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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil 3. Die Condottieri

Kapitel 21. Korrektur der Verzerrungen . Blüte und Zusammenbruch

„Schwarze Brauen, kastanienbraune Augen,
Schwarz wie die Nacht und hell wie der Tag.
Augen, ihr Augen, Mädchenaugen,
Wo habt ihr es gelernt, den Menschen die Köpfe zu verdrehen?“

Der Zug nach Sofia fuhr erst am Abend nach Belgrad ab, so daß ich gezwungen war, mir für ein paar Stunden die Zeit zu vertreiben. Nachdem ich Gepäck und Waffen (ja,ja – auch die Waffen. Sie nahmen sie entgegen, als wäre es irgendeine Einkaufstasche, nachdem sie eine Nummer daran befestigt hatten) in der Aufbewahrungskammer des Belgrader Bahnhofs abgegeben hatte, schlenderte ich durch die mir bekannten Straßen und fand schließlich in dem bereits zuvor von mir beschriebenen Soldatenheim ein freies Plätzchen. Es war vier Uhr nachmittags, als das Radio, aus dem gerade eine einfache Melodie erscholl, die Sendung unterbrach. So etwas kam nicht selten vor. Für gewöhnlich erklang danach ein bravouröser Marsch, und dann verkündete der Sprecher entweder die Zerstörung eines U-Boots aus einem der nächsten Schiffskonvois, die aus den USA gekommen waren, oder einen anderen bedeutsamen Erfolg der deutschen Streitkräfte. Diesmal zog sich die Pause in die Länge, und dann vernahm man die gedämpften Klänge eines Trauermarsches. Alle, die im Raum saßen, vergaßen ihre Butterbrote und verfielen in bedrückendes Schweigen. Nachdem die Musik verklungen war, verkündete der Sprecher die Kapitulation der allerletzten Gruppierung deutscher Truppen bei Stalingrad und die Ernennung von Generaloberst Paulus zum Generalfeldmarschall. Anschließend nahm die Rundfunkübertragung wieder ihren gewohnten Gang, aber mir kam es so vor, als ob alle an den Tischen sich bemühten, nicht mit dem Geschirr aneinanderzustoßen oder sich laut zu unterhalten. Dies war wahrhaftig ein Wendepunkt, sowohl in militärischer, als auch in psychologischer Hinsicht. Ich ging hinaus, obwohl ich meine Beine kaum noch fühlte, und wartete mit Ungeduld auf das Wiedersehen mit meiner Mutter und meinen Freunden, um meine Freude mit ihnen zu teilen. Der Zug fuhr die ganze Nacht hindurch. Wie gewohnt lief der Zugbegleiter durch die Abteile und bestimmte in jedem Waggon ein paar Wachposten, die sich, wenn sie an der Reihe waren, jeweils für eine Stunde auf den Waggonplattformen aufhalten, bzw. sich auf den Bahnstationen auf dem Bahnsteig daneben postieren sollten. Das war eine Maßnahme für den Fall einer möglichen Sabotage oder eines Überfalls auf den Zug. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich derartige Sabotageakte noch nicht gesehen. Am Morgen, gegen 9 Uhr, traf ich in Sofia ein. An der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie N° 5, die bis nach Knjaschewo fuhr, gab es einen Zeitungskiosk, in dem Annas und Ninas Vater, ein Kriegsinvalide, arbeitete. Mitunter wurde er von seiner jüngsten Tochter, einem Mädel von 14 Jahren, vertreten. Sie war auch diesmal zufällig gerade dort. Ich trat heran und bat sie darum Nina mitzuteilen, daß ich um 7 Uhr an der alten Stelle auf sie warten würde. Ich hatte das Mädchen zuvor noch nicht kennengelernt, aber offensichtlich war es über die Angelegenheiten ihrer Schwester informiert. Daher wunderte sie sich auch nicht besonders darüber, weshalb ich sie angesprochen hatte. Verwundert war sie über etwas ganz anderes. „Anna?“ – fragte sie noch einmal nach. „Nein, Nina“ – antwortete ich, und löste damit bei meinem Gegenüber Befremdung und Verlegenheit aus. Bis zum Abend schaffte ich es, meine Bekannten wiederzutreffen. Alle waren verwundert über mein unerwartetes Auftauchen, besonders natürlich meine Mutter, als ich plötzlich wie aus heiterem Himmel vor ihr stand. In Sofia, das etwa 550 Meter über dem Meeresspiegel liegt, herrschte, im Gegensatz zum aufgeweichten, matschigen Belgrad, richtiger Winter mit flauschigem Schnee und leichtem Frost. Natürlich war das nicht die beste Zeit für ein Wiedersehen, aber auch nicht wirklich hoffnungslos, wenn du erst 20 Jahre alt und guter Laune bist, und dich zudem schon lange nach einem zärtlichen Wort, einem zärtlichen Blick gesehnt hast. Vier trafen uns sowohl allein, als auch zu viert, aber diesmal kamen unsere Interessen sich nicht in die Quere, und wenn wir uns zurückzogen, dann dauerte das immer ziemlich lange. Meiner Mutter erzählte ich von meinen Bekanntschaften und meinen Zeitvertreiben nichts, sondern verwies stets auf Wanka, obwohl ich vermutete, daß sie mir das nicht wirklich abnahm. Aber einmal brachte es die helle Sonne dann doch an den Tag. Nach einem neuerlichen Rendevous fuhr ich bereits um 11 Uhr nach Hause. In der Straßenbahn saßen nicht besonders viele Leute. Einige, besonders die Frauen, betrachteten mich mit neugierigen Blicken und lächelten wohlvollend und verständnisvoll. Ich war allgemeiner Blickpunkt und schrieb dies meiner tadellos sitzenden Uniform und meinem ganz persönlich Liebreiz zu. In dieser frohen Laune betrat ich das Haus, wo mich das bereits dreimal wieder aufgewärmte Abendessen erwartete. Ich setzte mich und begann das Essen hinunterzuschlingen – es war Borschtsch, wie ich mich jetzt erinnere, mit einem guten Stückchen Fleisch darin. Mutter saß am anderen Ende des Tisches, lauschte meinem lebhaften Geschwätz und hatte ebenfalls so ein merkwürdiges Schmunzeln auf dem Gesicht. Ihr Lächeln machte mich stutzig, und ich verspürte eine gewisse Unruhe in mir. „Sag’ deiner Freundin, sie soll sich nicht so anmalen“, - sagte die Mutter plötzlich in ruhigem Tonfall. Ich verschluckte mich an einem Stück Fleisch; Schweißperlen traten auf meine Stirn. Ich schielte zum Spiegel hinüber, und dann begriff ich, warum die Fahrgäste der Straßenbahn so freundlich geschaut und die Mutter so rätselhaft gelächelt hatte: ich hatte überall Lippenstift im Gesicht und sah nicht schlechter aus, als ein Clown. Den guten Rat der Mutter leitete ich natürlich nicht weiter, führte jedoch nach unseren Begegnungen eine sorgfältige „Reinigung“ durch. Das Wetter wurde schön, und einmal unternahmen Nina und ich sogar eine ausgiebige Exkursion auf den Berg Witoscha, wo es in nächster Umgebung von Tannenwäldern bequeme Hütten aus Baumstämmen gab, sozusagen kleine Hotelchen, wo man eine Kleinigkeit essen und Tee aus aromatischen Bergkräutern trinken konnte. Aber die meisten Abende verbrachten wir drinnen: wir gingen ins Kino oder besuchten ein Restaurant. In Bulgarien istr ein Restaurant einfach eine öffentliche Speisegaststätte, nicht komfortabler, als jedes beliebige gute Café – und auch nicht teurer. Abends halten sich dort nur wenige Leute auf, so daß man in Ruhe in einer gemütlichen Ecke sitzen und Radiomusik hören kann. Orchester, Sängerinnen und Tanzveranstaltungen gab es nicht. Da unsere Beziehung andauerte, wäre es eigentlich wohl angebracht gewesen, sich von all diesen Verwicklungen und Lügen zu befreien, die unsere allererste Kennenlernphase begleitet hatten, aber irgendwie war es peinlich sich dazu zu bekennen, und außerdem hatte ich unsere Beziehung nie wirklich ernst genommen. Die Wochen verflogen unbemerkt, wie im Fluge, und schon befinde ich mich wieder bei meiner Kompanie. Hier bei uns hatten sich Veränderungen vollzogen. Der eine oder andere war im Rang aufgestiegen, andere waren ausgeschieden, u.a. auch einige der Unteroffiziere. Die beiden bereits bekannten Obuch und „von“ Orlow waren Feldwebel geworden, und auch ich erhielt die Tressen eines Unteroffiziers. Nach den zwei kurz hintereinanderliegenden Urlauben konnte ich nun micht mehr damit rechnen, meine Freunde und die Mutter in naher Zukunft wiederzusehen. Aber es gelang trotzdem, und zwar schon kurze Zeit später. Zuvor jedoch ereignete sich an meinem persönlichen Horizont ein Donnerschlag. Bald nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub schrieb ich Wanka Tinin und Nina erneut einen Brief, die sich selbstverständlich in puncto Stil und Inhalt gänzlich voneinander unterschieden. Ich hatte die Briefumschläge bereits zugeklebt, als sich herausstellte, daß die Tinte im Federhalter zur Neige gegangen war. Ich mußte sie auffüllen. Nachdem ich das erledigt hatte, adressierte ich die Briefe und wartete dann auf Antwort. Eines schönen Tages, als ich gerade dabei war, mein Mittagessen einzunehmen, brachte man die Post. Auch mir wurde ein Brief überreicht, der Wankas Handschrift trug. Ich stellte mein Kochgeschirr ab und begann zu lesen. „Ich war über deinen Brief sehr verwundert“, schrieb Wanka, „mal hast du mich einfach Wanka, mal Wanka, du Lumpenhund, genannt, aber nie meine teure, liebe Nina...“ – Das Weitere zu zitieren erübrigt sich. Aus der Position der heutigen Moralvorstellungen, wäre die Situation wohl nicht so katastrophal, um so mehr, als es in dem Schreiben nichts Anstößiges gegeben hatte, aber damals kam es mir wie eine Schande vor, und ich unternahm gar nicht erst den Versuch mich zu rechtfertigen. Im übrigen überlebte ich diesen Schlag recht leicht, nur mein Herz war ein wenig angekratzt.

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