„Aber plötzliche kamen harte Tage,
Deren Spuren sich in diesem Heft finden,
Sollen sie stets von der Unwahrheit sprechen,
Um der künftigen Gerechtigkeit willen.
Sollen sie immer über ehrlose Köpfe reden,
Über die Karriere und das Leben des anderen,
Über zerbrochene Hoffnungen und unerfüllte Träume,
Über den Verlust all dessen, was einem lieb und teuer ist.
Möge unser Verderb vielen die Augen öffnen,
Und diejenigen zurückhalten, die kein Maß kennen,
Die Tränen unserer Lieben sollen die Leute verwünschen,
Die keine Ehre, keinen Glauben haben.“
(B. Chodolej, 1944).
Der Zug setzte sich in Bewegung; ließ Jahre der zähen Leere hinter sich und näherte sich nun dem langersehnten Ziel und der Erfüllung noch unklarer und sorgenvoller Hoffnungen. Zuerst mußte ich noch die Grenzen vieler Länder überqueren. Es kam mir so vor, als sollte sich hinter jeder nochmals eine neue, unbekannte Welt offenbaren. Anfangs bestätigte sich dies anscheinend auch. Hinter der ungarischen Grenze veränderte sich jäh die Landschaft und stellte sich als unermeßlich weite, bis an den Horizont reichende Ebene dar, wie es für die Gebirgsszenerie das Balkan völlig ungewöhnlich war. Es wandelte sich auch das Aussehen der Dörfer und ihrer Bevölkerung. An den Eisenbahnstationen liefen Eisenbahner mit Kopfbedeckungen herum, die ich bisher nur aus Kinokomödien aus der Zeit des Strauß’schen Wien und Budapest kannte. Soldaten in unbekannten, tabakbraunen Uniformen tauchten auf. Ebenso plötzlich vollzogen sich die optischen Veränderungen, als der Zug aus Ungarn in die Tschechoslowakei hinüberfuhr, genauer gesagt ins Reichsprotektorat Tschechien und Mähren. Hier strahlte alles Gediengenheit und Sauberkeit aus. Die akkuraten Ziegeldächer der Häuschen, die gepflegten Felder und Gärten. Die Fahrt durch Österreich und anschließend durch Deutschland vollzog sich unmerklich, da sich die Gegenden kaum von denen in Tschechien unterschieden. In Wien mußten wir umsteigen. Von einem Bahnhof zum anderen wurden wir auf einem LKW transportiert, dessen Wagenkasten von einer Plane überspannt war, aber es gelang mir trotzdem, durch die Ritzen und über den hinteren Wagenrand etwas von der prächtigen Stadt mitzubekommen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. In der Nacht traf der Zug an seinem Bestimmungsort Breslau ein. Mögen mir die Skeptiker der Nachkriegsrealität verzeihen, aber ich werde diese „alte, urtümlich polnische“ Stadt Wrozlaw nennen. Zu jener Zeit war sie das Zentrum des deutschen Gebiets Oberschlesien, und man spürte dort keinen Hauch von polnischer Seele, es sei denn den Nachhall ihrer Geschichte, der an den Wandmalereien des alten Rathauses zum Ausdruck kam, welches damals als Bierstube diente – im Leben der Deutschen eine äußerst ehrbare und solide Einrichtung. Am Bahnhof holte uns ein Vertreter unserer neuen Vorgesetzten ab, ein Hauptsturmführer der SS. Er war ein Mann von etwa 40 Jahren mit aristokratischem Aussehen und tadellos sitzender Uniform. Er stand gelassen, wie eine Statue, da, und die unseren, die sich um ihn herum aufhielten, kommentierten laut, häufig in wenig parlamentarischen Ausdrücken, diese einstweilen noch rätselhafte Figur. Plötzlich begann diese „Figur“ in einwandfreiem Russisch zu sprechen, was vor allem die eifrigen Kommentatoren in vollständige Verwirrung brachte. Die Gestalt erwies sich als entfernter Nachfahre eben jenes Kotschubej, der einst, nach der Behauptung von Aleksander Sergejewitsch, so reich und berühmt gewesen war. Von den Vorfahren hatte er wohl sein elgantes Äußeres geerbt und die Fähigkeit, unbegrenzte Mengen selbstgebrannten Wodkas zu verschlucken. Im übrigen war er für uns nur ein Führer, der uns einige Informationen über unseren Status gab und uns dann an unserem Einquartierungsort abliefern sollte. Diese Ort war noch weitere vier Stunden mit dem Zug in Richtung Kattowitz, der