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P. Sokolow. Schlaglöcher

2. Buch. „Die Söldner“

Teil IV. Ritter mit Regenmantel und Dolch

Kapitel 42. Schleppend dahinziehende Tage

„Langweilig ist es und traurig, und es gibt niemanden,
Dem man in der Minute seelischen Unglücks die Hand reichen kann...“
(M.J. Lermontow)

Zu dieser Zeit erschienen in unserer Unterkunft ein paar neue Bewohner. Ich erzähle von ihnen, um zu zeigen, auf welchen Wegen mitunter Menschen hierher gelangten und durch den Willen des Schicksals zu Kandidaten für den § 58 wurden. Als erster tauchte, buchstäblich nur wenige Tage nach dem Durchbruch des Verteidigungsrings bei Tukums durch die Deutschen, ein Junge von etwa 14 Jahren auf, der einen Soldatenmantel der Roten Armee und eine schmutzige schirmlose Mütze trug. Der Fahrer vom Wirtschaftshof hatte ihn gebracht. Dieser Akteur, dieses aus dem Raum Smolensk oder Kalinin stammende Männchen, war eine keineswegs bemerkenswerte Erscheinung, und wenn, dann höchstens deswegen, weil er es während des Krieges gleich zweimal schaffte in Gefangenschaft zu geraten. Er wurde bereits in den ersten Kriegswochen gefangen genommen, weil er sich irgendwo bei einem deutschen Tross herumgetrieben hatte, mit dem zusammen er dann in russische Gefangenschaft kam. Offenbar beschlossen sie dort, was sie mit diesem kleinen, nicht gerade hellen Männchen machen sollten und beließen ihn in der Roten Armee. Nach einiger Zeit geriet er erneut in deutsche Gefangenschaft und fand sich in einem Arbeitszimmer wieder. Diesmal war er, nachdem er zur Erledigung irgendwelcher wirtschaftlichen Angelegenheiten nach Assari entsandt worden war, unterwegs einem deutschen Truppenteil begegnet, der einen gefangengenommenen Jungen bei sich hatte, einen von zahlreichen „Regimentssöhnen“, die unter den verschiednartigsten Umständen zur Truppe gekommen waren. Unser Gefangener nomadisierte ebenfalls mit der ihm Obdach gewährenden, rotarmistischen Truppe und gelangte schließlich mit ihr bis ins Baltikum, wo sie müde und verdreckt eintrafen und er selber in Gefangenschaft geriet. Seinen Berichten zufolge hatte er sich hartnäckig gewehrt und wäre in einer besonders kritischen Minute sogar bereit gewesen, sich selbst mit einer Granate in die Luft zu sprengen, aber der Deutsche kam ihm zuvor – er schlug ihm die Granate aus der Hand und nahm den Jungen als Kriegsgefangenen. In dieser Periode gab es nur wenige russische Kriegsgefangene, denn es existierten in der Nähe keine Lager für Kriegsgefangene; solche Einzelhäftlinge blieben für gewöhnlich beim Tross hängen oder wanderten in Arbeitskommandos im Hinterland. Als die Deutschen auf unseren Trossführer stießen, übergaben sie ihm den Jungen. Der gewöhnte sich ziemlich schnell an die neue Situation und wurde schließlich bei unserem Fuhrmann so etwas wie dessen zweite Hand.

Einige Zeit später tauchte bei uns ein großgewachsenes Mädel von etwa 18 Jahren auf. Anfangs trug sie ein Militärhemd der Roten Armee, später ging sie in zivil und trug ein ganz normales Kleid. Sie war Funkerin und kam aus irgendeiner sowjetischen Spionagegruppe, die von den Deutschen aufgegriffen worden war. Ich weiß nicht, auf welche Weise sie dann zu uns gelangte, ob durch Anwerbung oder aus welchem Grund auch immer, jedenfalls gehörte sie vorerst noch nicht zum Bestand der Gruppe und war deswegen separat untergebracht, wobei sie allerdings größte Aufmerksamkeit von Oberleutnant Jakowenko genoß.

