„Verse vors Gesicht geknallt“
Ein Kommentar von B. Chodolej
In dem Wunsch, einen etwas allgemeineren Einblick in unser Alltagsleben zu geben, bin ich ein wenig von den chronologischen Ereignissen meines Aufenthalts in Sandberg abgewichen. Wie ich schon einmal erwähnte, diente dieses Lager als Zufluchtsstätte für eine ganze Reihe nationaler Formierungen mit unterschiedlichem Tätigkeitsprofil. Ungeachtet des gemeinsamen Vorhandeseins auf diesem Territorium gab es unter den einzelnen Gruppierungen praktisch überhaupt keinen Kontakt. Aber dann, an irgendeinem Feiertag, ich glaube es war der 20. April, der Geburtstag des Führers,, d.h. kurz nach meiner Rückkehr, wurde im Lager ein ausgedehnter „Kameradschaftsabend“ organisiert, ein bei den Deutschen traditionell stattfindender Abend der Kameradschaft – eine Zusammenkunft der Vorgesetzten mit den Massen. In einer großen Baracke, welcher die Rolle eines Klubhauses zukam, versammelten sich etwa 200 Leute, Vertreter der Leitung aller Ränge, und das graue Vieh, das eine etwas hellere Schattierung besaß. Im Rahmen des Programms war ein feierlicher Teil mit Reden, Auftritten und Laienspielgruppen vorgesehen und anschließend ein großes Trinkgelage. In aller Eile wurden Talente gesucht. Aufgrund des Fehlens von Musikinstrumenten wurde dieser Programmteil hauptsäschlich durch Solo- oder Chorgesang sowie dem Aufsagen oder Vorlesen von Gedichten ausgefüllt. Es gab auch Volkstänze „mit Getrampel und Pfeifen“ und dem Zwischenruf „ASSA!“ („Hussa!“; Anm. d. Übers.). uch bei uns fand diese Mobilisierung der Reserven statt. Ich sagte bereits, dass ich etwas aus der häuslichen Bibliothel mitgenommen hatte. Den Großteil der Bücher hatte ich in Wien gelassen, aber auch für mich hatte ich 2-3 Exemplare aufgehoben, darunter ein Bändchen mit Gedichten von Alekej Tolstoi, die ich sehr mochte.
Nachdem ich mich hatte überreden lassen, willigte ich ein, einige dieser Gedichte zum Besten zu geben, obwohl ich bis dahin noch nie vor mir unbekanntem Publikum hatte auftreten müssen. Trotzdem überzeugte man mich von der Tatsache, dass ich über eine schöne „Kommandeurs“-Stimme verfügte, mit der ich in der Lage war, auch die allerletzte Reihe zu erreichen. Zunächst traten Vertreter der verschiedenen Formierungen auf: Kaukasier, Turkestaner, Tataren. In imposanter Weise schimpften sie über die Russen, dankten dem Großreich und seinem Führer für die Möglichkeit der Wiedergeburt irgendeines unabhängigen „Tamil Ilama“, im Schutze der Ideen des „Großartigen Hitler“. Mich schüttelte es vor Entrüstung ib dieser Verleumdungen gegenüber dem russischen Volk und der unverschämten Speichelleckerei. Leider wußte ich damals nicht, dass er nicht aus einem Kriegsgefangenenlager auf diese Barackenbühne umgezogen war, sondern von der Tribüne der Sowjetunion, wo in ebensolchen Rede-Schablonen das Leben jener Tataren oder Aserbeidschaner unter der Sonne des Großen Führers und Vaters aller Völker gelobpreist wurde. Als das Hinternlecken des großartigen Führers endlich beendet war, traten die Künstler auf. Als ich an die Reihe kam, stand ich noch ganz unter dem Eindruck der Reden, der Saal schwankte vor meinen Augen, aber in meinem Geiste funkelte bereits ein böser Gedanke. Ich schlug das Buch nicht an der Stelle auf, an der das Leseziechen lag, an der sich die geplante Idylle zum Thema „Oh, lala-lel-luli“ („Trallalalali“; Anm. d. Übers.) befand, sondern dort, wo die „Ballade über Tugarin Smejewitsch“ (Ballade von der russischen Schlange; Anm. d. Übers.) abgedruckt war. Anfangs stockte ich ein wenig unter den Blicken hunderter Augen, aber dann wurde die Stimme kräftiger und ich las, ohne dem Saal noch ein weiteres Augenmerk zu schenken. Meine Kommandeursstimme klang besonders in den Zeilen „Es lebe unsere russische Rus, ein tatarisches Rußland brauchen wir nicht...“ hervor, und auch die letzten Verszeilen, dass „Unfreiheit einen dazu zwingt, durch Schmutz zu gehen, darin baden können nur die Schweine...