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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil 3. Die Condottieri

Kapitel 16

„Mein Regiment, mein Vaterland“
(Altes Soldatenlied)

Was war das nun für ein neues Durcheinander, in dem wir uns da befanden? In Deutschland wurden, genau wie in der Sowjetunion auch, amtliche Militärformierungen – falls man das überhaupt so ausdrücken kann, aus bestimmten Rängen der Miliz oder den Reihen der Polizeitruppen geschaffen. Eine derartige Formierung wurde auch in Belgrad vorgenommen. Ihre Grundlage bildeten Kader-Beamte (beispielsweise unsere aus der Stadt Breslau), die sich anschließend vor Ort mit dem gewöhnlichen Bestand aus „Volksdeutschen“ umgeben sollten, also deutschen Kolonisten und anderen Personen deutscher Nationalität. Wie die Zugehörigkeit zur Herrenrasse festgestellt wurde, habe ich bereits erwähnt. In Jugoslawien gab es ganze Gebiete mit deutschen Schichten, und wohl deswegen vollzog sich diese Formierung gerade hier. Zu dieser Zeit hatte sich bereits eine ganze Division unter der Bezeichnung „Prinz Eugen“ zusammengefügt, die sich an der russischen Front befand. Dieser Sache schlossen sich Geschäftemacher aus der russischen Emigrantenszene an. An der Spitze dieser „Sache“ stand ein gewisser Hauptmann Semjonow, ein ebensolcher Volksdeutscher wie die Sidorows und Iwanows, die die Reihen der neuen Bataillone ergänzten. Allerdings besaß Semjonow einen wesentlichen Vorteil: er sprach sehr gut Deutsch, war mit einer Deutschen verheiratet, die Besitzerin einer kleinen Sägemühle war. In der Vergangenheit war Semjonow Offizier der russischen Garde gewesen,; er verfügte über aristokratische Manieren, war immer in der eleganten Uniform eines SS-Offiziers gekleidet und verstand es in talentierter Weise, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Er war von kleiner Statur, schlank, hatte ein angenehmes, glatt rasierten Gesicht, einen frommen Gesichtsausdruck in seinen kleinen grauen Augen, die von dichten schwarzen Brauen verdüstert wurden. Später nannte man Semjonow aufgrund seines witzboldähnlichen Aussehens „Fakir“. Als wir ihn kennenlernten, trug er die Bezeichnung Hauptmann (Hauptsturmführer der SS) und da er kein Kommando innehatte, besaß er einen weit verzweigten Apparat von Anwerbern und hielt sich für den „Vater“ unserer Formation.

