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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Kapitel 24. Sinkende Hoffnung.

„Vergangenes verbarg sich im Nebel,
Gegenwärtiges gibt es nicht,
Und die Zukunft hört nicht meine Antwort.“
(B. Chodolej, 1943).

Von diesem Urlaub ist mir nur weniges in der Erinnerung geblieben, vielleicht nur der Anfang. Wie üblich tauchte ich gänzlich unerwartet auf, gegen 10 Uhr morgens. Mich verblüffte das Verhalten der Mutter: sie saß auf dem Diwan und sah mich schweigend und mit geöffnetem Mund an. Ich erschrak: „Was ist mit dir, Mama?“ – rief ich und stürzte auf sie zu. Sie begann zu weinen, und es kostete mich nicht wenig Mühe, sie zu beruhigen und in Erfahrung zu bringen, was eigentlich los war. Es stellte sich heraus, daß Wolodja Eismonts Ehefrau sie am Vorabend aufgesucht hatte, jener Eismont, der einst mit uns aus Kosowskaja Mitrowiza fortgelaufen war und sich dann in Belgrad auf irgendeinem Kanzleiposten niedergelassen hatte. Diese Person, berichtete die Mutter weinend, hätte ihr erzählt, daß ich eine Verwundung am Bein erlitten hätte. Angeblich wäre das Bein amputiert worden und überhaupt - dieser Tage wäre ich verstorben. Gerade als ich eingetreten war, hatte sich die Mutter auf den Weg zur örtlichen deutschen Kommandantur machen wollen, damit man dort ein offizielles Gesuch bezüglich meines Ablebens zu Ruhm und Ehre von Reich und Führer stellte. Ich bin nie dahinter gekommen, woher ein derart unsinniges Zeug gekommen war. Möglicherweise gelangten in die Behörde, in der Eismont arbeitete, irgendwelche Informationen über Bewegungen innerhalb des Personalbestands u.ä. Auf diese Weise war wohl auch ich in irgendeine Statistik hineingeraten. Auch in bürokratischen Angelegenheiten waren die Deutschen äußerst geschickt. Und dann war die Sache wohl über den Frauen-Rundfunk weitertransportiert worden, dessen Wahrhaftigkeit grenzenlos ist. Insgesamt gesehen war das erste Problem – die Wiederauferstehung von den Toten – gelöst. Als nächstes mußte jetzt der Verband abgenommen werden. Die ersten Lagen ließen sich auch leicht entfernen, aber dann, als die letzte Schicht in Sicht war, traten mir nicht nur einmal die Tränen in die Augen. Die deutsche Schmiersalbe war in tödlicher Weise mit den Haaren verklebt, und man mußte sie entweder abschneiden oder herausreißen. Die Mutter erwarb eine etwas modernere Salbe, und schon bald begann die runde Aushöhlung am Bein zu verheilen. Von meinen Freunden war praktisch niemand da, alle waren sie irgendwo hingefahren. Chajduschki leistete, wie jeden Sommer, Feldarbeit, und sogar Chanows Vater war verschwunden. Wie sich herausstellte, hatte er sich zur Arbeit nach Deutschland anwerben lassen. Ob die finanzielle Seite der Angelegenheit dafür der Grund war oder ob dies mit einem ganz besonderen Auftrag verbunden gewesen war – das blieb für mich ein Geheimnis. In der Hauptsache erholte ich mich vom trübsinnigen Alltag im Lazarett und den täglichen Kohlmahlzeiten, von denen ich Nesselfieber (Allergie) bekomen hatte; ich las Zeitungen und hörte Radio. Große Ereignisse gab es noch nicht. An der Ostfront herrschte die Ruhe vor dem Sturm, aber an der Südflanke entwickelte sich etwas, wenn auch im Schneckentempo, aber dennoch gewichtig. Afrika war von den deutsch-italienischen Truppen geräumt, und der Krieg hatte auf Italien übergegriffen. Die englischen Truppen bewegten sich gen Rom. Das Wichtigste daran waren nicht die bescheidenen Erfolge der Engländer, sondern die Tatsache, daß die