„Und in meinem Kopf wandern, wühlen die Gedanken:
Was ist Heimat?
Sind das etwa nur Träume?
Denn fast für alle bin ich hier ein finst’rer Pilger,
Gott weiß aus welchem fernen Lande“
(S. Jesenin)
Alles findet einmal sein Ende. Eines schönen Tages, im Spätherbst, vielleicht war es auch schon Anfang Dezember, fuhren wir, nachdem wir all unser Hab und Gut, Kleidung, Kisten mit Waffen und Sprengstoff, Lebensmittel, die Funkstation u.ä. verladen hatten, endlich unserem langersehnten Ziel entgegen – gen Osten. Es war angenehm, so gemächlich voranzukriechen und dabei, auf dem Stroh ausgestreckt, die Gegend durch die weit geöffnete Tür des beheizbaren Waggons anzuschauen. Es war schon fast Winter, aber im Waggon brannte ein kleiner Kanonenofen, der eine wunderbare Wärme verbreitete, und niemandem mangelte es an irgendeinem Komfort. Während solcher Reisen ziehen alle Probleme, die Suche nach Alternativen und überhaupt jegliche Zweifel an einem vorüber: von dir hängt bereits nichts mehr ab, während der Zug dich mit ratternden Rädern an eine noch unbekannte Haltestelle bringt. Wir durchquerten Ostpreußen; große, verrußte Städte, aber auch kleine, saubere und ruhige Städtchen huschten vorüber, die uns aus der Geschichte bekannt sind, wie beispielsweise Tilsit, wo Rußland einst mit Napoleon Frieden schloß. Anschließend fuhren wir durch Litauen. Langgezogene Wälder, weit verstreut liegende Dörfer – unansehnlich und ungepflegt im Vergleich mit denen der Deutschen. Rein formell befanden wir uns hier bereits in der Sowjetunion, aber wir hatten noch nicht das Gefühl in der Heimat zu sein. An einer der Bahnstationen hielten wir neben einem Güterzug, in dem „Flüchtlinge“ aus den Territorien befördert wurden, aus denen die deutsche Armee den Rückzug angetreten hatte. In den beheizten Waggons wurden auch alle möglichen Gerätschaften sowie abgemagerte, kleinwüchsige Pferde und Kühe transportiert. Man kam mit Landsleuten zusammen, Bauern aus der Umgebung von Smolensk. Ein Männlein ist mir in der Erinnerung geblieben, als ob er aus dem Bild eines Wanderkünstlers herausgetreten wäre: ein tadelloser Bursche von etwa 25 Jahren, mit dichtem, rötlichen Bart und fröhlichen blauen Augen. Gekleidet war er nach russischer Art – mit einem abgetragenen, kurzen Schafspelz und einer Mütze mit Ohrenklappen. Man bewirtete ihn mit Wodka. Er bekreuzigte sich und trank dann in einem Zug alles aus. Wir sorgten für unsere Verpflegung und stiegen in einen der beheizten Wagen, in dem, ebenfalls auf Stroh, Männer, Frauen und Kinder saßen. Wir sprachen ein wenig mit ihnen. Papa Meier war bereits vor der Abfahrt irgendetwas ins Auge geraten. Die Ärzte hatten ihm feuchte Kühlauflagen verabreicht, aber sie hatten sich als nutzlos erwiesen. Das Auge war mit einer Binde abgedeckt. Eine auf ihrem Bündel sitzende Alte, die bei unserem Eintreten an einer Brotrinde knabberte, wollte wissen, was mit ihrem 45-jährigen „Söhnchen“ passiert wäre. Als sie erfuhr, was mit ihm los war, bat sie darum, ihm die Augenbinde abzunehmen; sie sah sich das Auge an und begann dann mit ihrer Zunge den Fremdkörper herauszulecken. Damit war die Wissenschaft entehrt und blamiert, und der Verband war auch nicht mehr nötig. Nachdem wir die Randgebiete Litauens gestreift hatten, fuhren wir endlich ins wahrhaftige Rußland ein. Aber leider war es Nacht. Nichtsdestoweniger sah man vor dem Hintergrund des Schnees, dem wir auch schon in Lettland begegnet waren, hier und da zerstörte Eisenbahnwaggons, die schräg in der Böschung lagen – ein Zeugnis dessen, daß die hiesigen Partisanen sich nicht mit den Helfershelfern von