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P. Sokolow. Schlaglöcher

III. Buch. „Der Himmel hinter Gittern“. 1944 – 1954

Teil V. Inden Labyrinthendes NKWD

“Schwarze Gedanken, wie Fliegenschwärme,
lassen mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen.
Gerade hast du den einen fortgejagt,
da bohrt sich schon der nächste in dein Herz.
Dein ganzes Leben zieht an dir vorüber. ohne Ergebnis, fruchtlos,
als wäre alles nur ein Traum“.
(A. N. Apuchtin)

Wenn ich in meiner Erzählung bisweilen ganzen Wochen und Monaten lediglich ein paar Zeilen gewidmet habe, weil sie keinen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der Ereignisse hatten und ich sie wohl unter dem Druck der Zeit einfach nur aus der Erinnerung gelöscht habe, so widme ich den Ereignissen der folgenden wenigen Stunden und Tage diesmal ein ganzes Kapitel, denn sie wurden zu jenen Weggabelungen, an denen schon die Helden russischer Märchen standen, wenn sie von Gedanken und Zweifeln geplagt waren. Die als Motto über diesem Kapitel zitierten Worte geben Auskunft darüber, wie viele schlaflose Nächte ich damit verbrachte, alle nur möglichen Varianten in meinen Gedanken durchzuspielen – auf der Suche nach meinen Fehlern und Fehlberechnungen, und trotzdem fand ich keine klare Antwort: egal, welche Variante ich auch wählte, es klang immer das erwähnte Märchenmotiv mit an: gehst du nach rechts, wirst du verlieren; gehst du nach links, wirst du verlieren; gehst du geradeaus, dann wirst du selber umkommen usw. Kraft dieser langwierigen und sinnlosen Streitgespräche mit mir selbst, erinnere ich mich an jede einzelne Minute dieser wenigen Tage und werde versuchen, sie mit größtmöglicher Genauigkeit wiederzugeben.

Endlich stand ich also mit beiden Beinen auf russischem Boden. Mein langgehegter, himmelblauer Traum hatte sich erfüllt. Aber große Freude verspürte ich nicht. Dies war nur der erste, aber weitem nicht der schwierigste Schritt auf dem Weg zum Ziel. Hinter meinem Rücken war eine Tür zugeschlagen worden, und hinter ihr blieb alles zurück, womit ich früher gelebt hatte, und auch das erfüllte das Herz mit Angst und Trauer. Ich stand ganz allein vor dem Angesicht dieses tausende Kilometer weiten Raumes und eines ganzen Volkes, mit dem mein Blut zwar verwandt, das meinem Geiste jedoch fremd war, auf das ich mit offenem Herzen zugegangen war und das jetzt als Feind dastand. Wie würde es mir begegnen?

All diese Gedanken schwirrten in jenen wenigen Sekunden in meinem Kopf umher, in denen ich hier stand, mich nach allen Seiten umsah, versuchte, mich in dem Geflecht der schwarzen Schatten und Lichtflecken des Mondes zu orientieren. Aber ich konnte nichts tun, ich mußte nun einfach den ersten Schritt auf dem geheimnisvollen, nicht vorhersehbaren Weg auf die Menschen zu machen. Die Richtung festzulegen, in die ich gehen mußte – das war nicht so schwer; ich hatte schon ziemlich genau die Wechselwirkung des Mondes mit den kleinen Ketten herabgleitender Fallschirme erkannt, und so ging ich nun, den Mond zu meiner Linken, in die Richtung, in der meine Kameraden gelandet waren.

Der Schein der Lagerfeuer, an denen die Piloten sich orientierten, befand sich erheblich weiter links; außerdem waren sie aufgrund der Entfernung und der vielen Bäume nicht zu sehen. Um nicht im Wald herumzuirren, trat ich auf die Lichtung hinaus, die ich beim Absprung um ca. 20 Meter verfehlt hatte. Es handelte sich um eine ziemlich weite, mit flachen Gräsern bedeckte Wiese (wahrscheinlich war sie erst vor kurzem gemäht worden), die von einem Birkenwäldchen eingerahmt war. Als ich etwas 100 m über diese Wiese gegangen war, sah ich im silbrigen Halbdunkel der Mondnacht die Gestalt eines Menschen, der mir mit schnellen Schritten entgegen kam. „Stehenbleiben! Wer ist dort!“ rief ich so laut ich konnte. „Einer von euch“, antwortete der Unbekannte, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Diese Art gefiel mir nicht. „Stehenbleiben!“ brüllte ich und riß meine Maschinenpistole hoch. Dieser murmelte irgendetwas, blieb dann aber schließlich stehen. Ich trat auf 10 Schritte an ihn heran und knipste dann meine Taschenlampe an. Vor mir stand ein kleiner, untersetzter Bursche in einem weißlichen Soldatenmantel. In dem fratzenhaften Gesicht schimmerte ein schwarzes Bärtchen. Auf dem Kopf trug er eine zerknitterte Mütze mit quadratischem Mützenschirm. „Eure Leute sind da drüben“, sagte er und wies irgendwo in die Dunkelheit. „Geh voran!“ – erwiderte ich, und dann bewegten wir uns langsam in die Richtung, in die mein Begleiter gezeigt hatte. Eine Minute später sah ich Schechowzow und Kurganow sowie 3-4 weitere menschliche Gestalten.