Schließlich, es war bereits Ende August, wurde ich zu Leutnant Greife gerufen. Bei ihm fand ich einen ziemlich verdreckt aussehenden Menschen vor, der die Uniform eines Oberleutnants der Sowjetarmee trug. Es war bereits 9 Uhr abends. Graife befahl mir als ältestem Diensthabendem an diesem Standort, für seinen Gesprächspartner irgendwo etwas zu essen aufzutreiben und für diesen auch ein Nachtlager zu organisieren. Mit dem Essen gab es keine Schwierigkeiten. Viele von uns, unter anderem auch wir drei, hatten noch Lebensmittel aus der Trockenration vorrätig, die man zum Abendessen an uns verteilt hatte. Es fand sich auch ein Einzelzimmer mit Schlafstelle, und für das Bettzeug gab man gemeinschaftlich etwas dazu.

Es stellte sich heraus, dass dieser Oberleutnant wenige Stunden zuvor in der Nähe von Madona in Gefangenschaft geraten war. Er war Kommandeur einer Unterabteilung für vollmotorisierte Geschütze. Aufgrund eines Volltrefefrs hatte er Quetschungen erlitten und war verschüttet gewesen, und es waren gegnerische Soldaten gewesen, die ihn aus der Erde herausgezogen hatten. Kurz vor seiner unglückseligen Ankunft an der Front war er in Moskau gewesen, was ihm gegenüber ein ganz besonderes Interesse seitens unserer „Aktivisten“ auslöste: sogleich kamen 15 Mann angerannt und wollten, alle durcheinander redend, von dem Gefangenen wissen, wie das Leben in der Heimat war, welche Stimmung dort herrschte usw. Er erzählte, dass das Leben in Moskau einen mehr oder weniger normalen Charakter angenommen hatte, dass alle vom nahen Sieg überzeugt wären und die Stimmung auf eine lebensfrohe Tonart eingestimmt wäre. Das Gespräch zog sich in die Länge, und es gelang mir nur mit Mühe, meine Mitbewohner hinauszukomplimentieren, indem ich sie schließlich davon überzeugen konnte, dass der Mann totmüde wäre und sich dringend ausruhen müßte. Als endlich alle gegangen waren, begann der Oberstleutnant mich darüber zu befragen, wohin er hier eigentlich geraten sei und was nun mit ihm geschehen solle. Ich verheimlichte ihm nicht, wo er war, aber zu seiner zweiten Frage konnte ich nicht viel sagen. Sicherheitshalber riet ich ihm jedoch, keine unüberlegten Schritte zu unternehmen, zumal das Ende des Krieges in nicht mehr allzu weiter Ferne lag.

