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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil IV. Ritter mit Regenmantel und Dolch

Kapitel 29. Ein Riß im „strengen Regime“

- Passierschein vorzeigen!
- Ich habe keinen. Ich bin gerade erst angekommen.
- Davon ist mir nichts bekannt. Ohne Passierschein lasse ich Sie hier nicht durch.
- Wie soll ich das denn machen? Um einen Passierschein zu bekommen, muß ich doch bis zum Büro durchgehen.
- Gehen Sie um die Ecke. Dort fehlt ein Brett im Zaun.
(Aus meinem Dialog mit der Pförtnerin im Hafen von Igarka).

Beinahe wäre unsere Idylle jedoch einem jähen Ende entgegen gegangen. Ich habe meinen und auch teilweise den Zeitvertreib der mir Nahestehenden eingehend beschrieben. Unsere Truppen amüsierten sich auf ihre Weise. Irgendwo in Breslau existierte eine Fabrik, in der, wie es im damaligen Deutschland üblich war, ausländische Arbeitskräfte tätig waren, unter ihnen auch zahlreiche russische Mädchen. Sie waren in Wohnheimen untergebracht. Und „unsere sowjetischen Freunde“ hatten sich angewöhnt, öfter dorthin zu gehen. Damit schufen sie eine Konkurrenz zu den Burschen in Zivil, zumeist Polen, die ebenfalls in der Fabrik arbeiteten. Auf dieser Grundlage entstanden Konflikte. Mitunter stellte sich mit aller Entschiedenheit die Frage: „Na was ist? Wollen wir heute los und die Polen verdreschen?“ – „Na klar!“ – meinte ein anderer. Mein Paschka Kosin schlug auch mir vor, an ähnlichen Vergnügungen teilzunehmen, aber ich lehnte das ab, denn ich hatte kein Verständnis dafür, daß man vorsätzlich Menschen verprügelte, bloß weil sie Polen waren. Übrigens war dies gar nicht so verwunderlich, denn auch unter den sowjetischen Leuten jener Zeit waren derartige Erscheinungen von Nationalismus nicht ausgeschlossen. Der verächtliche Spitzname „Jeldaschen“ (von Joldasch = Kamerad) im Zusammenhang mit Bewohnern Mittelasiens war weit verbreitet. Diese Geringschätzung erklärte sich gewöhnlich aus den niederen kämpferischen Qualitäten der „Jeldaschen“, was verständlicherweise in den Jahren des Krieges feindselige Gefühle weckte, aber ich glaube, daß es wohl eher der unüberwindbare Nachhall des vorrevolutionären Chauvinismus war, der sich in den von Fremdvölkern bewohnten Gegenden Rußlands herausgebildet hatte. Schläger-Feldzüge wurden selbstverständlich durch die Polizei unterbunden, von der auch Beschwerden eintrafen, die gelegentlich von Beweisstücken begleitet wurden – wie beispielsweise unsere beiden Paschek und Wasek, die mit einem Veilchen unter dem Auge daherkamen. Aus diesem Grunde war das Verlassen des Lagers seit einiger Zeit verboten. Übrigens gab es da vermutlich auch noch einen anderen Grund: Informationen über den Betrieb unseres Lagers waren zu jener Zeit nicht nur bis zum Wohnheim der Mädels vorgedrungen, sondern bis hin zum Ural, und unsere Vorgesetzten, die sich nun plötzlich etwas verspätet darauf besannen, hatten beschlossen, das Heraussickern militärischer Geheimnisse zu unterbinden. Die Einhaltung dieses Verbots wurde durch den Lagerleiter, Sturmbannführer (Major der SS) Zinke, der nach dem abendlichen Zapfenstreich um die Baracken Streife ging, höchstpersönlich kontrolliert. Das Verbot versetzte unserem Bündnis mit den Ariern einen schweren Schlag. Aber man fand einen Ausweg. An einer Stelle verlief die Stacheldraht-Einzäunung über eine kleine Insel aus jungen Fichten. Nach ein paar Minuten Arbeit hatten wir nach allen Regeln der Pionierkunst, wie sie vom Unterrichtsprogramm vorgesehen war, einen Durchlaß geschaffen. Jetzt mußten wir nur noch das Problem des Nichtentdecktwerdens lösen. Zu diesem Zweck kamen Uniformmäntel, Kochgeschirre und ähnliches Hilfsmaterial zum Einsatz, aus dem man das einigermaßen leidliche Modell eines schlafenden Menschen zaubern konnte. Der wohlgeordnete deutsche Verstand Major Zinkes konnte einfach nicht auf eine derartige Gesetzlosigkeit kommen, und selbst wenn bei Skworzow oder Tschelpanbajew, die ihn auf seinen Wachgängen abwechselnd begleiteten, kleine Fünkchen eines Zweifels aufkeimten, so verwarfen sie sie untereinander sogleich wieder. Noch etwas über diese Persönlichkeiten. Ihre Rolle ähnelte der eines Hauptfeldwebels. Skworzow befaßte sich eher mit wirtschaftlichen Dingen, Tschelpanbajew