„Wir gehen über weite Felder
Dem Aufgang der Morgensonne entgegen,
Wir ziehen in den Kampf gegen die Bolschewiken,
Um der Freiheit unserer Heimat willen“.
(Aus einem Marsch der ROA)
Die Vorbereitungen zu unserem Abmarsch dauerten nicht lange. Wir gaben Waffen und persönliche Dinge ab, verabschiedeten uns von Ostermann und Co. und fuhren in Richtung Belgrad ab. Die Freude über das Wiedersehen mit den alten Freunden läßt sich nicht beschreiben. Untergebracht wurden wir im Gebäude der ehemaligen Kaserne, in der sich der Stab unseres ehemaligen Bataillons befand, allerdings in einem anderen Flügel. Es gab einige Exerzitien zu absolvieren, aber hauptsächlich waren wir hier in der Organisationsphase; neue Leute trafen ein, Dokumente wurden ausgestellt. Innerhalb von 2-3 Tagen nach unserer Abreise aus Deutschland erhielten wir neue Uniformen. Es war die gewöhnliche Uniform der deutschen Wehrmacht, aber am linken Ärmel befand sich ein Emblem in den Farben der alten russischen Flagge – weiß, blau, rot, und den Buchstaben ROA. Die Rangabzeichen an den Schulterstücken waren russische , analog denen, die kurze Zeit zuvor in der Roten Armee eingeführt worden waren, die von nun an Sowjetarmee hieß. Walch und ich hatten drei Streifen, aber wir waren keine Sergeanten, sondern Unteroffiziere. Die alte Bekleidung wurde ans Bataillon abgegeben. Zum Abschied schlug Walch vor, noch einmal richtig die Sau rauszulassen, aber wir hatten kein Geld, und so fand er folgende Lösung. Wenn an der Uniform irgendetwas fehlte, wurde der Preis vom sehr bescheidenen Nennwert abgezogen. Walch beschloß, unsere Bergstiefel herauszusuchen, Sachen, die unverwüstlich waren. Wir zahlten den Fehlbetrag und „verscherbelten“ sie am selben Tag zum dreifachen Preis an den erstbesten Schuster. Jetzt, nachdem die Dinar praktisch nutzlos wurden, mußten wir sie schnell ausgeben. Unser Hauptmann schlug das russische Restaurant „Baikal“ vor. Ich habe bereits von den Restaurants und ihren bulgarischen Varianten gesprochen. Das „Baikal“ war eine Lokalität anderer Art. Eine Vorstellung davon kann man aus Filmen erhalten, welche die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik widerspiegeln. Es gab eine Estrade, Sängerinnen und Sänger, Kellner in pseudo-russischer Ausstattung. Anstelle von Stühlen standen dort kleine Fässer mit Kissen zum bequemeren Sitzen. Im Großen und Ganzen ging es dort ziemlich geräuschvoll zu, und alles war verräuchert. Aljoschka und ich setzten uns in unserer hier noch nicht gesehenen Uniform auf einen bescheidenen Platz in der Nähe des Eingangs, an eine Stelle, von wo aus einige Stufen in den Hauptsaal hinunterführten. Unsere Geldeinnahmen aus dem getätigten Geschäft reichten für eine ziemlich maßvolle Anzahl Kalorien, sowohl in trockener als auch in flüssiger Berechnung, die wir mit gründlicher Gemütlichkeit und unter den Klängen von Zigeuner-Romancen verkonsumierten. Plötzlich wurde die Eingangstür heftig und geräuschvoll aufgestoßen, und im Rahmen erschien ein Gentleman in deutscher Uniform, aber in grauer Reithose mit roten Biesen. Er erwies sich als Kosak aus jenen Kosaken-Truppenteilen, welche die Deutschen aus Sowjet- und Emigrantenkadern unter der geistigen Leitung des Atamans Krasnow formiert hatten, und die unter dem Kommando des deutschen Generals von Panwitz standen. Ihre Truppe bestand halt aus Kosaken, während wir die „Herrenrasse“ vertraten. Ihr Anführer war Sotnik (Oberleutnant) Suschkow, der Bruder eines unserer Mitstreiter. Sotnik Suschkow war bereits sinnlos besoffen. Am nächsten Tischchen saßen zwei schon etwas ältere Offiziere aus dem Schutzkorps (damals waren sie mit deutschen Uniformen bekleidet und die doppelte Rangbezeichnung war inzwischen auch weggefallen) mit ihren Damen. Und genau auf die hatte der belgrader Kosak auch seine Augen geworfen. Er fing an sie als Emigrantenschweine u.