Einige Zeit später begenete ich diesem Mann im Wirtschaftshof in deutscher Uniform, aber ohne Schulterstücke, wie alle Angehörigen der Arbeitskommandos sie trugen. In unserem Haus befand sich ein Rundfunkempfänger, der natürlich auf Empfang aus Moskau eingestellt war. Von besonderem Interesse waren die zusammengefaßten Berichte vom Kriegsgeschehen.
Dann rannten immer alle zum Radio, stellten es auf volle Lautstärke, und der Schall der Siegesschüsse, die immer dann abgefeuert wurden, wenn wieder eine Stadt eingenommen worden war, durchdrangen unser stille Straße. Ob diese Töne auch bis an Greifes Ohr gelangten, der in unserem Hause wohnte, oder das treue ergebene Gehör irgendeines anderen Bewohners dieser Straße ist nicht bekannt, aber man nahm uns das Radiogerät weg. Bald darauf zogen meine Gruppe und noch ein paar Mann in ein anderes Haus um, das fast gegenüber,in einer Entfernung von etwa 100 Metern von unserem vorherigen Quartier stand. Dort bezogen wir die zweite Etage. Im ersten Stock wohnten die Hauswirte. In der Wohnung ging alles recht häuslich zu, die Einrichtung war fast vollständig erhalten. Zumindest in dem kleinen Zimmerchen, in dem ich mich mit meinen beiden Kameraden niederließ. Es gab auch ein Badezimmer mit einem Warmwasser-Durchlauferhitzer. Ich kann nicht sagen, dass die neuen Bewohner sich eben kultiviert benahmen, und ich geriet deswegen häufiger mit ihnen in Konflikt, weil sie die Wanne schmutzig hinterließen, Zigarettenstummel auf den Boden warfen u.ä. An einem der ersten Tage nach unserer Ankunft ging ich zu Greife und erbat von ihm ein Rundfunkgerät, wobei ich ihm erklärte, dass es für uns, die wir im sowjetischen Hinterland arbeiten sollten, unerläßlich sei, Informationen über das alltägliche Leben im Lande zu erhalten. Er ging mit meinen Argumenten einig, übergab mir aber dann das Radiogerät nur unter der Voraussetzung, dass ich persönlich die Verantwortung dafür übernahm. Von dem Tage an hörten wir Moskau ganz leise; dazu versammelten sich alle in meinem Zimmer, setzten sich auf meinen Diwan – und in völliger Stille lauschten wir dann den gedämpften Salutschüssen und der Stimme Lewitans. Später begleitete ich das Gehörte mit Kommentaren, mit düsteren Untertexten, wobei ich jedoch keinerlei Anlaß dazu gab, man könne mir das Anheizen und Verbreiten einer niedergeschlagenen Stimmung zur Last legen. In der übrigen Zeit gaben sich alle dem Nichtstun hin. Nebenan befand sich ein Tierpark, in dem es noch eine kleine Anzahl Tiere gab, und in dessen Mitte ein kleiner Pavillion stand, in dem immer für ein oder zwei Stunden dünnflüssiges Bier verkauft wurde. Allein zu gehen war uns verboten; daher gingen wir mitunter in Fomation, wie beim Exerzieren, in diese kleine Kneipe. Ich „schätzte“ dieses Bier nicht besonders und empfand kein großes Vergnügen daran, die Rolle der Begleitperson für diese Gesellschaft zu spielen; deswegen ernannte ich oft einen Diensthabenden, während ich selber zuhause blieb und auf meinem Diwan Trübsal bließ. Grund dazu gab es genug. Rumänien hatte bereits kapituliert, und die sowjetische Armee stand an der Donau. Man konnte die Tage zählen, die noch bis zur Ausschifung am bulgarischen Ufer vergehen würden, und ich, statt bei ihnen zu sein, lag hier auf dem schmutzigen Diwan – 1000 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, der mir eigentlich in meinen Pläne vorbestimmt war.

Zu dieser Zeit fanden Ereignisse statt, die erhebliche Unruhe in unsere Reihen brachten und zum Zerfall der größten unter unseren Gruppen führte – der Gruppe um Hauptmann Krawez, zu der auch Mischin gehörte. Diese Gruppe, wohnte übrigens mit mir inm neuen Quartier. Der Hauptmann selbst, von Beruf Flieger, war separat untergebracht. Meiner Meinung nach trug er die Uniform der russischen Befreiungsarmee (Wlassows „Befreiungsarmee“), vielleicht auch nicht, aber im Großen und Ganzen habe ich ihn als einen in Erinnerung, der sich von der allgemeinen Umgebung unterschied. Er genoß einen besonderen Status, besaß ein Flugzeug vom Typ U-2 zu seiner Verfügung, mit dem auch die bevorstehende Aufgabe in Zusammenhang stand. Funker in der Gruppe war der kleine, kerngesunde Paschka Klimenko. Ich erinnerte ihn aus der Zeit in Valteri, als er einmal in einer Polarnacht, mit einem Schlauchboot über den Fluß gefahren war und das Lied „Zwischen abschüssigen Ufern fließt das Flüßchen Wolga....“ gesungen hatte. Er hatte eine kraftvolle, schöne Stimme, und die ganze Einheit dieser heimatlichen, unauffälligen Melodie und auch der anderen Lieder, die dem Herzen nahe gingen, hinterließen in mir einen tiefen Eindruck, den ich in meinem Gedächtnis bis heute lebhaft wiederentstehen lassen kann. Am Abend bevor die Gruppe aufbrechen sollte, sollten Krawetz und Paschka losfliegen, einen geeigneten Platz für die Landung und Tarnung des Flufzeugs erkunden und alles weitere für das Eintreffen der Gruppe vorzubereiten.