ersten echt polnischen Stadt, entfernt. Unweit der abgelegenen Bahnstation befand sich das große Lager „Sandberg“, das aus zwei oder mehreren Dutzend hölzerner Sammelbaracken unterschiedlicher Größe bestand. Das Lager war von einem soliden Zaun aus mehreren Reihen Stacheldraht umgeben. Am Eingang standen eine ebensolche Baracke – die Räumlichkeiten der Wachmannschaften – sowie ein mongolisch aussehender Wachposten. Wir wurden in einer großen Baracke einquartiert. Nachdem wir uns einigermaßen eingerichtet hatten, begaben wir uns nach draußen, um uns ein wenig umzusehen. Das Lager war von einem Kiefernwald umgeben, der bereits auf den ersten Blick deutsche Akkuratesse verriet. Innerhalb der Lagerbevölkerung fanden sich Menschen von ganz unterschiedlichem Aussehen. Es gab Menschen in deutschen Militäruniformen, mit Schulterstücken oder ohne, Leute mit östlichem Aussehen in allen möglichen Modifikationen, mit irgendwelchen Moscheen-Abbildungen auf den Ärmelemblemen, aber auch einfach nur Kriegsgefangene in zerschlissenen und verblichenen Uniformen der Roten Armee. Aus der ganzen Vielfalt dieser Bevölkerung wurde ich erst etwas später klug, aber ich erzähle schon jetzt davon, um das Bild etwas klarer werden zu lassen. Übrigens, in einem der Spionagefilme der damaligen Zeit wird das Lager Sandberg erwähnt und sogar als Ausbildungszentrum von Saboteuren dargestellt, mit unterschiedlichen Ausrüstungen, einem strengen Regime und hervorragenden Instrukteuren. In Wirklichkeit waren im Lager eine ganze Menge Formierungen untergebracht; hier kümmerten sie sich um organisatorische Angelegenheiten, führten vorbereitende Tätigkeiten durch und wurden dann an ihren eigentlichen Einsatzort entsandt. Sie waren voneinander unabhängig; ihre einzige Gemeinsamkeit bestand darin, daß in ihrer „Chefetage“ SS-Leute saßen. Heute kursieren viele Fabeln über Wlassows „Unabhängigkeit“ und seine beinahe gleichberechtigte Partnerschaft mit den Deutschen. Tatsächlich war er lediglich eine bedauernswerte Marionette. Hier formierte sich auch der Nachschub für die „Turkestanische“ Division. Für die Deutschen sahen sie sich alle zum Verwechseln ähnlich, und alle Kirgisen, Usbeken und andere gehörten auf einen Haufen. Ausgebildet wurden sie von ebensolchen breitgesichtigen Offizieren und Unteroffizieren. Die Kommandos wurden auf Deutsch erteilt, ansonsten wechselte man auch Worte in der eigenen Sprache, aber geflucht wurde auf Russisch. Da gab es Lehrgänge für Funker, vielleicht auch für Saboteure, aber ohne Film-Requisiten. Separat gab es auch noch eine Wach-Kompanie, die sich durchweg aus Burjaten, Jakuten und anderen sibirischen Völkerschaften zusammensetzte. Die Mehrheit der kunterbunten Öffentlichkeit waren Kader unseres zukünftigen Bataillons. Lagerleiter war ein deutscher Major der SS. An seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Er verfügte über ein stattliches Äußeres. Am linken Ärmel, ein Stückchen unterhalb des Schulterstücks trug er ein kupferfarbenes Schildchen mit der aufgeprägten Darstellung einer Krim-Karte und einer entsprechenden Aufschrift. Ähnliches trugen auch die Teilnehmer der denkwürdigsten Schlachten. Ich sah solche Anstecker mit Bezug auf Afrika, Narwik, Kreta, die Alte Rus, mit der Aufschrift „Festung Demjansk“ u.a. Er lebte ebenfalls in jenem Lager. Außer ihm gab es noch eine umfangreiche Stammmannschaft aus Deutschen und Russen, u.a. auch eine Sonderabteilung, an deren Spitze ein ehemaliger Tschekist stand. Kontakte mit den Ureinwohnern des Lagers kamen sofort zustande, aber sie hinterließen, offen gestanden, düstere Eindrücke. Am besten werden sie wohl durch die Verse B. Chodolejs charakterisiert, die sich auf eben diese Tage beziehen:
„Eure Gedanken über Rußland – Ihr seid alle bedauernswerte Plebejer,
Die Errungenschaften der Prahlerei, innerlich fremd ist Euch das Pochen Eurer
Herzen.
