an wurden wir seltener von den Nojkows eingeladen, das Radiogerät wurde, unter vielen Ausflüchten und Vorwänden, nicht mehr eingeschaltet, Mitka befaßte sich auf Bestellung der deutschen Armee mit irgendwelchen Tätigkeiten. Mit einem Wort: ich war ganz schön enttäuscht, und die Gemeinsamkeit meiner Interessen mit denen der bulgarischen Kommunisten bekam einen Riß. Erneut fühlte ich mich einsam und verlassen. Dieser Umstand führte mich noch näher mit Schanows Vater und Aljoschka Walch zusammen, denn wir wurden von zahlreichen gemeinsamen Gedanken und Gefühlen getragen. Zu der Zeit endete meine Arbeit bei Nikolaj Iwanowitsch. Der Großteil der kartografischen Arbeiten war abgeschlossen, und bis zur neuen Saison auf freiem Feld wurden einige von uns entlassen. In kapitalistischen Ländern ist so etwas ganz einfach: man teilt dem Betreffenden dies zwei Wochen vorher mit und dann - „leb wohl, Täubchen!“ Es gab weder Gewerkschaften noch irgendeine finanzielle Unterstützung für arbeitsfreie Tage. Übrigens, ganz ohne Arbeit blieb ich nicht. Einer der Konkurrenten von Nikolaj Iwanowitsch stellte mich ein, ein gewisser Angelow. Gearbeitet wurde bei ihm zuhause, am anderen Ende von Sofia. Anfangs verrichtete ich dieselben Tätigkeiten, wie bei Nikolaj Iwanowitsch; später schlug der Chef vor, daß ich als technischer Zeichner arbeiten sollte – wie unser Ottowitsch. Zuerst hatte ich Angst, aber bald gelangen mir die Zeichnungen ziemlich gut. Zetermann stand mir mit Rat und Tat zur Seite, und ich gewöhnte mich nach und nach ein. Angelow war zufrieden und gab mir sogar eine Gehaltserhöhung, wenngleich ich auch damit nicht das Lohnniveau erreichte, daß den Bulgaren für die gleiche Arbeit zustand. Ich sagte bereits, daß die Regierung, mit dem Ziel Arbeitsplätze zu schaffen, diskriminierende Gesetze gegen Ausländer eingeführt hatte, was die Arbeitgeber auch weidlich ausnutzten, indem sie uns zu niedrigem Lohn und ohne jegliche soziale Garantien einstellten. Im übrigen machten sie hinsichtlich der Herkunft eines Menschen keine Unterschiede, wenn es nicht um Rechte, sondern um Pflichten ging. So hatte ich bereits ein Anmeldeformular erhalten und wurde im Herbst des Jahres in die Armee einberufen. Das verfinsterte mein Leben ganz erheblich. Für viele Monate würde meine Mutter keine finanzielle Unterstützung durch mich bekommen, und ich sollte mich in einen stummem Statisten auf der politischen Bühne verwandeln. Im März trat ein Ereignis ein, welches große Resonanz im Leben der Emigranten fand und auf einen Schlag meine ganzen Zukunftspläne durcheinanderbrachte. Aus dem besetzten Jugoslawien trafen kaum Nachrichten ein. Es hieß, daß es dort einen Volksaufstand gegeben hätte und ein Partisanenkrieg am Brodeln wäre. Später kam das gerücht auf, daß sich in Belgrad Truppen aus Emigrantenkreisen formierten, welche von den Deutschen nach Rußland geschickt werden sollten – in der Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Bürgerkriegs. Diese Gerüchte wurden zur Realität, als in Sofia Anwerbe-Vertreter für dieses erste Freiwilligenkorps auftauchten. Sie geizten auch nicht mit Versprechungen und Reklame-Aktionen. Für viele besaß all dies eine große Anziehungskraft, und Interessenten kamen sowohl aus der alten Generation der Weißgardisten, als auch aus den Reihen der jungen Leute. Eine Welle von Anmeldungen setzte ein. Einmal erörterte ich diese Frage mit Aljoschka. Die Losung „Der Weg nach Rußland führt durch Deutschland“, mit der die Anwerber um sich geworfen hatten, verstanden wir auf unsere Weise: es war der einzig mögliche Weg, auf russischen Boden zu gelangen, und, dort angekommen, bestand dann schon die ganz reale Möglichkeit, zur Roten Armee oder zu den Partisanen überzuwechseln. Und so fällten wir unsere Entscheidung. Chanow ließ Vorsicht bei seiner Bewertung dieser Perspektiven walten, begegnete dieser Idee jedoch im Großen und Ganzen mit Verständnis, und Chajduschki, mit denen ich meine Pläne ebenfalls teilte, unterstütze sie sogar voll und ganz. Komplizierter war da schon die Unterredung mit der Mutter. Sie zeigte ebenfalls Verständnis für unsere Beweggründe, aber natürlich konnte sie ein derartiges Abenteuer nicht leichten Herzens gutheißen. Meine Argumente, daß man mich so oder so in die Armee einberufen würde und sie ohne jegliche finanzielle zurückbleiben müßte - in einer Zeit, in der man hier doch eigentlich eine ganz hervorragende Unterstützung bekam – wies sie kategorisch zurück; und es wurde darüber dann auch nicht weiter diskutiert. Im allgemeinen war es ein schwieriges Gespräch, aber es gelang mir, sie zu überzeugen oder zumindest meine Entscheidung durchzusetzen. Wenige Tage später waren sämtliche Formalitäten erledigt, und der erste Zug frischgebackener „Kontras“ fuhr in Richtung Belgrad ab.
Ende des ersten Buches
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