„Sparen!“ Und „Feind hört mit!“
Die meistverbreiteten Plakate in Deutschland während des Krieges.
In unserer Freizeit fuhren wir in die Stadt oder unternahmen Streifzüge in der Umgebung. In der Stadt gab es außer der Bierschänke im ehemaligen Rathaus oder ähnlichen Einrichtungen nichts Interessantes. Allerdings fand sich dort eine Sehenswürdigkeit: „Die Straße der Schlüssel“, wie unsere Soldaten sie nannten. Eigentlich handelte es sich dabei nur um eine kurze Querstraße, welche zwei strahlenförmig angelegte Straßenzüge miteinander verband, die sternförmig vom Rathausplatz ausgingen. Sie war etwa 100-150 Meter lang und sehr eng: auf der Fahrbahn hätten kaum zwei Fahrzeuge aneinander vorbeifahren können. Zu beiden Seiten standen große Häuser. Tagsüber war es in der kleinen Straße wie leergefegt, an der verhängten Tür der einzigen Kneipe hing die Aufschrift: „Zutritt für Militärpersonen verboten“. Aber am Abend belebte sich die „Straße der Schlüssel“: aus der Bierschänke ertönte Musik, und in den torförmigen Gängen der Häuser tauchten Mädchen auf, teils in Gruppen, teils allein. Mit ihren klirrenden Schlüsselbunden forderten sie Kunden zum Eintreten auf. Aus lauter Neugier machten Aljoschka und ich uns eines Tages zu diesem Gäßchen auf; wir hatten uns zu diesem Zweck vorsichtshalber eine Taschenlampe besorgt, denn aufgrund der geltenden Verdunklungsmaßnahmen in der Stadt war es nicht ganz einfach sich zu orientieren, und in der „Schlüsselstraße“ gab es überhaupt keine einzige Laterne, nicht einmal eine blaue. Wir waren noch keine 20 Meter weit gegangen, als wir auch schon in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der untereinander konkurrierenden Vertreterinnen des ältesten Gewerbes der Welt gerieten. Aljoschka machte die Taschenlampe an, und durch ihrem Lichtstrahl huschten, möglicherweise vom Licht entstellte, ausgemergelte, gierig und auch boshaft schauende Gesichter und sich hartnäckig festkrallende Hände. Ohne zu sprechen rissen wir uns , begleitet vom Pfeifen und Gelächter der würdigen Damen, los, die weit mehr Ähnlichkeit mit den Hexen in Gogols Romanen hatten. Eine angenehmere Einrichtung entdeckten wir in der näheren Umgebung des Lagers. Nördlich davon waren Reste einer Verteidigungsanlage aus den Zeiten des schwedischen Königs Gustaf Adolf erhalten geblieben. Unweit davon, in einem Wald, stand ein zweigeschossiges Haus, in dessen erstem Stockwerk sich ein gemütliches Bierstübchen mit dem Namen „Schweden-Schanzen“ befand.
Der Wirt wohnte in der zweiten Etage. Im Saal bediente eine sympathische
Kellnerin, die wir unter uns immer „Fräulein Bittesehr“ nannten, denn wir hatten
festgestellt, daß sie bei jedem Dritten, dem sie einen Bierkrug servierte, „Bitte
sehr!“ sagte. An dieses Fräulein ist mir folgende lustige Erinnerung geblieben.
Einmal kam unser Kamerad Tschablinskij, eben jener Papa Tschapa, aus Sandberg zu
uns, der den „starken“ Schnaps bevorzugte. Auch er war übrigens nicht im
Bataillon, sondern in einer der unseren analogen Spionageschule, welche in einem
Kloster bei Sandberg untergebracht war, wo untzer ein- und demselben Dach, wenn
auch in verschiedenen Gebäudeteilen, Benediktinermönche und angehende Spione
nebeneinander existierten. Um unser Wiedersehen ein wenig zu feiern, begaben wir,
insgesamt 10 Mann, uns zusammen mit Papa Tschapa in dieses Bierstübchen.
Fräulein „Bittesehr“ bediente uns, wo bei sie unverändert bei jedem dritten
Bierkrug ihr Repertoire herunterleierte. Diese Prozedur mußte sie insgesamt
fünfmal wiederholen. Nach ein, zwei Stunden rief Tschaplinskij die Bedienung an
den Tisch und bezahlte für uns alle die Zeche. Mehr als ein Monat verging.
Einmal, an einem schwermütigen Herbstabend, gerieten Sosiska und ich unversehens
in die kleine Kneipe. Im Saal war kaum jemand zu sehen; es herrschte eine
halbdunkle, traurige Atmosphäre, die auch ganz unserer eigenen Stimmung
entsprach.