Und eure hochgestochenen Ideen sind eine zügellose Katastrophe –
Wie ein außer Kontrolle geratenes Zechgelage. Mädchen, Flüche und
Selbstgebrannter:“
Das ist natürlich zu kategorisch, und mit der Zeit fanden wir innerhalb dieser im Großen und Ganzen recht genau festgestellten „kulturellen Schicht“ auch einfach Menschen mit ganz ausgeprägter Individualität, ihren Lastern und Tugenden. Aljoschkas und mein Aufenthalt in Sandberg beschränkte sich für dieses Mal auf wenige Stunden. Gegen Abend versammelten sich die laut Liste herausgerufenen 30 Mann, zu denen auch unsere gesamte Kompanie zählte, separat, und der eingetroffenen SS-Major schlug vor, sich auf freiwilliger Basis zur Gruppe „für besondere Verwendung“ zu melden, welche im Hinterland des Feindes bestimmte Tätigkeiten verrichten sollte. Von dieser Neuigkeit blieb mir beinahe die Luft weg. Da war sie – die Gelegenheit! Walch und ich tauschten einen Blick aus und traten sofort einen Schritt vor. Chodolej und Sosiska folgten unserem Beispiel. Unter den Volontären befanden sich auch zwei „Schlangen“ sowie ein paar andere, unter denen Papa Maeier der älteste war. Er war um die 45, besaß jedoch eine jugendliche Seele und gehörte mehr zum lauten und unruhigen Teil unserer Gesellschaft. Am nächsten Morgen fuhren wir erneut mit dem Zug nach Breslau zurück und bezogen am Stadtrand, im Vorort Oswitz, Quartier, der mit der Stadt durch eine Straßenbahnlinie verbunden war. In Oswitz gab es in einem alten Buchenwald ein kleines Lager, ebenfalls aus Blockhäusern. Insgesamt waren es acht. In der Mitte des Lagers stand die Speise-Baracke, in der es abends so ähnlich wie in einer Kantine zuging, in der ein paar widerliche Alte mit wässrigem Bier feilschten. Wir wurden, zusammen mit unseren zukünftigen Untergebenen, in zwei Baracken untergebracht, in der einen wohnte die „Ingenieur-Gruppe“ – sowjetische Ingenieure, deren Tätigkeit mir bis zum Schluß unklar blieb, die mich im übrigen aber auch nicht sonderlich interssierte. In den restlichen wohnten die Lager-Mitarbeiter sowie ein Arbeitskommando aus Kriegsgefangenen; außerdem waren dort die Wirtschafts- und Verwaltungsdienste untergebracht. Man führte uns mit Kursteilnehmern aus den Reihen der Kriegshäftlinge zusammen, die schon ein wenig länger dort weilten und teilte uns dann in Dreiergruppen auf: immer einer von uns und zwei der Kursteilnehmer. Die Zusammenstellung erfolgte nach der „administrativen Kommando-Methode“. In meine Gruppe kamen Paschka Kosin, ein Bursche von etwa 20 Jahren, ehemaliger Leutnant der Roten Armee, der vorher Schneiderlehrling oder so etwas in der Art gewesen war, und Ilja Grigoritsch Golowin, ein äußerst ungeschickter, plumper Mann von ca. 35 Jahren, mit dickem Hinterteil – ein Arbeiter aus Nowosibirsk. Der erste war ein etwas beschränkter Modenarr, der stets große Besorgnis um sein Äußeres an den Tag legte. Ständig machte er sich vor dem Spiegel schön, kämmte seinen Haarschopf. Er trug sorgfältig gebügelte Hosen, die in eng anliegenden Falten in Chromlederstiefeln steckten, wie die Offiziere sie zu tragen pflegten, sowie eine einreihige Militärjacke der SS, die mit einem sowjetischen Offiziersgürtel mit aufgeprägtem Stern, Hammer und Sichel zusammengehalten war. Das sah unglaublich albern aus, aber aus irgendeinem Grund berührte es niemanden wirklich. Der zweite war das genaue Gegenteil; er sah ungepflegt aus. Seinen mangelnden Verstand ergänzte er noch durch Kulturlosigkeit und eine gewisse Bauernschläue und benahm sich uns gegenüber in einer väterlich-gönnerhaften Art und Weise. Von den Vorgesetzten, allerdings in einem separaten Häuschen, war Hauptman Semjonow zusammen mit uns einquartiert, der einem Fuchs gleichende Leutnant Wild, ein Russe, sowie zwei Unteroffiziere aus der Gruppe