dagegen mit Fragen der inneren Ordnung. Er war unauffällig, nicht streng, und man hielt keine großen Stücke auf ihn. Er schoß sehr gern mit der Pistole. Innerhalb des Lagers gab es einen Platz für Schießübungen. Es war eine Art Platz, der an drei Seiten von einem Erdwall umgeben war. An seiner Vorderseite befand sich ein Vordach aus Brettern; der Raum darunter war durch Trennwände in einzelne Schießkabinen unterteilt. Patronen standen in unbegrenzter Anzahl zur Verfügung, und jeder übte wann und so viel er wollte. Wenn wir bemerkten, daß Tschelpanbajew sich zum Schießen bereitmachte, dann betrat einer von uns, mitunter waren es auch mehrere, die Nachbarkabine und schossen auf Tschelpanbajews Zielscheibe. Nachdem dieser seinen Patronenstreifen verschossen hatte, ging er zur Zielscheibe und entdeckte darin 10-15 Durchschüsse. Nun stellte er eine Flasche hin, ging zu seiner Kabine zurück, zielte; doch hatte er noch nicht einmal den Abzug durchgedrückt, als die Flasche auch schon mit einem lauten Knall zersplitterte. Na ja, und nachdem Aljoschka und ich uns Rückendeckung verschafft hatten, begaben wir uns zu unserem gewohnten Rendevous. Einmal wären wir um ein Haar in ernsthafte Unannehmlichkeiten geraten. Es geschah an einem Dienstag – dem freien Tag in Hertas Bierstübchen. Wir setzten uns in den leeren Saal, tranken Bier und lauschten dem Rundfunkempfänger. Es muß schon gegen Mitternacht gewesen sein, als jemand an die Tür klopfte. In der Annahme, daß es sich um einen späten Gast handelte, löschten wir das Licht und schalteten das Radio ab. Aber das Klopfen wurde wiederholt und klang diesmal noch etwas fordernder. Eine Stimme ertönte: „Aufmachen! Polizei!“ Eine derartige Begegnung paßte uns überhaupt nicht in den Kram. Damit wir uns nicht durch laute Schritte verrieten, streiften wir in aller Eile unsere Stiefel ab, in der Dunkelheit rieß ich noch unsere Gürtel mit den Pistolen vom Kleiderhaken, und dann schlichen wir auf Strümpfen durch die Küche und verschwanden durch den Hinterausgang. Der Polizist indessen hatte beschlossen, nicht länger darauf zu warten, ob jemand die Vordertür öffnen würde, sondern sich ebenfalls zur Rückseite zu begeben; der unglückliche Zufall wollte es, daß wir beinahe mit den Nasen aufeinander stießen. Wir rannten in verschiedene Richtungen davon. Aljoschka lief um das Haus herum auf die Straße, während ich in irgendeinem Gemüsegarten wiederfand. Nachdem der Polizist einen Moment verwirrt gezögert hatte, verfolgte er mich. Zu der Zeit war es mir bereits gelungen wieder in meine weiten deutschen Stiefel hineinzusteigen, wobei ich allerdings die Beine verwechselte hatte; hastig sprang ich über den Zaun. Zur damaligen Zeit waren die Polizeiposten hauptsächlich von bereits älteren Reservisten besetzt, und während der Ordnungshüter am Zaum herumächzte, sprang ich über einen zweiten und fand mich im Innenhof eines großen Nachbarhauses wieder, das eher an einen Brunnenschacht erinnerte. Mein Verfolger, überzeugt von der Aussichtslosigkeit einer weiteren Verfolgungsjagd, blieb zurück. Ich versuchte durchs Haus auf die Straße zu gelangen, aber die Vordertür war zugesperrt. Ich saß in der Falle. Während ich mich umsah, bemerkte ich jedoch einen schmalen Lichtstreifen zwischen den Häusern; nur war die Sicht durch einen etwa zwei Meter hohen Bretterzaun versperrt. Erneut zog ich die Stiefel aus, band sie an den Schlaufen mit meinem Taschentuch zusammen, nahm das Bündel zwischen die Zähne und began den Zaun hinaufzuklettern. Dort war alles still. Auf der anderen Seite sprang ich hinunter, überquerte den Weg, gelangte auf die Allee, die am Fluß entlangführte und rannte davon – schneller als die beiden Gebrüder Snamenskij. Erst als ich den Wald erreicht hatte, zog ich meine Stiefel wieder an und ging auf einem geheimen Pfad nach Hause. Vor einem kleinen Tannenhain rief Walch mich an, der sich um mein Schicksal schon große Sorgen gemacht hatte. Ich gab ihm seinen Gürtel zurück; nur die Mütze hatte ich in der Dunkelheit nicht wiedergefunden. Beim Morgenappell mußte er vortreten und in Skworzows alten Lagerbeständen nach einem Ersatz suchen, der kaum auf dem Scheitel haften blieb. Am Abend zogen wir los, um in Erfahrung zu bringen, wie das Abenteuer ausgegangen war.

