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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil IV. Ritter mit Regenmantel und Dolch

Kapitel 31.Semjonow beanstandet Ware.

(Reklame – der Motor des Handels)

Wir werden jetzt von den Kleinigkeiten des Lebens abschweifen und umfangreicheren Problemen zuwenden, die jedoch mit bloßem Auge nicht so einfach zu erkennen sind. Es handelt sich um organisatorische Fragen und innere Prozesse im Bereich des deutschen Spionagedienstes. Wie heute aus der Literatur und aus Kinofilmen allgemein bekannt ist, existierten zwischen Armee und SS immer Feindseligkeit und Antagonismen. In besonders großem Maße trat dies in den Organen des Spionagedienstes zutage. In beiden Organisationen gab es sie parallel zueinander, wobei beide viel weniger bemüht waren, einander zu ergänzen, als vielmehr alles zu tun, um sich gegenseitig ein Bein zu stellen. An der Spitze der Armee-Spionage, der Abwehr, stand Admiral Canaris, während W. Schellenberg die Aufklärung der SS der 6. Abteilung (Sicherheitsdienst) anführte. In dem der Front vorgelagerten Streifen wurden diese Abwehrdienste durch das Frontkommando gelenkt (es gab drei davon: das südliche, das zentrale und das nördliche) und dementsprechend von den SS-Aufklärungsbehörden, die die Bezeichnung Hauptkommando Süd, Nord usw. trugen. Bei mir war der Eindruck entstanden, dass die Nutzlosigkeit dieser Zweigleisigkeit hinreichend offensichtlich war, und die wesentlichen Bemühungen unseres Kommandos darauf verwendet wurden, durch bloßen Anschein von Arbeit die Augen der obersten Leitung zu täuschen, um so den Aufwand an Geldmitteln zu rechtfertigen, aber auch, um sich hier irgendwie über Wasser zu halten und nicht an die Front zu müssen. Diesen Zielen dienten auch Unternehmen wie das unsere, die nach ihrem Umfang und ihrem übertrieben Effekt bewertet wurden. Mit ihnen machten sie keinen schlechten Gewinn, ohne über das Schicksal der Menschen nachzudenken, die diese Pläne realisierten. Übrigens wurde der Personalbestand bis zu ihrem Mißerfolg oder der Verwirklichung ihrer Pläne keineswegs durch mangelnde Aufmerksamkeit benachteiligt, und man geizte auch nicht mit verschiedenen Veranstaltungen. Ich denke dabei an jene Exkursionen, die man für uns organisierte. [Insgesamt gesehen ist dieses Thema ziemlich tiefgründig und weitreichend, aber an dieser Stelle werde ich es nicht weiterverfolgen, sondern nur das erwähnen, was an der Oberfläche lag.] Die erste fand schon bald nach unserer Ankunft in Oswitz statt. An ihr nahmen nur diejenigen teil, die aus Jugoslawien hierher gekommen waren. Es ging nach Berlin. Wir wurden in das schöne, mitten im Stadtzentrum liegende Hotel „Roxi“ umquartiert. Zu jener Zeit war Berlin bereits häufig massiven Bombenangriffen ausgesetzt, aber dank der guten Organisation aller Dienste, lebte man in den unversehrten Bezirken ein ganz normales Leben: die öffentlichen Verkehrsmittel waren in Betrieb, die Geschäfte, ebenso wie Schauspielhäuser, Kinos und andere staatliche Einrichtungen geöffnet. Vor dem Reichskanzleramt, der Residenz Hitlers, standen Wachleute – ein Soldat und ein „Goldfasan“ (Anspielung auf eine mit zahlreichen Orden behängte Uniform, dessen Träger „Goldfasan“ oder „Lametta-Heini“ genannt wurden; Anm. d. Übers.), Mitglied der faschistischen SA. Sie standen da und rührten sich nicht; nur wenn Vorgesetzte passierten, drehten sie komplizierte Pirouetten mit ihren Waffen, rissen die Gewehre von der Schulter, hielten sie in Bereitschaft, um sie dann erneut zu schultern. Heil und unversehrt waren auch das Brandenburger Tor und die Straße Unter den Linden, aber es gab auch viele tote Stadtviertel, in denen es weder Menschen noch brennende Lichter gab. In den Nächten brannte höchstens das spärliche Licht einiger Laternen und ein phosphoreszierender Streifen um die Bäume und