Verärgert stellte ich fest, dass sie sich nicht an die von mir erteilten Instruktionen gehalten hatten: sie sollten keine unbekannten Leute zu sich heranlassen, bevor wir uns nicht alle wieder versammelt und mit dem Kommandeur der mutmaßlichen Gruppe zusammengetroffen waren. Jetzt blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Situation abzufinden. In einzelnen Grüppchen gingen wir in Richtung der Lagerfeuer, die allerdings überhaupt nicht zu sehen waren; aber unsere Begleiter errieten den Weg anhand irgendwelcher Orientierungspunkte. Bald darauf kam uns ein hochgewachsener Mann entgegen. Als er näher herangekommen war, konnte man seinen Offiziersmantel mit den Schulterstücken eines Hauptmanns erkennen. Das mußte auch der Kommandeur unserer Gruppe sein. Kurganow und der Neuankömmling begrüßten sich freundschaftlich, umarmten einander, und anschließend stellten wir uns dem Hauptmann vor. Zusammen mit ihm und den in einiger Entfernung gehenden Untergebenen setzen wir unseren Weg fort und traten schon bald darauf auf die Lichtung, wo die Lagerfeuer noch qualmend niederbrannten. In einem der Feuer stocherten wir ein wenig herum, warfen ein wenig Brennholz darauf und ließen uns an dem wiederaufflammenden Feuer nieder, denn die Septembernacht ließ den bereits herannahenden Herbst erahnen und machte sich ganz besonders bei uns bemerkbar, da wir lediglich unsere Militärhemden trugen. Ich betrachtete die Umsitzenden. Es war eine recht buntgescheckte Gesellschaft, in Uniformmänteln, Jacken im Matrosenschnitt und Steppjacken, manche trugen eine Schirmmütze, andere eine zerdrückte Pilotenmütze, die Gesichter waren unrasiert und verrußt. Auch die Waffen, die sie in den Händen hielten, stellten ein buntes Gemisch aus unterschiedlichen Fabrikaten und vielseitigem Aussehen dar. Im Großen und Ganzen sahen sie alle wie Mitglieder einer Machnow-Bande aus, und ich hatte übrigens auch angenommen, dass ich so etwas hier vorfinden würde. Insgesamt waren es 30 Mann. Ich blickte sie feindselig und verächtlich an. Mich, der ich an die deutsche „Ordnung“ gewöhnt war, ekelte schon ihre äußerliche Schlampigkeit und Ungepflegtheit an, aber viel schlimmer war noch, dass diese meist jungen Burschen in jenen Tagen, als die Sowjet-Armee auf siegreichem Vormarsch auf die deutsche Grenze war, im undurchdringlichen Dickicht der Wälder um Wologda abwartetete, als wären sie die hinterletzten Feiglinge, die sich von Almosen ernährten, die ihnen der Feind zum Fraß vorwarf, und das alles wegen ein paar lächerlicher Vergehen, die sie den Ihren angetan hatten.
In Gedanken stellte ich mir vor, dass ich notfalls kein Mitleid mit ihnen haben, sondern den Abzug meiner Pistole drücken und dieses Gesindel abknallen würde. Einstweilen aber saßen wir hier, sahen uns mit gespannter Erwartung an und tauschten vorsichtige Fragen und zweideutige Antworten aus. Aber auch wenn sich die Unterhaltung träge entwickelte, so arbeitete der Kopf doch mit vollen Umdrehungen. Was sollten wir unter solchen Gegebenheiten tun, die nun bereits konkrete Umrisse angenommen hatten? Der erste Impuls war den Kommandeur zu rufen und den Versuch zu unternehmen, die Lage mit größtmöglicher Offenheit zu erörtern. Die Illusionen vertreiben, dass die Deutschen auch künftig ihre Unterstützung geben würden, dass Deutschlands Tage gezählt waren und dass man nun irgendwelche Alternativ-Entscheidungen fällen mußte, von denen ich nur eine einzige vorschlagen konnte: für alle hinreichend glaubwürdige Dokumente erstellen und austeilen (es gab da eine ganze Vielfalt an Vordrucken u.ä.) und sie sich dann zunutze zu machen; jeder sollte dann seinen eigenen Weg suchen und finden, von der beste sicher das Sichdurchschlagen an die Front wäre, wo sie sich im aufrichtigen Kampf selber rehabilitieren könnten, zumindest vor ihrem eigenen Gewissen - wegen der Schuld gegenüber der Heimat. Allerdings zog ich sogleich in Erwägung, dass es unvorsichtig wäre, diese Unterredung jetzt zu führen, da noch nicht alle Angelegenheiten der Gruppe geregelt waren, und außerdem: auf welcher Grundlage konnte ich denn auf das Vertrauen des Kommandeurs auf den Erstbesten, der ihm über den Weg lief, zählen?