Die bei ihrer Ankunft Angeworbenen vervollständigten das 3. Bataillon des zu formierenden Regiments. In der ersten Zeit wurde an alle eine Uniform der deutschen Polizei, die sich lediglich durch einen schmalen Streifen über dem linken Ärmelaufschlag unterschied und die Aufschrift „Deutsche Wehrmacht“ trug, welche darauf hinwies, daß die dazugehörende Person nicht den Polizeitruppen, sondern den Streitkräften angehörte. Ebenso waren diese Truppenteile auch in administrativer Hinsicht der Armeegruppe Süd-Ost und unmittelbar vor Ort den Chefs der entsprechenden Armeegarnisonen unterstellt, nicht aber den Polizeibehörden. Die Kasernen, in den wir untergebracht waren, hatten vor dem Krieg irgend so einem „Haufen von der königlichen Garde“ gehört, hatten jedoch später als Unterkünfte für deutsche Einheiten gedient, wovon Bildchen aus dem Armeealltag zeugten, die jemand auf professionelle Weise mit einem Bleistift (oder Kohle) an den Wänden der Korridore verewigt hatte und die mit scherzhaften Untertiteln in gotischer Schrift versehen waren. Ich eile der Geschichte ein wenig voraus, wenn ich sage, daß sich auch unter uns Könner befanden, die sämtliche Wände der „Kantine“ (was das ist, erkläre ich später) mit Themen aus russischen Märchen vollschmierten. All das wurde farbig gemalt und hätte ebensogut als dekorative Gestaltung eins beliebigen öffentlichen Platzes dienen können. Die Schlafräume waren für einen ganzen Zug oder mehr gedacht. Zuerst war nicht ganz deutlich, was nun eigentlich genau diese Unterabteilungen darstellten; es gab zunächst lediglich Gruppen, mit denen die Instrukteure sich beschäftigten. Zu den neuen „bulgarischen“ Rekruten zählte nur unsere Gesellschaft der Deserteure aus Mitrowitsa, die übrigen waren „Serben“, viele hatten auch mit Recht und Unrecht versucht, aus dem Schutzkorps überzulaufen. Zuerst hielten wir uns ein wenig isoliert; wir versammelten uns nach dem Unterricht auf einer kleinen Lichtung, die sich auf dem angrenzenden Territorium befand, welches von dem unseren – rein symbolisch natürlich – durch einen Stacheldrahtzaun abgeteilt war. Auf diesem Gelände befanden sich die Garnisonshauptwache, der tiermedizinische Dienst sowie eine Kaserne, die anfangs leer stand, später jedoch von einer Kavallerie-Schwadron eingenommen wurde, die, ebenso wie wir, teilweise aus „Angeworbenen“ bestand. Die Ausbildung lief vorwiegend auf Kampfvorbereitungen mit deutscher Gründlichkeit hinaus. Sie wurden auf einem großen Platz durchgeführt, ebenfalls auf dem Kasernengelände oder auf einem asphaltierten Platz, der von einem u-förmigen Wohnblock eingerahmt war. Mit uns befaßte sich ein gewisser Sieger; er kam aus den Reihen der Unteroffiziere, die vorübergehend aus anderen Bataillonen abkommandiert worden waren, um uns auszubilden. Kompanie-Kommandeur und Feldwebel (der Hauptfeldwebel oder Spieß“, wie die Deutschen ihn inoffiziell nennen), stammten aus dem Personenkreis des Regiments oder Bataillons, welche in diesem Block untergebracht waren. Singer war ein Bursche von etwa 26-28 Jahren, ruhig und gutmütig, und wenngleich er seine Unterrichtsstunden mit aller erforderlichen Strenge abhielt, so, wie es sich in der deutschen Armee gehört, machte er dennoch nicht viel Aufhebens, und sogar Strafen, wie beispielsweise das Rennen um den Hof oder das Hinlegen und Aufspringen in schneller Folge, die eigentlich für deutsche „Exerzitien“ traditionsgemäß üblich sind, nahm man ihm nicht wirklich übel. Nach und nach näherten wir uns auch unseren jugoslawischen Landsleuten. Einer von ihnen zog sogleich unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das war ein gewisser Boris Choldej, ein Mann von 36-37 Jahren, ziemlich groß und von wenig stattlichem Aussehen. Er hatte eine gebeugte Haltung, und die Beine waren in den Kniegelenken irgendwie nach hinten durchgedrückt; außerdem hatte er einen großen eher langen Kopf ,it hervorspringendem Kinn und einer großen Nase. Zwischen dieser ins Auge fallenden Nase und dem Kinn befand sich ein Mund mit dünnen Lippen in der Form einer „Ischitsa“ (Name des letzten Buchstabens im kirchenslawischen und altrussischen Alphabet, der den Laut „i“ bezeichnet; Anm. d. Übers.), so, wie bei Gogols Iwan Iwanowitsch – vom ständigen ironischen Lächeln. Seine Augen waren sehr hell, sie wirkten wie ausgeblichen, lebhaft und glänzten oft genug von der nächsten boshaft-tückischen „Gemeinheit“, die er sich ausgedacht hatte, wie er selbst es auszudrücken pflegte. Zur Vervollständigung des Porträts muß man noch die spärlichen und leicht grau-melierten Haare erwähnen, die vom Scheitel aus zu beiden Seiten des Kopfes glattgekämmt waren. Die nähere Bekanntschaft mit ihm trug sich folgendermaßen zu. Einmal, nach einem freien Tag, beschäftigten wir uns mit der Handhabung von Gewehren und übten abteilungsweise eine ganze Stunde lang, wie man das Gewehr schultert und wieder herunternimmt – „Und eins! Und zwei!