Drasche Michajlowitsch hatten messen können. Am Morgen trafen wir in Pskow ein. Neugierig blickte ich mich um. Denn diese Stadt war eine der Wiegen der russischen Geschichte, die gemeinsam mit Nowgorod die Grundlagen für den russischen Staat gelegt und ihn vor den Deutschen, den Schweden, den Polen und anderen Aggressoren verteidigt hatte. Aber wegen des Menschengewimmels war nichts weiter zu sehen, als das düstere Bahnhofsgebäude und die dazugehörenden Anbauten. Und es war auch gar keine Zeit, sich ein wenig genauer umzuschauen, denn wir mußten alles in Kraftfahrzeuge umladen, und kurze Zeit später fuhren wir auch schon weiter. Unterwegs sahen wir einen Teil der uralten Festungsgemäuer, die Kathedrale mit ihren goldenen Kuppeln, die, wie ich jetzt erfuhr, aus dem 12. Jahrhundert stammte, und den Fluß Welikaja (groß, großartig; Anm. d. Übers.). Ich wußte nicht, daß es einen Fluß mit so einem Namen gab, denn er gehörte nach russischen Maßstäben nicht zu den großen, aber verglichen mit Oder oder Spree sah er in der Tat großartig aus. In Erstaunen versetzten uns auch die endlos weiten Wälder und Felder. In Europa schmiegen sich Städte und Dörfer buchstäblich aneinander, und wenn ein Wald sich über 1-2 km ausdehnt, dann wird das schon fast wie die Taiga empfunden. Hier reichten die Waldgebiete bis an den Horizont. Auf einer Strecke von etwa 2 km bemerkte ich kein einziges bewohntes Fleckchen Erde, außer vielleicht einem, das sich ein ganzes Stück von der Straße entfernt befand und in dessen Richtung ein merkwürdiges Hinweisschild in lateinischen Buchstaben mit der Aufschrift „IRBOSKA“ wies. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die alte russische Stadt Isborsk, die sich nach 1917 auf estischem Territorium befand und wohin wir eigentlich auch fuhren. Endpunkt unserer Reise war ein ziemlich großes Dorf namens Petschki. Wir wurden im Gebäude der dortigen Schule untergebracht. Es war ein eingeschossiges Holzhaus mit unbearbeiteten, unverputzten Wänden und Decken, die mit der Zeit vom vielen Ruß beträchtlich dunkler geworden waren. Mitten durch das Gebäude führte ein Durchgangsflur, links und rechts davon befanden sich die Türen zu den Klassenzimmern und anderen Räumlichkeiten. Insgesamt gab es fünf oder sechs große Klassenzimmer. Zwei davon nahmen wir ein, die anderen waren bereits von einer ganzen „Kompanie“ bevölkert, das sich aus ebensolchen ehemaligen Kriegsegfangenen zusammensetzte, wie die uns Unterstellten. Einstweilen gab es für sie nichts zu tun, außer daß sie ihre eigenen Räume bewachten, und offenbar dienten sie, genau wie wir, als Reserve-Spionageabwehrgruppe. In den kleinen Zimmern waren unsere sowie die Kompanie-Vorgesetzten einquartiert, aber der Kompanie-Kommandeur und sein Stabschef wohnten in einer Privatwohnung. Ein Klassenzimmer stand leer und diente als Kantine, vielleicht hatte man es auch bereits während der Bauphase dafür vorgesehen, denn nebenan existierte eine Küche. Ob in der Schule tatsächlich auch unterrichtet wurde, weiß ich nicht; auf jeden Fall gab es weder Schulbänke noch Lehrbücher. Im Hof standen drei „finnische Zelte“ – jurtenähnliche Konstruktionen aus einzelnen Sperrholz-Elementen. In einer von ihnen, den Schultoren am nächsten gelegen, war die Wache untergebracht; in den anderen beiden brachten wir unsere Habseligkeiten unter. Zur Beheizung des Gebäudes standen, jeweils zwischen zwei Zimmern, riesige Öfen, die mit meterlangen Holzscheiten gefüllt waren, von denen ein großer Haufen im Hof aufgestapelt war. In jedem Schlafraum standen 15-20 Etagenschlafstellen, ein großer Tisch sowie einige