Es blieb nichts anderes übrig als zu warten oder sich unmerklich davonzumachen und zu versuchen, sich zu den ehrlichen Sowjetmenschen durchzuschlagen. Aber wohin sollte man gehen? Welche Garantien gab es dafür, dass nicht überall Posten aufgestellt waren? Würde unsere ganze Lage dann nicht noch viel komplizierter werden? Also durchhalten und Geduld üben! Nach dieser Entscheidung beruhigte ich mich ein wenig. Aber das Feuer brannte nieder, es gab kein Brennholz mehr, und so schlug der Kommandeur vor, bis zum Morgen in irgendeiner Laubhütte oder einem Heuschober abzuwarten, der eine ziemlich geräumige Höhle abgab. Es war dunkel und kalt, und wir wußten nicht wohin wir sollten. Es blieb also nichts anderes übrig, als demRat zu folgen. Ehrlich gesagt, mir gefiel es nicht, dass sich so viele Leute in die Hütte drängten, aber zumindest brauchten wir mit unseren Jungs kein fremdes, bewohntes Quartier beziehen, und eigentlich war es ja nur allzu menschlich, dass sich die Leute danach sehnten, sich im Warmen eine Zeit lang auszuruhen. Nichtsdestoweniger ergriff ich die eine und andere Vorsichtsmaßnahme – ich verkroch mich in eine Ecke, schob die Pistolentasche auf den Bauch, schnallte sie um und schob den Riemen der Pistole über meinen Ellbogen; ich beschloß, auf keinen Fall zu schlafen. Eine Zeit lang nahm ich mich zusammen, hörte bereits das Schnarchen der Eingeschlafenden, dann fing auch ich an immer wieder kurz einzunicken, bis ich schließlich in den tiefen Schlaf eines körperlich und moralisch müde gewordenen Mannes fiel. Ich erwachte von etwas Schwerem, das unerwartet auf mich herabfiel. Mein erster Gedanke war, dass sich jemand im Schlaf umgedreht und mich dabei niedergedrückt hatte. Ich wollte den mich niederdrückenden Nachbarn beiseite schieben, aber plötzlich begriff ich, dass mich jemand an den Armen festhielt. Meine Müdigkeit war mit einem Schlag verflogen. Der Gedanke, der sich zuvor in meinem Kopf festgesetzt hatte, dass die Bande versuchen könnte uns festzusetzen und unter ihre Kontrolle zu bringen, hatte seine Bestätigung gefunden. In der Hütte war es bereits hell genug, und das erste, was ich sah, waren die erschrockenen Augen meiner Kameraden, die mir zu Füßen saßen. Ich stürzte los. Sosika schrie den Tränen nahe: „Pawluschka, mach keine Dummheiten!“ In diesem Augenblick fühlte ich, dass derjenige, der meine Arme festhielt, meine rechte Hand losgelassen und damit begonnen hatte, mir das lederne Uhrenarmband vom linken Handgelenk abzuchnallen. Mit einem jähen Ruck drehte ich mich auf den Bauch und zog die Pistole aus dem Halfter. Sogleich stürzten sich mehrere Männer auf mich, und ich konnte mich nicht mehr von der Stelle rühren. Die Pistole hielt ich noch in der Hand, den Lauf an den Bauch gedrückt. Ergeben wollte ich mich nicht. In Gedanken stellte ich mir vor, wie die Kugel mir den Bauch durchschlug, und empfand schon fast den scharfen Schmerz der explodierenden Eingeweide , aber der gespannte Abzug meiner 13-Schuß-9 mm Browning war zwischen meinem Körper und der Unterlage aus Heu eingeklemmt. Jemand drückte mir die Kehle zu. Vor meinen Augen zuckten rote und grüne Kreise, und kurz darauf verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich noch genau so da wie zuvor, allerdings waren beide Arme nach hinten gebogen, meine Kehle brannte wie Feuer, jeder Widerstand war sinnlos. „Na schön, ich ergebe