Nicht weit von uns entfernt saßen noch zwei Besucher an einem kleinen Tischchen,
ein wohl schon etwas älteres Ehepaar, das ebenso rast- und ruhelos war wie wir.
Nachdem Tantchen „Bittesehr“ uns bedient hatte, neigte sie sich zu den alten
Leuten hinunter und flüsterte etwas, wobei sie zu uns herüberschielte. Im Saal
herrschte Stille, so daß ich, angestrengt lauschend, den Sinn des Gesprächs
mitbekommen hatte. „Sehen Sie“, - flüsterte das Fräulein, - das sind Russen.
Einmal sind sie mit einer großen Gesellschaft hier gewesen und haben 50 (!)
Krüge Bier leergetrunken.“ Das, was am meisten erschütterte, hob sie ganz für
den Schluß auf: „Und wissen Sie was? Einer hat für alle bezahlt!“ Als die alte
Frau dies hörte, schlug sie die Hände zusammen, hob die Augen gen Himmel und
meinte: „Oh mein Gott!“ – In diesem Haus wohnte als Bedienstete (ich möchte
nicht das Wort Sklavin gebrauchen) ein Mädchen namens Marusja, das aus der
Ukraine hierher deportiert worden war. Die Wirtsleute hielten es ähnlich wie
Aschenputtel im Märchen: es mußte von früh bis spät arbeiten. Eines seiner
Pflichten bestand darin, regelmäßige eine widerwärtige Bulldogge auszuführen. In
diesen kurzen Minuten der Erholung traf ich mich ab und an mit ihr. Nachdem sie
die Bulldogge angebunden hatte, setzten wir uns auf eine Bank und unterhielten
uns. Sie tat mir sehr leid, und ich versuchte sie ein wenig zu trösten und
zärtlich zu behandeln. Der gräßliche Köter hielt seine aufmerksamen Augen auf
uns gerichtet und knurrte mißmutig. Auf der anderen Seite des Lagers, bereits
direkt in der Siedlung gelegen, existierte noch eine ander Bierkneipe. Sie wurde
von zwei Schwestern bewirtschaftet: Herta, ein rundliches Dämchen von etwa 28
Jahren, und ihre jüngere Schwester Erika, 22. Letztere war eine kleine Blondine,
deren Haare einen leicht rötlichen Einschlag hatten, die beim Lächeln immer in
liebenswerter Weise ihre sommersprossige Nase rümpfte. Wenn wir aus der Stadt
zurückkamen, schauten wir auf dem Weg häufig kurz in diese Bierstube hinein.
Anfangs waren wir ganz gewöhnliche Gäste, aber nach und nach freundeten wir uns
mit den Mädchen ein wenig an und verbrachten dann auch oft mit ihnen die Zeit,
und zwar nicht nur im Kneipenraum, sondern auch im eigentlichen Wohnbereich.
Bierstube und Küche grenzten aneinander. Zuerst hatten wir (Aljoschka und ich)
wohl aufgrund unseres exotischen Wesens das Interesse der Wirtsfrauen geweckt –
rätselhafte Wesen aus dem Volksstamm der Russen, aber später sahen sie uns dann
auch als ganz normale Menschen an, die in vielem sogar besser als ihre Bekannten
aus den Reihen der „Reinrassigen“ waren. Da Aljoschka kein Deutsch gelernt hatte,
mußte ich sprachlich für zwei arbeiten. Auch ein interessantes Detail. Unsere
Freundinnen bewirteten uns nicht selten mit einem Abendessen oder mit
Süßigkeiten, gelegentlich tauchte auch eine Flasche Wein dazu auf. All das
stellte unter den Bedingungen des starren Rationierungs- und
Lebensmittel-Markensystems ein großes Defizit dar. Sie nahmen keinerlei Geld von
uns, aber wenn wir während eines Festmahls mehrere Krüge Bier leertranken, dann
mußten wir dafür zahlen. Von unserem Techtelmechtel erfuhren irgendwann unsere
Vorgesetzten. Hauptmann Semjonow, der die Streiche der „Ajax-Brüder“, wie er es
ausdrückte, wohlwollend hinnahm, bat uns in Erfahrung zu bringen, ob unsere
beiden Freundinnen nicht eine Art Torte herstellten könnten, sofern er alle
dafür notwendigen Zutaten beschaffen würde. Die beiden willigten ein, und wir
brachten ihnen vom Hauptmann etwas Mehl, Zucker, Butter und Kako mit. Nach
unserem Ermessen hätte man aus diesen Dingen schon ein kleines Törtchen
hinkriegen können. Wie groß war dann unsere Verwunderung, als sie uns wenig
später drei wundervolle Torten überreichten. Eine brachten wir Semjonow, die