ä. zu beschimpfen und mit einer Reihe uns bereits bekannter russischer Redewendungen und neuen Wortschöpfungen zu bewerfen, die bereits in der Epoche des Sozialismus enstanden waren. Die Herren Offiziere und die ordentlichen Zivilisten, die mit ihnen zusammensaßen, wollten sich schon mit unzweideutigen Absichten von ihren Plätzen erheben, als Suschkow ebenso unmißverständlich seinen Säbel umklammerte. Es kam zu einem Skandal. Da faßte der Sotnik eine etwas entferntere Perspektive ins Auge: sein Blick blieb an uns hängen. Seine Hand löste sich vom Säbelgriff und streckte sich uns entgegen. „Das da sind echte Menschen!“ – kreischte er und kam mit ausgestreckten Armen auf uns zu. Nachdem geklärt war, dass er uns sehr schätzte – und wir ihn auch, bestellte Suschkow Wein und erzählte uns mit schwerer Zunge, dass er bereits in Rußland gewesen war, wo die „echten Menschen“ lebten, dass er die Wlassow-Leute kenne und mit aller Entschiedenheit alle, bis hin zum letzten Bolschewiken, vernichten wolle ... und bei dieser Gelegenheit auch gleich alle Deutschen und das ganze Emigrantengesindel. Anschließend blieb der Blick des Sotniks auf einem gemütlich in der Ecke sitzenden Kriegsgefangenen hängen, er lockte ihn, sich zu uns zu gesellen, bestellte erneut Wein und entfernte sich dann nach neuerlichen Respektsbezeugungen “für ein Minütchen“. Er kehrte jedoch nicht zurück; wahrscheinlich ist er irgendwo gefallen. Wir fühlten uns einerseits geschmeichelt von der allgemeinen Aufmerksamkeit, die der redegewandte Sotnik uns gewidmet hatte; auf der anderen Seite waren wir beunruhigt, dass man uns ganz offenkundig zur Kategorie der heruntergekommenen Säufer hinzurechnete. Durch diese ganze geräuschvolle Epopoe überschritten wir ein wenig die Zeit, die uns als Diensthabende unseren Ranges zur Verfügung stand. Wir bezahlten in aller Eile (für seine Bestellungen bezahlte Suschkow sowieso selber), verließen das Lokal, genauer gesagt: wir stürzten auf die Straße hinaus, und gerieten dort sogleich in eine neue Umarmung. Diesmal handelte es sich jedoch um eine Patrouille der Feldgendarmerie. Aber die Euphorie über das, was wir soeben erlebt hatten, sowie die für morgen bevorstehende Abreise nach Rußland wurde nicht einmal durch diese unangenehme Begegnung getrübt. Mit fröhlichen, sich überschlagenden Stimmen versuchten wir alle gleichzeitig dem mürrisch dreinblickenden Feldgendarm zu erklären, dass wir morgen abreisten. Die Worte „Rußland“ und „Ostfront“ taten ihre Wirkung auf den Gendarm, wenngleich er unsere Stimmung offenbar von einem ganz anderen Standpunkt aus begriff. Er erkundigte sich, wo wir untergebracht waren. Nachdem er erfahren hatte, dass wir in der Banitza wohnten, verstaute er uns auf einem Planwagen, auf dem bereits einige schweigende, aber auch andere, sich lebhaft unterhaltende Subjekte saßen. Als das Fahrzeug auf die Chaussee, in Richtung Kasernentor, abbog, mußte ich an die Hauptwache denken, die sich ganz in der Nachbarschaft befand, und ich bekam plötzlich einen Kloß im Hals. Als der Wagen schließlich gegenüber unseres Blocks halt machte und der Felgendarm „Raus!“ brüllte, atmete ich erleichtert auf. Der Planwagen fuhr weiter und brachte noch andere Gefangene in ihre jeweiligen Unterkünfte, und wir begaben uns, dem Schicksal sei Dank, unverzüglich zu unseren Bettstellen.
Inhaltsverzeichnis Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel