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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Kapitel 22. Blick auf den Gefängniszaun

„Per me si va nelle citta’ dolente...“
„Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen“
(Überschrift an den Toren zur Hölle . Dante)

Der Monat März – das bedeutet in Jugoslawien bereits die Blütezeit des Frühlings. Heiße Tage wechseln sich mit lang anhaltenden, kalten Regenschauern ab, damit danach sogleich wieder die Sonne erstrahlt und die jungen Blätter der auf den umliegenden Bergen wachsenden Buchen- und Eichenwälder zu grünen beginnen. In diesen Tagen begann die Truppenverschiebung eines Teils unserer Division an die Front. (Ein Nachhall des Vernichtungsschlages bei Stalingrad). Das Ganze ging nach und nach vonstatten. Die Kasernen des Infanterie- und Artillerie-Kontingents leerten sich, und unserer Kompanie wurden weitere Objekte zur Bewachung zugeteilt. Daher schob nun praktisch die Hälfte der Kompanie beinahe täglich Wachdienst, während die anderen sich ausruhten. Das war sehr ermüdend. Einmal, nach der Wachablösung (und das war um 13 Uhr) und dem Mittagessen, als die abgelöste Wachmannschaft sich zur Ruhe legte, kam der Diensthabende mit der Bitte angelaufen, ein Faß Wasser heranzuschleppen. (Ich habe bereits darüber berichtet, daß es in der Kaserne keine Wasserversorgung gab). Seine Aufrufe und Versuche, irgendjemanden für diese Aufgabe zu ernennen, verliefen ohne Erfolg. Alle schickten ihn weiter. Die Leute waren erschöpft, außerdem regnete es. Anläßlich dieses Konflikts trat Papa Otto aus seiner Residenz. Nachdem er erfahren hatte, worum es ging, entfernte er sich schweigend und erteilte fünf Minuten später das Kommando zum Antreten und Aufstellungnehmen. Alle kamen, egal welche Kleidung sie gerade anhatten und ob sie ihre Waffen dabei hatten oder nicht, unverzüglich herbeigerannt und stellten sich an der gewohnten Stelle, im Korridor der zweiten Etage, in Reih und Glied auf. Der Kommandeur trat in Militärmantel und Militärhemd vor und erteilte den Befehl, sich innerhalb von weiteren fünf Minuten in Ausgehuniform und mit Bewaffnung wieder einzufinden. Als der Befehl ausgeführt war, führte uns der Kommandeur auf den großen Platz und ließ uns zwei Stunden lang ohne Unterbrechung marschieren, hinlegen und wiederaufstehen; auch im Dreck ließ er uns herumrobben. Schließlich kehrten wir, von Kopf bis Fuß verschmutzt und unter dem Gesang von Liedern in unsere Kaserne zurück. Und sogleich ertönte ein neuer Befehl: eine Stunde Zeit zum Sichsäubern und die Waffen wieder herzurichten. Wieder begannen wir mit dem ausgiebigen Reinigungsprozeß, kratzten den Dreck aus Ritzen und Fugen usw. Anschließen erhielten wir eine WEITERE Stunde, um unsere Uniformen und Stiefel wieder in einen ordnungsgemäßen Zustand zu bringen. In unserer Arbeitsuniform nahmen wir anschließen Aufstellung, während wir die unglückselige Ausgehuniform in unseren Armen hielten. Es wurde jede einzelne Naht überprüft, jeder Knopf, Nagel und Schnürsenkel. Diejenigen, bei denen irgendetwas gefunden wurde, das noch nicht in Ordnung war, mußten erneut putzen und reinigen und anschließend ein weiteres Mal antreten. Im Großen und Ganzen fanden wir bis zum abendlichen Zapfenstreich keine Ruhe. Ich weiß nicht, wer sich wann darum gekümmert hatte, aber das Fäßchen mit Wasser stand irgendwann da – voll bis an den Rand. Das war das einzige Spektakel, das unsere Kompanie-Kommandeur uns jemals bescherte, aber es blieb allen in der Erinnerung und beseitigte ein für allemal das Verlangen sich mit Vorgesetzten zu streiten oder sich ihnen zu widersetzen. Unter den neuen Wachmannschaften, die zuvor aus anderen Teilen der Garnison ernannt worden waren, waren auch welche aus dem örtlichen Gefängnis. Ich mußte zum ersten Mal eine solche Einrichtung anschauen, und dazu noch eine ganz besonders gemeine Variante. Im Grunde genommen darf man ein Gefängnis nie als eine gottgefällige Anstalt bezeichnen; aber dies hier war lediglich ein Verließ mit Gittern. Das nicht sehr große, zweigeschossige Gebäude befand sich gleich hinter dem Kommandanturgebäude, und war früher wohl einmal die Bürgermeisterei gewesen. Zum Eingang gelangte man über einen kleinen Hof, der von einer Steinmauer umgeben war, in die man eine Pforte eingebaut hatte. Im Gefängnis selbst, in der ersten Etage, gab es ein Zimmer für die Wachen sowie einige Zellen, im zweiten Stock befanden sich ausschließlich Zellen, insgesamt etwa zehn an der Zahl. In den Zellen standen weder Pritschen no sonstige Schlafstellen; die Häftlinge mußten direkt auf dem Boden, auf irgendwelchen Unterlagen, Decken oder ihrer Kleidung, liegen. In den Zellen befanden sich damals 2-5 Gefangene, nur in einer saßen 15 Zigeuner ein. Es gab auch einige Einzelzellen, in denen 2-3 Frauen saßen. Geleitet wurde das Gefängnis von einem hinkenden Serben in Zivil, dem auch noch ein Gehilfe zur Seite stand, ein Junge von vielleicht 15 Jahren. Die beiden tauchten vor allem zum Mittagessen auf. Die Häftlinge selbst mußten sich selber versorgen. Zur Mittagszeit kamen ihre Verwandten und brachten Essen in Körbchen mit. Der Gefängnisleiter