„Nacht über Walewo. Das Stabsgebäude
Ist vom Mondlicht beschienen.
Und in langgezogenen Lauten quakt eine Kröte –
Die hiesige Nachtigall“.
(B. Chodolej)
Wir wurden in einer alten Kaserne einquartiert, wo früher einmal ein ganzes Regiment gehaust hatte. Wir nahmen einen einzigen Flügel ein. Es gab weder Wasser noch Kanalisation. Die Kaserne stand auf einem Hügel, der mit alten Bäumen bewachsen war, die sich zu einem parkähnlichen Areal zusammengefügt hatten. Im inneren des Hofes befanden sich ein Pferdestall und andere Wirtschaftsgebäude. Das gesamte Territorium war ringsherum von einem Stacheldrahtzaun umgeben, was eine ziemlich symbolträchtige Eingrenzung darstellte. Des Nachts schritten stets zwei Wachen den Zaun ab. Wir hatten uns schon bald darauf eingestellt: wenn man sehr langsam ging, dann schaffte man genau eine Runde in einer Stunde, d.h. man mußte das gesamte Areal zweimal innerhalb einer Schicht umkreisen. Ging man schneller, so brauchte man für eine Umkreisung nur 40 Minuten, so daß man sich die restlichen 20 Minuten bequem im Pferdestall ins Heu legen konnte. Ich zog es vor, von der zweiten Variante Gebrauch zu machen. Außerdem dem gewohnten Exerzieren bestand unsere wesentliche Tätigkeit im Wacheschieben. In der Stadt gab es noch zwei weitere Kasernen, in denen die Infanterie- und Artillerie- Unterabteilungen einquartiert waren. Um ein Uhr mittags wurde im Huf der Kommandantur die Wachablösung durchgeführt, von wo aus die Wachen anschließend zu den einzelnen Objekten auseinandergingen. Die Parole wurde allen Soldaten bei der Ablösung zugerufen. Außer unserem eigenen Quartier hatte unsere Kompanie auch fast immer noch ein anderes Objekt zu bewachen – die Lebensmittel-Vorratslager, ein Territorium, auf dem sich auch das Hospital und irgendwelche speziellen Intendantur-Dienste befanden. Mitunter gab es auch noch kurzfristig ein Objekt in Augenschein zu nehmen – das Kino. Das war der allerbeste Ort für den Wachdienst: man mußte sich vor Beginn der einzigen Vorstellung am Eingang postieren und für einen ordentlichen Ablauf sorgen, der übrigens auch von niemandem gestört oder verletzt wurde. Wenn die Filmvorführung begann, konnte man sich entweder in den Kinosaal begeben und den Film ansehen oder ins nebenan befindliche „Soldatenheim“ gehen, um dort ein paar belegte Brote zu essen und Kaffee oder Bier zu trinken. Nach der Filmvorführung mußte man erneut für einige Zeit am Ausgang des Kinos Aufstellung nehmen. Diese Aufgabe befreite einen allerdings nicht vom Exerzieren.
Ab und an nahm die Zahl der zu bewachenden Objekte zu, und es kam vor, daß sich ein Viertel der Soldaten der Kompanie auf Wachgängen befanden; mit anderen Worten: man mußte ein- bis zweimal pro Woche an diesem oder jenem Objekt Wache schieben. Außer dem Kino und dem Soldatenheim gab es keine weiteren Vergnügungseinrichtungen; daher verbrachten wir den Großteil unserer Freizeit in der Kaserne, schlossen nähere Bekanntschaft und freundeten uns mit unseren Kompanie-Kameraden an. Den Kern unserer Gesellschaft bildeten Chodolej, ich, Aljoschka Walch. Tolja Schechowzow – Würstchen. Schneller als die anderen schloß sich uns auch Chartschenko an, ein ehemaliger Zirkusartist und Zauberkünstler. Er war sehr hager, die Uniform hing an ihm herab wie von einem Kleiderhaken; er hatte einen Kopf mit leicht gebogener Nase, unter welcher der schmale Streifen eines Schnurrbarts schimmerte, und unter dem viel zu weiten Kragen seiner Militärjacke schaute ein langer Hals hervor. Unter dem Schnurrbärtchen schlängelte sich ein unanständig lächelndes Lippenpaar. Im Großen und Ganzen ähnelte er einer fossilen Echse, weswegen er von uns auch den Spitznamen Dinosaurier erhielt. Er war ein guter Erzähler, gab sich als Zyniker, aber im Grunde seiner Seele war er ein ordentlicher und gutmütiger Kamerad. Er war einer, der sich aus schwierigen Situationen geschickt herauswinden konnte, simulierte gern und drückte sich häufig vor dem Wachdienst. Mitunter, wenn der Hauptfeldwebel am Morgen nach dem Antreten das Kommando gab: „Rechtsum! Im Gleichschritt – Marsch!