Deutschen nicht in der Lage waren, sie mit einem Fußtritt ins Meer zu werfen, wie es 1940 bei Dünkirchen der Fall gewesen war und 1941 in Griechenland und auf Kreta. Ich wurde von düsteren Vorahnungen überwältigt. Dass wir bei der Verlegung der Division nach Osten in Jugoslawien zurückbleiben würden, dass man uns Nachschub aus den Reihen der Ureinwohner schickte – das alles brachte mich auf den Gedanken, dass Aljoschka und ich wieder einmal eine Niete gezogen hatten und dass unseren Jungs ebenfalls ein Schicksal im Schutzkorps vorausbestimmt war, d.h. die Verlegung zu den territorialen Truppen, deren Aufgabe es war, Objekte sowie das Verkehrs- und Nachrichtenwesen zu bewachen. (Später gingen tatsächlich ziemlich wahrheitsentsprechende Gerüchte, dass unser Regiment die stark gelichteten Reihen der von der Front zurückgekehrten „Prinz Eugen“-Division auffüllen sollten, die sich aus ortsansässigen Volksdeutschen zusammensetzte). Mit derart traurigen Gedanken kehrte ich dann auch in die Kompanie zurück. Wieder hatte sich inzwischen einiges verändert. Wir hatten zwei MG-Geschütze der Marke „Maksim“ auf dreibeinigen Stativen hinzubekommen. Außer dem gewohnten Zielfernrohr war darauf auch ein optisches Artillerie-Panoramafernrohr (für den Rundblick) installiert, aber im Großen und Ganzen handelte es sich dabei um eine komplizierte und nicht transportable Vorrichtung. Es wurde so eine Art halber Geschoßtrupp gebildet. Zu seinem Kommandeur wurde der erst kürzlich aus Deutschland eingetroffene Oberfeldwebel Jagemeister ernannt und zu den Berechnungskommandeuren, die sich jeweils aus 5 Mann zusammensetzten, ich und Stachow, einer der beiden „Schlangen“. Zuerst lernten wir den Aufbau des Geschützes mit seinen dutzenden Teilen kennen, anschließend wurde das Schießen praktiziert. Jagemeister war ein hochgewachsener Bursche um die dreißig mit kahlen Stellen am Kopf. Es hieß, dass er aus der Verbrecherwelt zur Polizei gelangt war. Er hatte in Breslau bei der dortigen staatlichen Fahrzeugkontrolle gedient. Er war ein einfacher, kameradschaftlicher Mann, der mitunter eine etwas grobe, familiäre Art an den Tag legte. Kaum hatten wir die theoretische Unterweisung hinter uns, da sollten wir die sperrige Waffe auch schon auf einer Exkursion erproben. Eines Tages, gegen Abend, landete auf der Lichtung bei unserer Kaserne ein Flugzeug vom Typ „Storch“ – ein leichter Eindecker auf einem hohen Fahrwerk, der tatsächlich einem Storch glich. Das Flugzeug hatte ein verschlossenes, offizielles Schreiben an Bord, das den Befehl zum Ausrücken enthielt. Später hegte ich die Vermutung, dass dies eine große Übung für die neu eingetroffene Division gewesen war, die sich mit den besonderen Gegebenheiten im Gebirge noch nicht auskannte. Aber damals wurde der Befehl sehr ernst genommen. Es wurde mitgeteilt, dass eine Gruppe Partisanen über den Fluß Drina (einem Grenzfluß zum „unabhängigen“ Kroatien) übergesetzt wäre, etwa 5000 Mann an der Zahl. Man stellte uns die Aufgabe, sie zu umzingeln und zu vernichten. Die ganze Garnison setzte sich in Marsch, man mobilisierte den zivilen Transport. Unsere Kompanie fuhr mit insgesamt fünf Fahrzeugen. Unsere Geschütze wurden auf einem großen Fünftonner verstaut, zusammen mit den dazugehörenden militärischen Vorräten und dem Bedienungspersonal sowie dem Sanitätsinstrukteur samt seiner Apotheke und Waffenschmied Kronau. Auch unser Konservenvorrat und zwei Fässer Benzin fanden auf diesem LKW noch Platz. Die Kolonne brach aus Walewo auf und erreichte am