von Semjonows jugoslawischen Mitstreitern – Skworzow und Tschelpanbajew. Letzterer war, trotz seines „schwarzen“ Namens ein reinblütiger Russe, klein und mit sehr blauen Augen. Wir wurden zum wiederholten Male in eine andere Uniform eingekleidet. Man gab uns diesmal die Uniform der SS-Truppen, mit einem Totenschädel-Emblem auf der Mütze, schwarzen Kragenspiegeln und Schulterstücken. Im Rahmen dieser Verwandlung erhielt ich die Rangbezeichnung Unterscharführer. Wir bekamen auch Waffen ausgehändigt – Pistolen der Marke „Walter“ vom Kaliber 7,65 mm, in der Art, wie ich sie damals als unerschwingliche Kostbarkeit in der Vitrine des Waffengeschäfts in Sofia gesehen hatte. Kurze Zeit später erhielten wir auch unsere Papiere. Anstelle des gewohnten „Soldbuchs“ gab es nun das sogenannte „Einsatzbuch“, so etwas wie ein Dienstbuch, in dem bescheinigt wurde, daß wir Mitarbeiter der IV. Abteilung des Sicherheitsdienstes waren, eben jener SD, in dem sich angeblich auch Stirlitz betätigte und an dessen Spitze sein Freund Walter Schellenberg stand. Unsere Unterabteilung erhielt die Bezeichnung Gruppe “Ulm“. Nach den Plänen unserer Leitung, welche durch die unerschöpflichen Phantastereien Semjonows wachgerufen worden waren, wurde es der Gruppe „Ulm“ zur Aufgabe gemacht, aus der Luft im Ural zu landen, sich in kleinen Gruppen (zu jeweils drei Mann) auf vorherbestimmten Marschrouten zu verteilen, dabei mit dem Zentrum über eine Radio-Funk-Verbindung in Kontakt zu bleiben und schließlich zum festgesetzten Zeitpunkt gleichzeitig alle Hochspannungsleitungen lahmzulegen, welche die Industrie der Ural-Region mit Energie versorgte. Dies sollte nicht nur einen vorübergehenden Stillstand in den Fabriken verursachen, sondern auch die vollständige Einstellung vieler Produktionsbereiche in der metallverarbeitenden Industrie. Wir hielten diese Idee von Anfang an für ein sinnloses Abenteuer, das allenfalls auf die Erzielung eines äußerlichen Effekts abzielte, der lediglich den Urhebern dieses Hirngespinstes vorteilhaft erschien. Entsprechend den erwähnten Absichten gestaltete sich auch die Zielrichtung und Vorgehensweise bei den Vorbereitungen zu dieser Aktion. Sie waren weit von jeglichen Kinostandards entfernt, aber dafür im Großen und Ganzen ziemlich gründlich. Sorgfältig studierten wir Kartenmaterial der Gebiete, in denen wir maßgeblich tätig werden sollten (die Karten waren unübertrefflich – in Farbe und in einem großen Maßstab), lernten, wie man sich mittels Kompaß orientiert und voranbewegt, erfuhren alles Wichtige über die verschiedenen Arten von Sprengstoffen, Kapseln und Zündern mit ihren diversen Funktionen und Einsatzzwecken. Wir wurden auch physisch vorbereitet und mußten Schießübungen mit Pistolen und automatischen Gewehren englischer Herkunft absolvieren. Die Automatikgewehre waren von ihrer Konstruktion her äußerst einfach und grob in der Ausstattung; sie ließen sich leicht in drei Teile zerlegen und bequem, in aller Heimlichkeit, überall mit hinnehmen. Sie besaßen durchgehende Magazine für 20 Schuß Munition in einer Patronenstärke von 9 mm. Des weiteren erlernten wir den Umgang mit sowjetischen Dokumenten, Formularen, die Art und Weise, wie man sie ausfüllte und fälschte. Mit den Vorbereitungen waren Instrukteure aus den Reihen der Deutschen betraut, gelegentlich aber auch sowjetische Ingenieure, die ich bereits früher erwähnte. Am Lagertor stand ein Wachmann aus dem Personalbestand des Lagerdienstes, aber das Betreten und Verlassen war ohne Einschränkungen erlaubt, auch für die Kriegsgefangenen des Arbeitskommandos. Wir wurden alle mit denselben Mahlzeiten verpflegt, erhielten allerdings zusätzlich Trockenrationen, wie zum Beispiel Käse, Wurst und Fruchtmus.
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