“ – drehte Chartschenko sich nach links, tippelte in sein Zimmer und legte sich schlafen, in dem er sich den Tatbestand zunutze machte, daß normalerweise niemand in die Schlafräume hineinschaute und sie ihn vor dem Abmarsch zum Exerzieren einfach darin einschlossen. Im übrigen hatte er damit oft kein Glück; dann jagten sie ihn hinaus und spannten ihn für irgendwelche Arbeiten ein. Einmal gelang es ihm aus der Formation zu entwischen, während die Soldaten durch den Park marschierten. Er stieg auf einen großen Hügel, der sich mitten im Park befand. Eine Seite des Hügels war ziemlich abschüssig, und an dieser Steilwan hing eine Mamortafel mit den Namen der Regimentssoldaten, die hier im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Chartschenko erklomm den Gipfel und genoß, im hohen Grase liegend, den Anblick der auf dem großen Platz ererzierenden Kompanie, wobei er ab und an auch gemütlich vor sich hindöste. Zu der Zeit begann der Kommandeur mit seinen üblichen Standpauken und verteilte seine Tadel. Das Geschrei tönte bis zu Chartschen ko hinüber. Der war der Meinung, daß man ihn entdeckt hatte. Er sprang auf die Füße, stürzte dabei und rollte geräuschvoll den Abhang hinunter. Im übrigen verstand er es, auch aus dieser Situation wieder einen Vorteil zu ziehen: er humpelte mühsam bis zur Sanitätsstelle und erbettelte eine Befreiung vom Dienst für insgesamt drei Tage. Diesmal hatte er Glück, denn sobald unser Feldscher einen Simulanten witterte, gab er diesem für gewöhnlich eine starke Dosis Abführmittel, und es war dann dem unglückseligen Schwindler nicht vergönnt, die gewünschte Ruhe zu genießen., was bei der erheblichen Entfernung zwischen Kaserne und dem „gastlichen Häuschen“ nicht die beste Erholung darstellte. Außer mit Chartschenko hatten wir auch häufig mit Maljuta Kontakt, einem ehemaligen Sänger aus einem zweitklassigen Restaurant, der ein lauter und giftiger Kritiker und Nörgler war. Er mochte etwa 45 Jahre alt sein, verfügte über eine laute Stimme und verstand sich prächtig aufs Trinken. Und da waren noch zwei Funktionäre, die sich miteinander angefreundet hatten – Tarasow und Stachow. Das waren intelligente Leute, die sich in keiner Weise ähnelten. Sie machten sich ständig übereinander lustig, wobei sie sich, wenn sie den anderen an einer empfindlichen Stelle getroffen hatten, mit dem Ausdruck „falsche Schlange“ beschimpften. Und so verpaßte man ihnen den Beinamen „Schlangen“. Der eine war „die Würgeschlange“, der andere die Blindschleiche“. In der Kompanie wurden Pferdefuhrwerke sowie ein Kraftfahrzeug der Marke „Opel Blitz“, eine Art „GAS 51“, als Transportmittel verwendet. Der Fahrer war ein gewisser Wasjuta. Vor dem Krieg war er der Chauffeur von König Alexander gewesen. Er war unheimlich dick und gutmütig. Manchmal, wenn wir uns alle zusammen auf irgendeinem Bett herumlümmelten, schlich Wasjuta heran und warf sich ebenfalls darauf, und dann bog sich die Liegestatt immer ganz fürchterlich durch. Es gab auch Karrieremacher, die bestrebt waren sich einzuschmeicheln, sich überall lieb Kind zumachen. Sie verkehrten häufig mit den Deutschen und erreichten letzendlich immer ihr Ziel. Unter ihnen befand sich auch unser ehemaliger Freund Obuch, der in der Folgezeit den Rang eines Leutnants erhielt und zur allgemeinen Zufriedenheit in den Bataillonsstab ausschied. Ein anderer, ebenso gearteter, war ein gewisser Orlow, ein schwerfälliger Mann an die 50, mit glattgeschorenem Kopf und einem unaufrichtig freundlichen Gesicht. Er war von guter Herkunft und hatte wohl geswegen bechlossen, sich zu seinem Familiennamen auch noch die deutsche Adelsbezeichnung „von“ zuzulegen. Viele machten sich darüber lustig, schwiegen jedoch in feinfühliger Zurückhaltung. Dann war da auch noch ein gewisser Sacharin, ein zerzaustes Männlein, unansehnlich