späten Abend die Stadt Uschitze, wo sich irgendwann im Jahre 1941 das Zentrum der Partisanen-Bewegung befunden hatte. Jetzt war die Stadt von bulgarischen Truppen besetzt. Wir waren verwundert darüber, dass in den Straßen, wie es in den Dörfern und kleinen Städten üblich ist, Ausgang herrschte. Serbische Mädchen gingen mit bulgarischen Soldaten, und man sah Gruppen von Soldaten zusammen mit jungen Männern in Zivil. Zu den Deutschen hatten die Serben weder in Walewo noch in Belgrad Kontakt. Wir schliefen die Nacht durch, zogen uns jedoch nicht aus.Untergebracht waren wir in irgendwelchen Scheunen oder Lagerhäusern. Am Morgen machten wir uns erneut auf den Weg. Die Kolonne bestand aus etwas 40 Fahrzeugen. Wir fuhren in geschlossener Reihe. Ein Teil der Zivilwagen war bereits unbrauchbar; die Dichtungen hielten nicht mehr stand, und wir mußten notdürftige Reparaturen vornehmen. Die Straße wurde immer schlechter. Eigentlich war es eher ein Feldweg, der höchstens für den Transport mit Pferden oder Bullen geeignet war. Unser überladenes Fahrzeug kam an den Hängen nur langsam voran und schaffte kaum noch die steilen Kurven. Ich saß neben Aljoschka an der Kante des Wagenkastens, direkt hinter der Fahrerkabine. Wir näherten uns einer scharfen Kurve, in der die Straße mit einer großen Seitneigung eine Wende von 90 Grad machte. Zur Linken befand sich ein abschüssiger, grasbewachsener Abhang; 50 Meter weiter unten stand ein Wald. Der LKW bekam immer mehr Schlagseite. „Spring runter, Pawluschka!“ – schrie Walch plötzlich auf, sprang mit einem Satz selber vom Wagen und ließ sich den Abhang hinunterrollen. Ich schaffte den Sprung nicht mehr. Der Laster kippte um. Über mir flog der Wagenkasten vom LKW und stürzte, wie eine kleine Schachtel, den gesamten Abhang hinunter, bis er mit einem dröhnenden Laut gegen die Waldbäume prallte und dort liegen blieb. Ein Faß mit Benzin rutschte gegen mein Bein. Walch kam herbeigerannt und befreite mich von dem Gewicht des Fasses. Ich stand auf und blickte mich um. Die gesamte Ladung lag überall verstreut herum, die Leute lagen oder saßen zwischen Kisten mit Konserven und Patronen, den Geschossen, deren Stative alle drei Beine in die Höhe reckten und den Fässern. Aus der Wagenkabine kletterten Kronau und der Fahrer, gesund und unversehrt, während Jagemeister ohne Bewußtsein war. Ansonsten hatte niemand Schaden genommen, jedenfalls nicht ernstlich. Der eine oder andere hatte eine Verletzung davongetragen, man rief den Arzt. Er selbst lief, mit blutbespritztem Gesicht, zu denen, die nicht zu ihm kommen konnten, oder rannte anderen hinterher, die das Gerät zum Befüllen des Patronenbandes gefunden hatten. Irgendetwas mußte man unternehmen. Zuallererst mußten die Geschütze in Ordnung gebracht werden. Jagemeister war immer noch nicht wieder bei Bewußtsein. Ich war sein Stellvertreter. Der Ranghöchste war Waffenschmied Kronau, aber als ich mich mit dem Vorschlag an ihn wandte, dass er doch das Kommando übernehmen sollte, machte er nur eine hoffnungslose Handbewegung. Und da begriff auch ich, was für eine immense Verantwortung auf einem Kommandeur lastet, und wie schlecht es ist, wenn man ihn nicht darauf vorbereitet hat. Die Hauptaufgabe war es nun, die Verbindung mit der Kolonne herzustellen. Wo und wie weit von uns entfernt sie sich befand, war nicht bekannt. Andererseits mußten auch Maßnahmen zu unserer Verteidigung ergriffen werden, und wo sollte ich mich in dieser Situation befinden? Ich konnte doch die Leute nicht ins Ungewisse