“ stieß ich so zweideutig und laut wie möglich hervor. Als ich geendet hatte, war ich schweißgebadet. Durch den Nebel, der meine Augen einhüllte, hörte ich starken Beifall von den Bänken, auf denen Russen saßen, und höflich-schwaches Händeklatschen aus den Sitzreihen der unterdrückten Nationen. Allerdings veranlaßte diese Reaktion die Deutschen ihre Ohren zu spitzen, und als ich die Bühne verließ und mir einen Weg zu meinem Platz bahnte, zupfte mich der in der ersten Reihe am Durchgang sitzende Lagerleiter am Ärmel und erkundigte sich flüsternd, was ich da deklamiert hätte. Ich antwortete, dass es die Ballade vom Drachen gewesen sei, in der Art der Siegfried-Sage, allerdings vom Grafen Tolstoi. Das beruhigte den Deutschen. Vielsagend zeigte er mit seinem Daumen nach oben und meinte: „Oh, Leo Tolstoi“ Ich weiß!“. Ich versuchte auch nicht ihn umzustimmen, Leo wie Leo, zum Teufel mit ihm. Ich ging, bevor das Besäufnis anfing und kam ziemlich mißmutig in der Baracke an. Sogleich schmierte ich einen zornigen, aufgeregten Brief an Hanna Ilinskaja zusammen, in dem ich all meine gewonnenen Eindrücke schilderte. Als ich mich wieder beruhigt hatte, dachte ich nach und stellte fest, dass ich den ganzen Brief wohl umsonst geschrieben hatte, dass er überhaupt nicht durch die Zensur kommen würde. Aber offenbar saßen bei der Zensur ebenfalls Emigranten, denen meine Emotionen nur allzu verständlich waren; aber wie dem auch sei, der Brief kam an, ich bekam eine gute Antwort, und seit jener Zeit war Hanna immer dann meine Vertrauensperson, wenn ich mit meiner Seele im Zwiespalt lag. Ich schrieb viel, aber dafür mußte man sich zurückziehen, und das war tagsüber immer ziemlich schwierig. Mitunter mußte ich im Lager Dienst tun, und dann schrieb ich die ganze Nacht Briefe – und manchmal auch Gedichte. Einer dieser Verse steht als Epigraph über einem der Kapitel dieser Erzählung. Von der Stimmung, in der solche Lagerdienste verliefen, berichtet ein anderes Gedicht:
Ich sitze im Dienst, um mich herum Durcheinander,
Überall liegen Zigarettenstummel auf dem Boden,
In meiner Seele herrscht dieselbe Unordnung,
Und im Bauch nichts als Wehmut und Leere.
Reihen wirrer Gedanken ziehen vorbei,
Mal sind es Semjonows Märchen,
Mal tauchen ein paar Koteletts vor dir auf,
Oder jemandes weit entfernte Augen.
Ich sitze und träume. Um mich herum nur Stille,
Nur der Ofen lodert vor sich hin,
Und irgendwo scharrt eine hungrige Maus,
Oder jemand läuft zum Abort.
Mitunter kam anstelle von Lyrik auch etwas Satirisches dabei heraus,.
So schrieb ich einmal etwas zur Entlarvung einiger unserer Karrieristen, die immer noch nicht die Hoffnung verloren hatten, irgendwann einmal auf der allerhöchsten Woge des germanischen Reiches zu schwimmen. Ich kann mich an den Inhalt nicht mehr vollständig erinnern, solche Dinge haben das Leben einer Eintagsfliege. Idee und Form dieses Werkes waren durch das Enthüllungsgedicht eines bulgarischen Poeten aus der Zeit des Befreiungskrieges gegen die Türken wachgerufen worden, das sich gegen die Wort-Patrioten, der geistigen Verwandten unserer „Patrioten“ in deutschen Uniformen richtete. Unter anderem gab es dort folgenden Vers:
Wir sind froh Soldat sein zu dürfen,
Wir lieben den Drill,
Aber wie soll man nur
Einen neuen Reiseschein bekommen?
Wir brauchen keine Auszeichnungen –
Hauptsache wir retten Europa (vor dem Bolschewismus. Abgedroschene Losung
Hitlers)
Aber für die Sterne
Küssen wir jeden ... na ja, und so weiter.
Diese Gedichte las ich dem Bataillonskommandeur, dem ehemaligen von Orlow und einigen aus seinem Umfeld am Kartentisch vor, denjenigen, an die sie eigentlich auch in erster Linie gerichtet waren. Alle lachten, lobten mich, und alle waren der Meinung, dass sich die Verse auf einen fremden Onkel bezogen – keiner von ihnen münzte sie auf sich selber. So verliefen eineinhalb Monate in dieser lyrisch-subversiven Tatenlosigkeit.
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