zweite aßten wir gemeinsam mit unseren beiden Wirtinnen auf, und die dritte
zwangen sie uns, ungeachtet unserer Proteste, mitzunehmen; wir verdrückten sie
zusammen mit unseren Freunden auf das Wohl der geschickten Backmeisterinnen –
und auf Hauptmann Semjonow. Beide Mädchen waren übrigens verheiratet, ihre
Männer befanden sich an der Front. Herta hatte eine Tochter, ein Püppchen von 6
Jahren nahmens Evi (Eva). Herta war ausschließlich in der Bierschänke tätig,
während Erika nur abends aushalf, da sie tagsüber irgendwo eine andere
Beschäftigung hatte. Außerdem war Erika irgendeine Parteifunktionärin innerhalb
des Blocks (Blockleiterin). (Wie Sie sehen, befanden wir uns in einer
Faschistenhöhle). Aber in Wirklichkeit waren beide keineswegs profaschistisch
eingestellt. Als wir uns ein wenig näher kennengelernt hatten, hörten wir den
englischen Rundfunksender in deutscher Sprache, eine gesetzteswidrige und somit
strafbare Handlung. Zu dieser Kurzweil gesellte sich nicht selten einer ihrer
Bekannten hinzu, ein Soldat, der aufgrund einer Verwundung von der russischen
Front auf Urlaub gekommen war. Das gab ein interessantes und allgemein für jene
Zeit bedeutungsvolles Bild ab: ein Mitglied der Nazipartei, Frontkämpfer, und
russische Staatsbürger, die sich gemeinsam an den gedämpft tönenden
Rundfunkempfänger schmiegten, vereint in unsichtbarer Solidarität und
feindlicher Gesinnung gegenüber dem Hitler-Regime. Unsere Freundschaft zog nicht
nur Semjonows Aufmerksamkeit an. Eines Tages teilte Erika uns mit, daß einer
unserer Instrukteure, der Deutsche Rusch, sich an sie und ihre Schwester mit dem
Vorschlag gewandt hätte, bei ihnen eine Art Party mit ihnen und uns zu
organisieren. Erika warnte uns eindringlich; wir sollten äußerst vorsichtig sein,
denn man wollte uns wohl auf den Zahn fühlen. Einmal kamen wir alle zusammen.
Alles ging äußerlich ganz ungezwungen zu. Allmählich klangen zwischen witzigen
Bemerkungen und unbedeutendem Gerede auch Meinungen über die Politik mit an. Ich
war auf der Hut, aber das Spiel erfaßte mich und ich reagierte feinfühlig auf
Ruschs Gerede und fiel, unter dem Einfluß von Bier, nicht mit in den
Hurra-Patriotismus ein, sondern balancierte an der Grenze des Freidenkertums.
Rusch erzählte einen Witz, dann war ich wieder an der Reihe. Ein wenig streiften
wir Göbbels, Göring und berührten auch „ihn höchstpersönlich“, aber alles im
Rahmen einer hochanständigen, wahren Staatsergebenheit. Schließlich zog Rusch
wieder von dannen, und wir saßen noch lange beisammen und lachten über den
erfolglosen Spürhund. Evi verbrachte die Werktage für gewöhnlich bei
irgendwelchen Großeltern; sonntags dagegen war sie bei der Mutter. In deutschen
Kantinen, Geschäften und Bierstuben findet der freie Tag an verschiedenen Tagen
statt, worüber die Gäste obligatorisch auf einem kleinen, an der Tür
angebrachten Schildchen in Kenntis gesetzt werden. So hatte unser Bierstübchen
dienstags geschlossen. Am Sonntag wurde dort jedoch gearbeitet. Mit dem Mädchen
befaßte sich hauptsächlich Erika, aber auch sie mußte der Schwester gelegentlich
zur Hand gehen. Mitunter, um Erika zu entlasten, holte ich Evi ab und ging mit
ihr spazieren. Wir wanderten auf der Allee an der Oder entlang, welche in etwa
100 m Entfernung an der Bierstube vorbeifloß. Dort gab es auch eine kleine
Grünanlage mit einem Kinderspielplatz. Die Kinder waren noch nicht vom
Rassenwahn des Führers infiziert; Evi faßte mich bei der Hand und zog mich
weiter, und es verschaffte mir einiges Vergnügen, als ich mit ehrwürdigen
Tantchen und Großmüttern in der Grünanlage auf der Bank saß und sie damit in
Verblüffung versetzte, daß ich ihnen offen erzählte, ich sei Russe, während Evi,
die auf meinen Knien saß, ihrem Onkel Paul einen gefangenen Schmetterling oder
ein anderes ungewöhnliches Objekt demonstrierte.
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