Telegrafenstangen. Jede Nacht hatten wir Fliegeralarm, der jedoch glücklicherweise immer rechtzeitig ausgelöst wurde, so dass alle sich ohne große Eile in die Luftschutzbunker begeben konnten. Es gab eine Menge davon, ebnso wie Hinweisschilder und Pfeile, die einem den Weg dorthin wiesen, und ansonsten waren die Soldaten für Zivilschutz in diesem Punkt sehr hilfsbereit, die beim ersten Heulen der Sirenen auf der Straße erschienen, mit Armbinden und über die Schulter gehängten Gasmasken. Wir gingen sowohl in Grupen als auch einzeln in Museen oder ins Varieté. Man händigte uns einen bestimmten Geldbetrag und Lebensmittelkarten aus. Bei der Bestellung in der Kantine schnitt der Kellner soviele Kartenabschnitte heraus, wie er für Fleisch, Fett und anderes benötigte, worauf auch in der Speisekarte hingewiesen wurde. Es gab auch Gerichte ohne Marken. Diese Abschnitte konnte man auch in jedem Laden eintauschen, zudem brauchte man dort nicht in der Schlange stehen. Aufrichtigkeit, Disziplin und Organisiertheit – das war es, was mir in Berlin zuallererst ins Auge fiel. Offenbar waren diese Eigenschaften auch die wichtigste Waffe der Deutschen, die es ihnen gestattete, über Jahre hinweg, praktisch gegen die gesamte Welt, Krieg zu führen. An einem der ersten Tage nach unserer Ankunft in Berlin holte Semjonow uns ab, um uns unseren Vorgesetzten vorzustellen. Wir wurden in ein großes Zimmer geführt, in dem ein langer Tisch stand. Irgendein Beamter trat ein. Schellenberg war es nicht und Stirlitz natürlich auch nicht. Er trat vor jeden hin, gab ihm die Hand und stellte seine Standardfragen: „ Wie heißen Sie?“ - „Wie alt sind Sie?“ – „Was sind Sie von Beruf?“ – All das fragte er mit ausdrucksloser Stimme, und ohne überhaupt eine Antwort abzuwarten, meinte er dann: „Ach so!“ und ging zum Nächsten. Während dieser Zeremonie brachten zwei gewandte Soldaten aus den Reihen der Russen eine Flasche Wodka sowie Gläser und stellten sie auf den Tisch. Der Beamte umkreiste alle Anwesenden einmal und begann dann mit seiner Rede. Ich verstand nicht wirklich, worum es darin ging, denn ich saß ganz am anderen Ende des Tisches. Jedenfalls kamen Groß-Deutschland, die Rettung Europas und die goldenen Buchstaben in der Geschichte darin vor ... Zum Abschluß schlug er vor, auf das Wohl des Führers zu trinken. Alle reagierten auf die Aufforderung, aber sogleich bekamen ihre Gesichter einen befremdlichen Ausdruck: die Flasche enthielt reines Wasser. Aber alle schwiegen, mit Ausnahme von Chodolej, der mir spöttisch-boshaftem Lächeln bemerkte, dass dieses Getränk für den Führer auch bestens geeignet wäre. Der Zimmerinhaber, hingerissen von seiner eigenen Beredsamkeit, trank als Letzter. Mit Interesse beobachteten wir, wie seine Brauen sich zusammenzogen. Er befahl die vorhandenen Flaschen unverzüglich fortzuräumen und neue zu bringen. In der neuen Partie war das Wasser bereits etwas kräftiger. Wir versäumten es auch nicht, unsere Emigranten-Landsleute wiederzusehen. In jedem Land besaß die russische Emigrantenschaft ihr eigenes Antlitz, aber es gab auch gemeinsame Merkmale, wie sie für diese Kategorie Menschen charakteristisch sind. Dazu gehörte auch das Vorhandensein der russischen Kirche, einem eigentümlichen Klub, zu dem man sich aufmachte, um sich nach intensivenVerneigungen und dem Schlagen etlicher Kreuzeszeichen, mit Bekannten zu treffen, ein wenig zu tratschen und ein paar kleinere Geschäfte zu tätigen. Genau so etwas gab es auch in Berlin. Die Kirche war klein. Wie durch einen Zufall war sie unversehrt geblieben, aber 100-200 Meter weiter standen nichts als Ruinen – so weit das Auge reichte. Nach dem Gottesdienst in der Vorhalle strömten alle Kirchgänger hinaus, und dann hörte man so bekannte Worte wie: „Guten Tag, Eure Obrigkeit!“, „Küß die Hand, Marja Iwanowna!“, „Denken Sie doch nur an das Jahr 1912...“.