schicken, sie dem Risiko einer Begegnung mit den Partisanen aussetzen! Und deswegen beschloß ich selber zu gehen. Einstweilen nahmen wir eine geeignete Stellung ein, in der wir einen gewissen Feuerschutz hatten. Diese Aufgabe befehligte Stachow mit seiner Abteilung, während Aljoschka Anweisungen erteilte, die ganzen Sachen zusammenzusuchen und für ihre Unversehrtheit und sichere Verwahrung Sorge zu tragen, denn einige Akteure hatten sich bereits mit Konservendosen in die Büsche verkrochen, Ich selbst machte mich mit Walewitsch, einem jungen, aber dümmlichen Burschen, auf die Suche der außer Sichtweite liegenden Kolonne. Er nahm sein Handgewehr mit. Ich besaß bloß eine „Parabellum“, die mirJagemeister am Vorabend gegeben hatte. Ich ergriff noch zusätzlich ein Gewehr und ein paar Granaten, und dann machten wir uns auf den Weg. Nach einer halben Stunde tauchte vor uns eine Talsenke auf, in der ein großes Dorf lag. Auf der Straße entdeckten wir die Kolonne; die vorderen Lastwagen hatten sich gerade in Bewegung gesetzt. Ich begann zu schreien und mit den Armen zu schwenken, aber niemand hörte mich. Ich schoß einige Male in die Luft, und der Dummkopf Walewitsch ließ gleich eine ganze Salve los, und dann noch nicht einmal senkrecht in die Höhe, sondern unmittelbar über die Köpfe der Kolonne hinweg. Dort unten brach eine Panik aus. Die Leute sprangen von den Fahrzeugen, verteilten sich kreisförmig und gingen gegen uns in Angriffsstellung. Nachdem ich Walewitsch einen gehörigen Verweis erteilt hatte, rannte ich ihnen im Laufschritt über ein gepflügtes Feld entgegen, wobei ich laut schrie und mit den Armen fuchtelte. Der Angriff geriet ins Stocken. Ich erreichte die Kolonne und machte dem Kommandeur darüber Meldung, was geschehen war. Die Offiziere beratschlagten; schließlich zog die Kolonne weiter, und zu uns wurden ein Lastwagen und ein Sanitätsfahrzeug für Jagemeister abkommandiert. Wir luden sämtliche Gegenstände auf und fuhren bis ins Dorf, das den Namen Uschitschka Kamenitza trug. Ein Teil der Fahrzeuge blieb zurück, um auf uns zu warten. Die Konserven wurden auf die einzelnen Fahrzeuge verteilt, das Benzin wurde in die Tanks gefüllt. Die Geschütze erwiesen sich als völlig nutzlose Last, und wir beschlossen, sie wieder zurückzubringen. Die leeren Fässer und Kisten wurden ebenfalls auf unseren Opel verladen; die kampffähigen Soldaten wurden den einzelnen Zügen zugeteilt, die Kranken oder Verletzten wurden mit Waffenschmied Kronau und dem Fahrer Wasjuta nach Hause geschickt. Ich, als Ältester des Invalidenkommandos und Verantwortlicher für die Materialabteilung, fuhr ebenfalls mit ihnen. Allerdings war das Abenteuer damit noch nicht beendet. Um nicht über die Berge zurückfahren zu müssen, entschlossen wir uns, diesmal einen anderen Weg zu nehmen, aber während wir dort umherirrten, ging uns das Benzin aus, und wir erreichten nur mit Mühe und Not eine Bahnstation an der Bahnlinie Walewo-Belgrad. Wasjuta ging los, um Verhandlungen aufzunehmen, und schließlich konnte er den Bahnhofsvorsteher dazu überreden, unseren Autotransport auf den Bahnsteig zu verladen und ihn an den letzten Zugwaggon anzuhängen. So gelangten wir dann nach Hause. Die anderen „kämpften“ noch zwei Tage, bis endlich alle Truppenteile, die in verschiedene Richtungen auseinandergegangen waren, wieder zusammengefunden hatten, wo man ihnen dann wegen „der erfolgreich durchgeführten Operation“ dankte und sie in ihre jeweiligen Garnisonen entsandte.

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