“ Ich langweilte mich, schlug jedoch gewissenhaft mit der Handfläche ans Gewehr. Dasselbe machte neben mir auch Cholodej. Gegenüber, die Gesichter einander zugewandt, hatte eine zweite Reihe Aufstellung genommen, in einer Entfernung von etwa 4-5 Metern. Uns gegenüber stand ein kleines Männlein von ungefähr 40 Jahren, das ganz offensichtlich an einem Kater litt. Sein ganzes, von Längs- und Querfalten durchzogenes Gesicht drückte Schwermut und Hoffnungslosigkeit aus. Ich war schon vor längerer Zeit auf ihn aufmerksam geworden, aber da ich mit meinen Gedanken beschäftigt war, maß ich ihm keine sonderliche Bedeutung bei. Plötzlich drang das zischelnde Flüstern Cholodejs an mein Ohr: „Sieh mal, sein Gesicht sieht aus, wie ein benutztes Präservativ“. Das war un wirklich die ausführlichste Definition dieser äußeren Erscheinung, für die ich mühsam einen geeigneten Vergleich gesucht hatte. Natürlich brach ich in Gelächter aus, wofür ich unverzüglich im Laufschritt um unsere Formation geschickt wurde. Anschließend verlangte Sieger eine Erklärung für mein Benehmen. Sajenko, so hieß der Besitzer der eindrucksvollen Physiognomie, stand weiterhin mit dem Ausdruck tiefsten Weltschmerzens im Gesicht da und blickte mit gleichgültigen Augen auf die Szenerie, in der ich zusammengestaucht und zurechtgestutzt wurde. Ich versuchte in aller Ruhe den Grund für meinen Lachausbruch zu erklären, wobei ich den Sachverhalt entsprechend in deutscher Sprache darlegte. Sieger blickte auf Sajenko und begann nun auch zu lachen. Im übrigen mußte ich aber, der guten Ordnung halber, trotzdem noch weiterlaufen. Nach diesem Zwischenfall fühlten Boris und ich sogleich unsere Seelenverwandtschaft, und er wurde bald zum Mittelpunkt und zur guten Seele unserer Truppe, die dann allerdings kurze Zeit später auseinanderfiel. Obuch fing an sich einzuschmeicheln und Annäherung an die Deutschen zu suchen, Schulz, der auch früher schon gelegentlich ein Mitläufer gewesen war, wechselte die Seiten, und Wolodja Eismont, der physisch recht schwach und psychisch eher für Büroarbeit als zum Feldsoldaten geeignet war, trat schon bald bei der sogenannten „Werbestelle“ an, d. h. der Behörde, die sich mit der Dokumentenerstellung für Neuzugänge, dem Kontakt zu den Familien sowie der Regelung verschiedener rechtlicher und finanzieller Fragen befaßte. Zu dem aus Aljoscha, mir und Boris Cholodej zusammengesetzten Triumvirat gesellte sich bald darauf auch Tolja Schechowzow, ein Bursche von 17 Jahren, der den Abschlußkurs des russischen Kadettenkorps, das vor dem Krieg zusammen mit dem russischen Gymnasium auf jugoslawischem Boden existierte, nicht beendet hatte. Absolventen dieses Korps hatten die Möglichkeit, an die Jugoslawische Militärfachschule aufgenommen zu werden, und viele ihrer Zöglinge dienten danach in der jugoslawischen Armee, unter anderem auch in der „Königlichen Garde“, deren Kasernen wir derzeit bewohnten. Das Korps war Brutstätte eines erzreaktionären Monarchismus und Antikommunismus, was selbst den Unmut des etwas liberaleren Teils der Emigrantenschaft hervorrief. Von dort war uns also auch unser Schechowzow zugeflogen, ein noch ausgemachter Grünschnabel. Er war groß, sah wohlgenährt aus, mußte sich noch nicht rasieren und hatte einen roten Haarschopf. Wegen seines ganzen langen, aber auch rundlichen Äußeren erhielt er den Spitznamen „Sosika“ (Würstchen; Anm. d. Übers.). Er schloß sich uns an, denn innerhalb unseres Kommandos gfab es nur wenige junge Leute, und Sosika sprühte nur so vor Energie, war stets dazu aufgelegt irgendetwas auszuhecken oder jemandem einen boshaften Streich zu spielen, und da hatte ihn unserer „humorbeseelte“ Gesellschaft geradezu angezogen. In einer derart engen Freundschaft verbrachten wir dann auch die folgenden Monate und Jahre. Eines schönen Tages fehlte beim Abendappell mal wieder entweder Sajenko selbst oder ein anderer Anhänger des Gottes Bacchus. Angehöriger der Kommandantur lieferten ihn erst am nächsten Morgen ab. Bis zu einem gewissen Punkt weckte dieses Ereignis kein besonderes Interesse, aber dann, nach dem Mittagessen, ertönte plötzlich das Kommando „Aufstellung nehmen“. Vor der Formation erschien der „Spieß“, ein Mann von riesigen Abmessungen, der Handschuhe trug. Er machte ein paar plumpe Witze und führte uns dann auf den großen Exerzierplatz. Und dann ging es los! Zwei Stunden lang mußten wir auf dem Boden herumkriechen, uns hinhocken, wobei wir das Gewehr mit ausgestreckten Armen vor uns halten mußten, bis wir wütend und völlig entkräftet in die Kaserne zurückkehren durften. Wie sich herausstellte, nannten die Deutschen diese Prozedur „Strafexerzieren“; es wurde als kollektive Bestrafung für Vergehen angewendet, die für jegliche militärische Unterabteilung eine Schande darstellen. Der Schuldige selbst konnte auch eine persönliche Strafe auferlegt bekommen, aber die gesamte Abteilung trug die Verantwortung dafür.