Es stellte sich heraus, daß der Lichtstrahl, der sich einen Weg durch die Verdunklung gebahnt hatte, die Aufmerksamkeit des Polizisten angezogen hatte; deswegen wollte er der Hausbesitzerin mitteilen, daß sie die geltende Ordnung verletzt hatte. Im übrigen zog er keine besonderen Konsequenzen aus der Sache, hielt lediglich eine Moralpredigt über eheliche Treue, und damit war der Vorfall erledigt. Die Regelmäßigkeit der Kneipenbesuche wurde aus einem anderen Grund unterbrochen An Tagen, an denen wir das Lager nicht verließen, spielten wir in der Kantine Preferance. Daran nahmen außer mir und Walch auch der Schlangen-Tarasow, Papa Meier und manchmal auch andere teil, die, sofern sie nicht selbst spielten, wenigstens die Unterhaltung aufrechterhielten. Natürlich herrschte überall Verdunklung, und das Gelände selbst war überhaupt nicht beleuchtet. Im Herbst herrschte abends derartige Finsternis, daß man buchstäblich nicht die Hand vor Augen sehen und nur durch vorsichtiges Sichvorantasten in die Baracke zurückfinden konnte. Mit ausgestreckten Armen bahnte ich mir meinen Weg zwischen den Bäumen hindurch, und hatte schon fast mein Zuhause erreicht. Aber die Barackentür stand offen, und der dünne Türrahmen geriet genau hochkant zwischen meine sich vortastenden Arme. Plötzlich sah ich nur noch Sterne vor den Augen. Am kommenden Morgen sah meine Physiognomie nicht besser als die der antipolnischen Schlägerhelden aus, und ich mußte vorerst auf Besuche bei den Schwestern verzichten.

 

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