Aber ganz unerwartet wurden sie während des Fluges von einem Gewitter heimgesucht;die leichte U-2 konnte dem Druck des Unwetters nicht standhalten und stürzte, nur ein kleines Stück von der Front entfernt, ab. Der Hauptmann hatte ein gebrochenes Bein, Paschka kam mit einigen Hautabschürfungen davon und lief ein paar Tage mit kreidebleichem Gesicht herum, und zwar im ureigensten Sinne des Wortes. Die Aufgabe war daneben gegangen, und bald darauf verschwand Mischin. Es gingen Gerüchte, dass er verhaftet worden wäre. Diese Nachricht wurde eines Tages von dem bei uns auftauchenden Trunow bestätigt, den ich nach dem Umzug nach Riga nicht mehr gesehen hatte. Er war beschwipst und geschwätzig. Er erzählte, dass es gelungen war (offenbar unter seiner Mitwirkung) eine ganze Organisation zu entlarven, die für die sowjetische Spionage tätig gewesen war. Die Mitglieder dieser Organisation hätten alle Sphären und Tätigkeitsbereiche des Hauptkommandos Nord durchdrungen: an der Rundfunkstation und bei anderen Instanzen, die Zugang zu „Firmen“-Geheimnissen hatten. An ihrer Spitze stand angeblich ein gewisser Rusch, Leiter des Sachmittel-Lagers, wo alle an die Frontlinie geschickten Gruppen ihre Ausrüstungen erhielten.

Rusch zählte zu den Volksdeutschen, er war hochmütig und anmaßend, üprahlte mit seiner Zugehörigkeit zur „reinen Rasse“, und wir gerietenmit ihm mehrfach aneinander, besonders Sosiska, der seine Zunge nicht im Zaume halten konnte und Rusch als „reinrassigen Schweinehund“ beschimpfte. Nach Trunows Worten war Rusch Jude, der das Leningrader Lesgaft-Institut absolviert hatte, von wo das NKWD gern seine zukünftigen Kader holte. Nach Trunows Worten verhielt es sich mit dem Mord an Nina folgendermaßen: Koschelew, der Schürzenjäger und spätere Mörder Ninas, war ebenfalls Mitglied der Organisation gewesen. Er hatte Nina von ihrer Existenz erzählt und war anschließend, nachdem Mischin davon Wind bekommen hatte, unter seinem Druck gezwungen seinen Fehler zu korrigieren, indem er Nina und sich selbst tötete. Ich weiß nicht, wie genau Trunows Bericht war, aber danach fand er, zumindest teilweise, Bestätigung durch einen deutschen Oberfeldwebel, der mich zum Flugplatz begleitete. Der Oberfeldwebel stand nicht unmittlbar mit dieser Sache in Zusammenhang, deswegen waren ihm lediglich ein paar Allgemeinheiten bekannt. Was Trunows Offenbarungen betraf, so erweckten sie in mir nicht nur ein Gefühl des Mitleids gegnüber Mischin und anderen, sondern auch ene ernsthafte Beunruhigung. Zum einen hatte mich der Verdacht erfaßt, dass all diese Offenbarungen nicht ganz ohne Absicht gemacht worden waren, sondern vielmehr darauf abzielten meine Reaktion zu prüfen. Außerdem wußte ich, dass Trunow mir gegenüber jene Gefühle von Feindseligkeit und Haß hegte, die auch ich ihm entgegenbrachte, und es nicht lassen konnte, mir irgendeine Verbindung zu Mischin „anzuhängen“, für die er auch einen gewissen Anlaß hatte. Wie dem auch sei – ich verspürte jedenfalls den Geruch von etwas Angebranntem.

 

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