und rothaarig, ungebildet und versoffen. Niemand nahm ihn für voll, weder die Kameraden, die die gleiche Neigung hatten wie er, noch die Vorgesetzten, weil er so nachlässig war. Einmal, als der Spieß beim Zählappell bis zum Nachnamen Orlow gekommen war, korrigierte er diesen schnell noch mit einigem Sarkasmus in „von Orlow“, wobei er eine merkliche Betonung auf dieses „von“ legte. Der reagierte ganz munter darauf. Der Nachname Sacharin schreibt sich im Deutschen am Anfang mit einem „S“ und stand in der alphabetischen Liste viel weiter unten. Schließlich verkündete der Feldwebel: „Sacharin!“ – Schweigen. Sacharin bleibt mit unerschütterlicher Ruhe im ersten Glied stehen. Er wurde noch einmal aufgerufen – und schweigt. Der Spieß platzt vor Wut: „Sacharin! Zigeuner!“ – „Nicht Sacharin, sondern von Sacharin“, sagt er mit vollem Ernst. Homerisches Gelächter; selbst der Spieß muß nun lachen. Orlow errötete bis über beide Ohren, lachte dann aber auch. Nach diesem Zwischenfall beharrte er nicht mehr auf seinem adeligen Ursprung und wurde bald darauf ganz einfach „Orlow“. Gegen Herbst gab es in unserem Dienst eine Abwechslung. Die Erntezeit rückte heran,und aus der Stadt begannen sie kleine Garnisonsgrüppchen in die Dörfer zu entsenden, die nach dem Plan der Besatzungsbehörden den Ernteverlauf sowie die Getreideabgabe vor Partisanenüberfällen bewachen sollten. So fuhren also auch Aljoschka und ich auf eine ähnliche Expedition nach Jabutsche (Jablotschnoje), etwa 20 Kilometer von Walewo entfernt. Untergebracht wurden wir in einem Wärterhäuschen auf einem steinalten Friedhof, der in einem spärlich bewachsenen Wäldchen angelegt war. Zwischen den Gräbern befanden sich Grabsteine vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Neben der Friedhofskapelle wuchs eine riesige Eiche, unter der, wie die Alten erzählten, der serbische Volksheld Georgij (Georg der Schwarze, siehe Puschkin) den Aufstand gegen die Türken verkündet haben soll, der zur Befreiung der osmanischen Gewaltsherrschaft und Bildung des serbischen Königreichs führte und an dessen Spitze die Nachfahren des Schwarzen Georg Karadordevic standen, von denen der letzte der in Frankreich ermorderte König Alexander war. Für den Anfang hatte unser betagter Deutscher Angst und Schrecken verbreitet. Er trommelt die älteren Leute aus dem Dorf zusammen und erklärte ihnen, warum wir hierher gekommen waren. Dann ließ er uns alle (unsgesamt 10 Mann) Aufstellung nehmen und befahl uns, die Gewehre zu laden, wobei er eindrücklich darauf hinwies, dass ab 10 Uhr abends Sperrstunde sei und auf alle, die dann noch auf der Straße zu sehen wären, ohne weitere Vorwarnung geschossen würde. Außerdem oblag unsere Versorgung mit Lebensmitteln der dankbaren Bevölkerung. So verbrachten wir dort zehn Tage. Wir taten nichts, außer uns nach der ziemlichen Hungerration mit den Spenden der Dorfbewohner endlich einmal satt zu essen – manche bis hin zu einer völligen Magenverstimmung. An den Abenden versammelten sich die Alten unter der Eiche und erzählten alte Geschichten über Teufel und Gruselgestalten. Nach 10 Uhr abends gingen alle auseinander; allerdings blieben stets zwei als Wachen zurück. Wir gewöhnten uns allmählich daran, nach all diesen gräßlichen Geschichten auf dem vom Mond beschienenen Friedhof zu sitzen, wo es so gruselig war, und Aljoschka und ich hielten es immer so ab, dass wir jeweils „halb und halb“ unsere Wachgänge absolvierten: zuerst saß der Eine im Gras, während der andere ihnbewachte; anschließend tauschten wir die Rollen. Übrigens bekamen wir es einmal mit der Angst zu tun. Ich schlief gerade, als Aljoschka mich plötzlich an der Schulter rüttelte. „Hör mal, Pawluschka!