ließ die unter seiner Vormundschaft stehenden Gefangenen zur Entgegennahme der Mahlzeit, Rückgabe der leeren Verpackungen und Wiedersehen mit den Angehörigen aus den Zellen heraus. Auf Staatskosten gab es lediglich ein zum Quadrat geformtes Maisbrot von 500 g Gewicht. Alle bekamen solche Pakete – mit Ausnahme der Zigeuner. Nachdem alles übergeben worden war, wurde die Zigeuner-Zelle aufgeschlossen und einer von ihnen ging zu den Bewohnern der anderen Zellen, um Almosen entgegen zu nehmen. Trotz dieser sehr unzuverlässigen Ernährungsweise ließen sich die Zigeuner niemals unterkriegen, sondern sangen und tanzten den ganzen Tag hindurch. Zu den Pflichten der Wachleute gehörte lediglich das Begleiten der Häftlinge zu den Aborten, sofern sie nicht ihre eigenen Verwaltungsleiter hatten, und während des Hofgangs. Im Prinzip war es so vorgesehen, daß jede Zelle pro Tag eine halbe Stunde Ausgang bekam, aber zur Vereinfachung der ganzen Prozedur ließ man sie für gewöhnlich gruppenweise für ein bis zwar Stunden hinaus, und wenn genug Zeit zur Verfügung stand, dann durften sie sogar mehrmals nach draußen, vor allem die Frauen. Es gab sowohl Untersuchungsgefangene als auch bereits Verurteilte, die eine Haftstrafe bis zu zwei Monaten bekommen hatten, hauptsächlich wegen kleinerer Diebstähle, Spekulationen u.ä. Für uns war dieses Wacheschieben wie eine Art Urlaub. Ich mußte insgesamt dreimal dorthin. Die Wachmannschaft bestand aus vier Leuten. Unser Hauptfeldwebel war ein gewisser Leschtschinskij, ein noch junger Mann, von dem man nicht sagen konnte, welcher Nationalität er eigentlich angehörte; er trug eine dicke Brille, der seinem Äußeren und auch seinem Charakter nach eher einem großen, gutmütigen jungen Hund ähnelte. Die Wache verfügte über ein Telefon. Leschtschinskij, der viele Sprachen gut konnte, setzte sich gelegentlich mit dem Soldatenheim in Verbindung, ließ ein paar Komplimente gegenüber dem diensthabenden Schwesterlein ertönen und vereinbarte dann, daß man ihm etwas Leckeres zu essen mitgab. Kurz danach kam ein Bote und brachte Kuchen, belegte Brote oder auch noch andere Sachen. Da keine Kontrollpersonen ohne ausdrückliche Erlaubnis des Wachleiters ins Gefängnis gelangen konnten, stand demzufolge auch niemand an der Uhr, sondern alle lagen auf ihren Bettstellen oder saßen draußen im Hof. Übrigens bekam ich einmal auch ein anderes Gefängnis zu Gesicht, von dem wir nichts gewußt hatten, obwohl es sich lediglich zwei Schritte von „unserem“ entfernt befand; es lag jenseits des Zaunes. Eines Abends schickten sie uns Drei in die Kommandantur – das waren ich und Walch, der zu der Zeit seine Schöpfkelle an einen anderen, körperlich etwas kräftigeren Mann weitergereicht hatte, und Obuch als Oberfeldwebel. Wir sollten die Waffen mitnehmen. Obuch gab sich in seinem neuen Rang nicht mit einem gewöhnlichen Gewehr zufrieden und hatte daher von Kronau ein neuartiges Schmeisser-Atomatikgewehr erbeten. Auf dem Weg dorthin begaben wir uns durch die Pforte in der Mauer in einen kleinen Gebäudeflügel, der sich als Gefängnis erwies und unter der Leitung der SS stand. Wir erhielten folgende Aufgabe: eine Gruppe Partisanen war verhaftet worden. Wir sollten uns während der Nacht zu ihnen setzen und darauf achten, daß sie nicht miteinander sprachen oder sonstigen Umgang miteinander hatten. Wir marschierten in den Korridor; dort befanden sich drei oder vier Türen, die offenbar in die Zellen führten. Ein unangenehmes Subjekt in irgendeiner merkwürdigen halb-militärischen Uniform öffnete eine der Türen. Dort in der Zelle, die etwa 3 x 4 Meter groß war und keinerlei Möbel enthielt, saßen vier bäuerlich gekleidete Personen auf dem Boden, alle ungefähr 35-40 Jahre alt. Ein Typ brachte drei Schemel; dann schloß er die Tür – aber ohne Schlüssel, wobei er alle Instruktionen noch einmal wiederholte. Offenbar war eine aus dem banat stammender Deutscher. Es entstand ein langes, bedrückendes Schweigen: die Gefangenen besaßen kein Recht zu reden, und wir versprüten auch keine Lust dazu. Die Situation war sehr unschön. Später bat einer der Häftlinge darum, zur Toilette gehen zu dürfen. Ich ging mit ihm. Er fragte nach einer Zigarette. Ich gab ihm eine und wartete dann, bis er sie aufgeraucht hatte. Als er zurückkehrte, zeigte der ihm anhängende Tabaksgeruch seine Auswirkungen auf die Kameraden, die nun ebenfalls flüsternd um eine Zigarette baten. Aljoschka Walch stand auf und verteilte Zigaretten. Obuch gefiel das ganz und gar nicht, und er fing an, ihn auf Deutsch anzufauchen. Aljoschka blickte ihn mit demselben dümmlich- herablassenden Lächeln an, mit dem Erwachsene auf wild herumtollende Kinder blicken, und schickte ihn auf Russisch zum Teufel. Es herrschte ein einziges Tohuwabohu. Der Aufseher, der offenbar durch das Guckloch von draußen alles beobachtet hatte, rauschte in die Zelle herein und begann in deutscher Sprache herumzubrüllen. Da kreischte Obuch, entweder um Aljoschka zu unterstützen oder um seine Uniformehre zu retten „WEG!“, und knallte dabei mit seiner Handfläche dermaßen an sein Gewehr, daß es den armen Volksdeutschen wie mit einer heftigen Windboe davonpustete.