Hocker. An den Wänden waren entweder Kleiderhaken angebracht o0der einfach nur Nägel eingeschlagen, so daß man dort die Oberbekleidung aufhängen konnte. Als „Dekoration“ diente (bei uns) ein großes Farb-Plakat mit der Darstellung des Führers mit Schirmmütze und aufgeknöpftem Regenmantel, unter dem ein brauner Militärrock mit goldenem Kreuz hervorschaute. (Ungefähr in dem gleichen Aufzug hatte ich irgendwo auch schon einmal ein Porträt Napoleons gesehen). Unter der eigentlichen Abbildung stand in großen Buchstaben geschrieben: „Hitler – der Befreier“. Elektrizität gab es nicht. Kerosinlampen besaßen nur die Vorgesetzten, während auf unserem Tisch Karbid-, bzw. Petroleumfunzeln standen, die wir in Handarbeit aus Geschoßhülsen zusammengebastelt hatten. In die kleinere goßen wir Karbid, die größere befüllten wir mit Wasser. Das Gas strömte durch eine angelötete Umhüllung aus der Geschoßkugel durch ein Loch auf den Docht. Er wurde angezündet und brannte mit rußender Flamme. Von diesen Lampen hingen einem am Morgen schwarze Fransen aus der Nase, und der Kopf schmerzte. Schließlich hatten wir uns eingerichtet, und ich fand ein wenig Zeit, um mich etwas eingehender umzuschauen. Unser Gebäude stand auf einer kleinen Anhöhe. Daneben erhob sich eine riesige Windmühle in den Himmel; sie stand leer und war außer Betrieb. Auf der anderen Seite verlief die einzige Straße, der einzigeWeg; dort gab es eine hölzerne Kirche und eine Reihe alter Holzhütten. Hinter dem Dorf zog sich endlos eine, wenn auch leicht hügelige, aber fast Ebene Fläche dahin, die mit Feldern und kleinen Waldstücken bedeckt war und in der Ferne auf einen Wald stieß, der bis an den Horizont reichte. Von der Mühlenseite aus senkte sich die Ebene ziemlich jäh ab. Weiter unten befand sich entweder ein eigenständiges Dörfchen oder eine kleine Ansiedlung von Petschki, und dahinter erstreckte sich bis an den Horizont der Wasserspiegel eines riesigen Sees. Zur Linken gab es noch einen anderen See, ebenfalls nicht gerade als klein zu bezeichnen, aber im Vergleich zum ersten sah er dennoch eher wie eine Pfütze aus. Hinter dem kleine See hob sich schwarz ein Waldgebiet ab, und an seinem Rand lag ein weiteres kleines Dörfchen mit etwa einem Dutzend Häusern. Das war für Bewohner einer Bergregion ein ungewohntes, aber für die russische Seele sehr anmutiges Bild. Der saubere Schnee, der klare, helle Nordhimmel und die ebenso reine Bläue der Berge. Wir, die wir in Europa viel kleinere Maßstäbe kennengelernt hatten, waren überwältigt von diesen ungeheuren Weiten, der Stille, der unauffälligen, geradezu feierlichen Schönheit der Natur. Wir befanden uns in der Grenzregion zu Estland, die jedoch von russischen Bauern besiedelt war. Hier war die Welt mit dem Jahr 1917 in ihrer Entwicklung stehengeblieben. Bis hierher waren weder die Revolutionsstürme, noch die Zivilisation mit Elektrizität, Gas und Rauch vorgedrungen, und alle lebten hier noch genau so, wie vor 30, 50 oder vielleicht sogar 100 Jahren. Nach den Worten von Hauptmann Semjonow, der zum Vorgesetzten unserer kleinen Garnison ernannt worden war, von wo aus auch die Operation „Ulm“ ihren Anfang nehmen sollte, genauer gesagt vom Flugplatz aus, der sich unweit von Pskow befand und an dem wir auf der Fahrt hierher vorbei gekommen waren. Das bedeutendste Spionagenest, in dem sich eine der wichtigsten Unterabteilungen des Hauptkommandos Nord, „das Unternehmen „Zeppelin“, befanden, welches die Aktivitäten der Spuionageabwehrgruppen lenkte, war 12 km von uns entfernt, auf dem Landgut „Kolachalnja“; hier waren auch eine Funkstation und verschiedene