“ – flüsterte er. Ich blickte mich um und lauschte. Vor uns lag eine fast vollständig waldlose Lichtung, die mit alten, schon beinahe dem Erdboden gleichgemachten Gräbern übersät war. Der Vollmond schien uns ins Gesicht, und am Ende des Friedhof wo das Gelände mit einem Flechtzaun eingegrenzt war, knirschte irgendetwas unter schwerfälligen Beinen. Die Schläfrigkeit war wie weggeblasen, aber zum Alarmschlagen war es noch zu früh. Wir legten uns zwischen den Gräbern nieder und entsicherten die Gewehre. Mal waren die Geräusch slauter, mal erstarben sie, um dann wieder näher zu kommen. Das hohe Gras begann sich zu wiegen; ein Schweinerüssel wurde sichtbar. Zuerst brach uns der Schweiß aus allen Poren, aber schnell kamen wir wieder zu uns und verjagten den ungebetenen Gast mit einer Reihe übler Schimpfworte. Neben dem Friedhof stand ein Häuschen, in dem Lehrerinnen wohnten. Unser Vorgesetzter und der Dolmetscher, ein Bewohner aus der Region Banat, in der es zahlreiche Deutsche gab, der aber selbst den Nachnamen Ischtschenko trug, knüpften dort Bekanntschaft an, und begannen irgendwann am Abend immer zu verschwinden und erst viel später als die „Kommandantenstunde“ wieder zurückzukehren. Dies führte auch die anderen zum Verlust der Wachsamkeit, und wir, ungeachtet des herrschenden Verbots, entschlossen uns ebenfalls, das Dorf „unsicher zu machen“. Aljoschka und ich gingen gelegentlich auf Besuch, und die um das häusliche Wohl besorgten Familienväter schnitten für uns Speck ab, versorgten uns mit getrocknetem Fleisch und anderen Dingen, die wir zuvor gegen ein paar zurückgelegte Sachen eingetauschte hatten, denn gegen Geld gaben die Bauern ungern etwas heraus, es sei denn man gab ihnen Silbergeld, wie es vor dem Kriege verwendet worden war. Ein gutes Tauschmittel war Tabak, den man an uns immer im voraus für die gesamte Dauer einer Dienstreise austeilte. Die Deutschen blickten mit Verachtung auf diesen „in Säckchen abgefüllten Kram“, schlugen jedoch schon bald darauf ebenfalls in den Handel ein, bei dem wir ihnen alles mögliche unbracuhbare Zeug aus dem Haus brachten und im Gegenzug von ihnen Lebensmittel erhielten. Dieser Umstand wurde auch kurze Zeit später in einem Couplet am Neujahrsabend hervorgehoben, wie es als Motto im vorangegangenen Kapitel angeführt ist: „Unteroffiziere ohne Budget schicken Pakete nach Deutschland...“ Etwa zu dieser begannen sie damit, uns in den Urlaub zu schicken. 21 Tage standen uns zu, die man allerdings auch aufteilen konnte. Viele von denen, die in Belgrad oder anderen nahegelegenen Städten lebten, fuhren nun auf Kurzurlaub nach Hause, wobei sie Lebensmittel mitnahmen und sich mit Tauschwaren bevorrateten. Walch und ich beschlossen, unseren ganzen Urlaub auf einmal zu nehmen, aber wir kamen nicht gleichzeitig an die Reihe. Ich konnte meinen Urlaub erst im November antreten. In Bulgarien mangelte es an Produkten nicht so, und zum Tauschen hatte ich auch nichts. Aber trotzdem kehrte ich nicht mit leeren Händen zurück. Den Urlaubern händigte man Textil-Bezugskarten aus, gegen die in speziellen Geschäften Textilwaren in Höhe einer vorher festgelegten Summe verkauft wurden. Es handelte sich hauptsächlich um Damenunterwäsche, Kopftücher und Strümpfe. Für die Mutter war das alles nichts, aber da ich wußte, dass es sich bei diesen Dingen um defizitäre Ware handelte, nahm ich alles, was ich nur kriegen konnte. Außerdem kaufte ich von dem verbliebenen Geld eine ganze Packung französischen Vorkriegspuders, das man ohne Bezugsscheine erwerben konnte. (Vermutlich deswegen, weil eine, nach den Direktiven des Führers bestimmte „echte deutsche Frau“ keine Kosmetikartikel verwendete). Ich nahm es jedenfalls für alle Fälle, aber es stellte sich heraus, dass die Idee erfolgreich war, dennin Sofia nahmen sie das gesamte Puderpaket gleich im allerersten Parfümeriewarengeschäft an. Auf diese Weise sicherte ich meinen Urlaub in finanzieller Hinsicht und brauchte meiner Mutter nicht mit zusätzlichen Kosten zur Last fallen. Außerdem konnte ich mir einen Vorrat an billigen bulgarischen Zigaretten zulegen, die in Jugoslawien teuer waren und als absolut harte Währung galten.
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