Natürlich wurde nach derartigen „Exerzitien“ Rache an den Schuldigen genommen, die mitunter recht grausam ausfiel. Auf der anderen Seite zwang die bloße Androhung einen dazu, auf solche Unzuverlässigen ganz besonders Acht zu geben, sie im Auge zu behalten, um so ihrer Aktivitäten, die sich auf das gesamte Kollektiv auswirken konnten, rechtzeitig zu unterbinden. Bei derartigen „Aktivitäten“ handelte es sich vorwiegend um Besäufnisse. Übrigens war es nicht das eigentliche Trinken, sondern dessen Folgeerscheinungen in Form vonVerhaftungen auf den Straßen der Stadt. Für Liebhaber des „grünen Banners“ (umgangssprachliche Bezeichnung für Schnaps, Wodka; Anm. d. Übers.) existierte in der Kaserne eine sogenannte „Kantine“. Das war ein großer Raum mit Tischchen und einem Verkaufsstand. In dieser Kantine konnte man allen möglichen Kleinkram kaufen: Rasierklingen, Nähgarn, Nadeln, manchmal auch Zigarren aus Tabaksurrogat, Briefumschläge und –papier, u.ä. Aber Hauptgegenstand des Verkaufsgeschehens waren schlechtes Bier und unterschiedliche Weine, darunter auch sehr gute jugoslawische Erzeugnisse. In der Kantine konnte man in seiner Freizeit im Rahmen seiner körperlichen und finanziellen Konstitution trinken, auch bis zum Umfallen – sofern man zum abendlichen Zählappell wieder auf zwei (und nicht auf vier) Beinen stehen konnte.Aber wenn sie außerhalb ihres Quartiers getrunken hatten und dort in einem desolaten Zustand vorgefunden wurden, dann galt das als großes Vergehen, besonders wenn der Schuldige durch die Feldgendarnerie aufgegriffen wurde. Außer der gewöhnlichen „Standpauke“ (auch: eine Tracht Prügel; Anm. d. Übers.) von Seiten der Kameraden, wurde der Saufbold noch zur Hauptwache gebracht, die sich, wie ich bereits sagte, gleich nebenan befand. Insassen dieser Institution wurden bei Wasser und Brot gehalten, zur Arbeit geführt, und wenn es keine Arbeit gab, dann mußten sie tägliche „Strafexerzitien“ absolvieren, allerdings ohne Gürtel und Waffen. Solche Maßnahmen körperlicher und moralischer Einflußnahme förderten die Festigung des nüchternen Lebensalltags, so daß sie im Laufe der Zeit auch immer seltener angewendet werden mußten.

 

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