Alles lief nach einer festen Schablone ab. Ich war mit den sowjetischen Menschen noch nicht vollständig warm geworden, aber diese hier kamen mir unglaublich fremd vor – irgendwie ganz „unecht“, und ich wollte ihnen gern mit den Worten Suschkows sagen: „Liebe Landsleute, sehr verehrte Damen und Herren, verflucht sei euer Herrgott, eure Seele, eure Mutter! Ihr seid alle nur Splitter des Vergangenen, Mannequins oder Puppen aus Andersens Märchen, die durch den Willen eines Zauberers lebendig geworden sind und jetzt Menschen spielen, die von den Illusionen einer vergangenen Welt leben, unter den Trümmern und Brandstätten der heutigen, tatsächlichen Welt!“ – Die zweite Exkursion, nun schon mit der gesamten Gruppe „Ulm“, führte uns nach Wien. Diese Stadt hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der düsteren Staatshauptstadt Berlin. Die wunderbare, leichte Architektur. Wenn man sich diese Schlösser, Kirchen und Theater anschaute, schien es einem, als ob man Walzermusik hörte und als ob vor einem Husaren in ihren roten und blauen Uniformen in einem großen Ballsaal tanzten. Wahrscheinlich waren diese Assoziationen hervorgerufen durch die zahllosen Filme, die nach den Operetten von Lehar, Kalman und Strauß inszeniert worden waren. Moderne Automobile koexistierten in den Straßen mit Pferdekutschen und Kutschern mit Zylindern und Pelerinen. Die Menschen waren fröhlicher und aufgeschlossener. Wenn man jemanden nach dem Weg fragen mußte, dann fand sich immer ein ganzer Haufen Auskunfstwilliger – sowohl auf der Straße, als auch in der Straßenbahn, die bereit waren, einem detaillierte Informationen zu geben. Wir verbrachten auch einige Zeit im Prater, einem Park mit verschiedenen Vergnügungsmöglichkeiten und Attraktionen. Die Menschen freuten sich offen und ungezwungen. Man konnte sehen, wie sich ein grauhaariges Pärchen unter Gekreisch und Gelächter in der Achterbahn oder der „Geisterhöhle“ amüsierte. Auch Semjonow zierte sich hier nicht, um sich keine Blöße zu geben. Kurz zuvor hatten die Deutschen Mussolini aus einem Bergschloß in den Alpen entführt, wo dieser sich nach dem in Italien stattgefundenen Umsturz unter strenger Bewachung aufgehalten hatte. Erledigt worden war das von Fallschirmspringern unter der Leitung des damaligen Hauptmanns Skorzeni. Nach dieser Aktion wurde Skorzeni berühmt, es ging mit ihm bergauf, und er erhielt einen leitenden Posten in der Spionageabwehr sowie den Rang eines Sturmbannführers der SS. Auch uns brachte man zu ihm, damit wir uns vor ihm verneigen sollten. Ein rothaariger junger Mann mit Schrammen auf der Wange kam auf uns zu, gab uns die Hand und stellte dieselben abgedroschen Fragen. Damit war die Audienz auch schon beendet. Skorzeni nennt man bei uns den Saboteur N° 1 des Hitler-Reichs. In der Folgezeit hätten sie ihn wohl gern als Kriegsverbrecher verurteilt, aber er verschwand von der Bildfläche und tauchte anschließend plötzlich in Spanien auf, wo er bis zum Ende seiner Tage blieb. Solche stürmischen Ereignisse trugen sich also mit uns in den drei Monaten unseres Aufenthalts in Deutschland zu.

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