Versorgungsdienste untergebracht sowie Sturmbannführer Krauss – „höchstpersönlich“. Die Wachmannschaften und das meiste Personal des „Unternehmens“ setzten sich aus Russen zusammen – aus sowjetischen. Zwei Frauen waren ebenfalls dabei: eine Mutter, die wohl einmal Wirtschaftsexpertin von Beruf gewesen war, schon nicht mehr ganz jung, sowie ihre Tochter, ein Mädel von etwa 18 Jahren. Einige von uns, wie beispielsweise Chodolej und die Schlangen Tarasow und Stachow, fuhren mitunter nach Kolachalnja, um diese Frauen zu besuchen, über die sie sie äußerst schmeichelhaft äußerten, weil sie so bescheiden waren und so intelligente Eigenschaften besaßen. Ich war dort einige Male während unserer Skiausflüge, aber mich interessierten dort ganz andere Dinge. Im Unterschied zu unserem Quartier, war diese Unterkunft eingezäunt und wurde zudem ordentlich bewacht – damals war der Durchgangshof, genau wie bei uns auch, mit einem durchgängigen, einreihigen Stacheldrahtzaun eingegrenzt. Aber dort gab es auch noch einen Wachmann, der an der Straßenseite vor dem Tor stand. Von hinten, also an der Seite, an der die Mühle stand und wo eine große Öffnung von etwa 4 Metern Breite klaffte, war tagsüber kein Mensch zu sehen, aber in den Nächten stellten wir immer einen Mann in der Nähe der finnischen Zelte auf, und von der Kompanie wurde ein zweiter Wachmann abgestellt, der das gesamte Territorium abging. Ich wurde oft von dem Gedanken erfaßt, was wohl geschehen würde, wenn all das explodieren würde, was da hinter der „Finnen“-Spanholztür lag, die mit einem Vorhängeschloß zugesperrt war. Sowohl die Schule, als auch die Mühle wären wie von einer Zunge saubergeleckt. Aber Sorglosigkeit und Unorganisiertheit gründeten sich nicht nur auf der mangelnden Wachsamkeit. Es herrschte keinerlei Disziplin, und dementsprechend sah auch die ganze Lebensweise und Tagesordnung aus. Es gab auch praktisch keine Unterrichts- und Exerzierstunden. Ich kann mich lediglich an zwei erinnern, und das auch nur aufgrund von Ausnahmezuständen, die zufälligerweise keine Opfer fanden. Unter unseren Habseligkeiten gab es Kisten mit Granaten aus englischer Produktion vom Typ F-1. Während der ersten Trainingseinheiten, in denen wir das richtige Werfen übten und die am flachen, aber recht unebenen Seeufer stattfanden, explodierte ein Großteil der Granaten nicht. (Später entdeckten wir, warum das so war, und behoben die Ursache). Nach Beendigung des Wurftrainings mußten die nichtexplodierten Granaten wieder eingesammelt, zu kleinen Haufen von jeweils 3-4 Stück zusammengelegt und anschließend mittels einer Züngschnur gesprengt werden. Diese Operationen wurden von den Gruppen-Kommandeueren ausgeführt. Nachdem wir das Gelände durchkämmt und die Granaten zusammengelegt hatten, warteten wir auf das Signal zur Sprengung, während wir in kleinen Grüppchen beisammen standen und rauchten. Wir, das waren ich, Chodolej und Tarasow. Plötzlich gab es eine Explosion. Einer der Haufen hatte sich in etwas 20-25 m Entfernung von uns selbst entzündet. Aber alles ging glimpflich ab; nur Tarasow bekam einen Splitter ab, der genau zwischen den Beinen in den Schoß seines Uniformmantels eindrang. Der zweite Fall ereignete sich, als man uns in die Nähe von Pskow, auf einen der unbebauten, freien Plätze neben der Eisenbahnlinie brachte. Hier übten wir, wie man Sprengungen vornimmt. Die freie Fläche war offenbar früher einmal ein Friedhof gewesen, wahrscheinlich ein jüdischer, wenn man nach den Schnörkeln auf den wenigen erhalten gebliebenen, marmornen Bruchstücken von Grabplatten urteilte. In der Umgebung gab es zahlreiche Eisenträger, Schienen, zerstörte technische Einrichtungen sowie anderes Material, mit dem man hervorragend üben konnte. Wir nahmen Ausmessungen und Berechnungen bezüglich der Sprengladungen vor, und man stellte uns ganz konkrete Aufgaben: Schienen durchtrennen oder eine runde Öffnung in eine Panzerplatte sprengen u.