Gegen vier Uhr morgens ertönten Stiefelschritte, und man brachte noch einen weiteren Häftling in die Zelle. Mit ihm trat auch ein Beamter in SS-Uniform ein, entweder der Untersuchungsrichter oder ein Dolmetscher. Jedenfalls sprach er sehr gut Serbisch. Der Neuankömmling war der Älteste in der Gruppe, Oberleutnant Nedic, wie sich aus dem weiteren Gespräch herausstellte. Die Unterredung zwischen dem Oberleutnant und dem SS-Mann stellte wohl die Fortsetzung ihrer vorangegangenen Unterhaltung dar. Mir imponierte ganz besonders die Würde, die Nedic an den Tag legte. Er sagte, daß die hier auf dem Boden Sitzenden Bauern seien, die kaum lesen und schreiben konnten, und wenn irgendjemand hier für irgendetwas verantwortlich gemacht werden müßze, dann diejenigen, die hier das Sagen hätten, nämlich er selbst. Letzendlich verlief das Gespräch zugunsten der Armen; es wurde zwar niemand überzeugt, es änderte auch nichts, aber es erleuchtete die hohen moraliuschen Eigenschaften dieses ehemaligen jugoslawischen Offiziers. Nachdem der SS-Offizier allen Verhafteten noch etwas zum Rauchen dagelassen und damit gleichzeitig auch von uns die Verantwortung für die Verletzung des Regimes genommen hatte, verließ er die Zelle. Am frühen Morgen traf ein Fahrzeug mit einer Plane ein, und die Häftlinge wurden, vermutlich nach Belgrad, abtransportiert. Unser Aufseher scharwenzelte dem eingetroffenen Offizier sogleich eilfertig entgegen; als er uns sah, murmelte er etwas – wahrscheinlich tat es ihm leid.

Aber der Offizier winkte nur ab. So hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben echte Partisanen zu sehen bekommen.

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