ä. Wir verwendeten Plastik-Sprengstoffe, die wie eine Wurst aussahen und zwischen 120 und 240 Gramm wogen. Bei Wärme war dieser Sprengstoff weich und genauso leicht wie Plastilin zu bearbeiten, so daß er sich in jede beliebige Form biegen ließ. Nachdem alle nach Herzenslust ihr Vergnügen gehabt hatten, waren noch 2-3 Kilogramm übrig, und wir beschlossen, diese nun auch noch ordentlich krachen zu lassen. Wir legten in dem gefrorenen Boden eine Grube an, legten die Sprengstoffreste hinein, bedeckten die Ladung mit Erde und wälzten, damit die Situation auch annähernd echt war, ein Stück von einer Steinplatte mit dem Epitaph eines gewissen Abraham oder Moische heran. Als der Sprengsatz „losging“, schleuderte die Grabplatte in die Luft und ließ einen Knall frei, der sich anhörte, als ob eine Fliegerbombe detonierte. Man weiß nicht, wohin sie flog, aber alle stürzten sich in die schmalen Gräben und hinter die Erdaufschüttungen, und manche von ihnen sahen anschließend ziemlich verdreckt aus und hatten sich Beulen geholt. Aber im allgemeinen taten wir nichts als schlafen und unsere wässrige Suppe essen; und an den Abenden gingen wir im Dorf auseinander, um in den Häusern nach selbstgebranntem Schnaps zu suchen, und vielen gelang es auch, welchen zu beschaffen. Man kann wohl sagen, daß das Schnapsbrennen und –konsumieren unter den Ortsansässigen nur so blühte, aber zu der russischen Trunksucht war noch eine Sitte aus Estland hinzugekommen – man mischte dem Wasser in der Viehtränke Äther bei. Das war wohl das einzige Wohl der Zivilisation, das diesem russischen Randgebiet während der 25-jährigen Machtstellung des „kultivierten“ Estlands zuteil geworden war. An Feiertagen konnte man um viele Holzhütten herungehen und überall das gleiche Bild antreffen: Männer, und nicht selten auch Frauen, die wie in Trance dasaßen, mit erweiterten Pupillen in ihren glasigen, nicht sehenden Augen. Übrigens gab es nicht sehr viele Männer. Die armseligen Hofwirtschaften wurden von einzelnen Personen geführt. Im Winter fuhren viele zum Geldverdienen in die Stadt. In politischer Hinsicht war das Hauptmerkmal die Gleichgültigkeit. Die Sowjetmacht, die 1940 in diese Gefilde gekommen war hatte es noch nicht geschafft, hier Fuß zu fassen, und auch der Krieg hatte dieses Fleckchen Erde umgangen, so daß die Menschen weiterhin ihrer schweren bäuerlichen Arbeit nachgingen, ohne über die Probleme in der übrigen Welt nachzudenken. Übrigens wurde der Perspektive Kolchosen einzurichten eine ziemlich einstimmige Feindseligkeit entgegengebracht, und das nahende Eintreffen der Roten Armee wurde bereits mit gespannter Aufmerksamkeit und Vorsicht erwartet. Eine Ausnahme bildete scheinbar nur ein einziger Großvater, der gegenüber der Schule wohnte. Er hatte gern Leute bei sich zuhause und setzte sich für die Sowjetmacht ein; er schlug sogar vor, auf sie zu trinken, was er offensichtlich auch systematisch tat. Er lebte mit einer alten Frau zusammen in einer uralten Holzkate und verwendete zur Beleuchtung noch Holzspäne, so daß in der Kate alles verräuchert, schmutzig und ungemütlich war. So also gestaltete sich vor meinen Augen das lebendige und weit von den stilisierten Bildern Bilibins und Wasnezows entfernte Mütterchen Rus.
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