mich“, - krächzte ich, und sogleich nahm das Gewicht, das mich niederpreßte etwas ab, so dass ich mich umdrehen konnte. In der Hütte war schon niemand mehr – außer mir und 2-3 von den Leuten, die mich ergriffen hatten. Ich kroch ebenfalls zum Ausgang, hob auf dem Weg dorthin meine heruntergefallene Mütze auf und überzeugte mich mit einer unmerklichen Handbewegung, dass sich die Handgranate noch in meiner Hosentasche befand – gut verdeckt durch die Tarnkleidung. Das machte mir ein wenig Mut. Als ich aus der Hütte gekrabbelt war, stand ich auf und bemerkte sofort Schechowzow und Kurganow, die in etwa 10 Meter Entfernung vor einer ebensolchen Hütte standen; neben ihnen stand ein nicht sehr großer Mann in Offiziersuniform im Rang eines Majors. Ob der vom NKWD ist? – dachte ich. Ich hatte mir schon mehrfach eine ähnliche Begegnung vorgestellt, mehr noch – ich hatte sogar danach gestrebt, aber sie hätte sich in einer anderen Atmosphäre ereignen sollen und. vor allem, auf meine Iniative hin. Und dennoch empfand ich eine frohe Erleichterung. Was für ein kompliziertes Knäuel unterschiedlicher Probleme hatte sich nun ganz von selbst gelöst. Der Strahl der wiederauflebenden Hoffnung schien auch den grauen Nebelschleier des Morgengrauens zu erleuchten, der die ganze Umgebung ab einer Sichtweite von 40-50 m einhüllte. Vielleicht ist das Wort froh oder fröhlich hier auch fehl am Platze, aber ich marschierte jedenfalls mit mutigen Schritten auf denMjor zu, salutierte wie es sich gehört und vermeldete: „Gruppenkommandeur, Feldwebel Sokolov“. Der Major war ein wenig verwirrt und legte mehr aus Gewohnheit, als in vollem Bewußtsein seiner geistigen Kräfte, die Hand an den Mützenrand und streckte mir seine Hand entgegen. Wir begrüßten uns per Handschlag; anschließend schlug er mir vor, mit ihm gemeinsam in diese andere Hütte zu gehen. Dort sah ich außer dem Major noch einen Oberstleutnant, der hinter mir durch das enge Einstiegsloch geschlüpft war, einen Leutnant mit einer mir unbekannten blauen Schirmmütze mit rotem Rand und einen unansehnlich gekleideten Mann in Zivil. Der Oberstleutnant stellte mir eine Menge Fragen, die ich beantwortete. Unter anderem fragte er auch, was wir denn in der Spionageschule so alles gelernt hätten. Ich lächelte spöttisch und erwiderte: „Von allem ein bißchen – irgendwie ...“. – „Woher wissen Sie das denn?“ fragte der Oberstleutnant eilig. „Wie – woher?“ – wunderte ich mich. „Das ist ein Satz aus Eugen Onegin.“ – Ich empfand es als sehr merkwürdig: war denn eine so elementare Kenntnis der russischen Literatur in der Sowjetunion dermaßen selten geworden? Nach diesem oberflächlichen Verhör wurde ich entlassen und trat aus der Hütte. Der Nebel hatte sich bereits rosa verfärbt, aber es war immer noch naßkalt. Etwa 20 Schritte entfernt brannte ein Lagerfeuerchen, um das sich einige der buntgescheckten Figuren aus der gestrigen Gesellschaft tummelten. Ich trat hinzu, um mich ein wenig aufzuwärmen. „Setz dich, Hauptfeldwebel!“ sagte einer der Sitzenden. Er stocherte in der Asche herum und rollte einige angebrannte Kartoffeln daraus hervor, von denen er eine mir zuschubste. „Laß es dir schmecken!“ – Ich war gerührt. Was für ein Russe! Vor 10 Minuten noch hätte ich, wenn ich nur gekonnt hätte, ohne mit der Wimper zu zucken meine 13 Schuß Munition auf diese Leute verschossen, und nun teilten sie mit mir, ohne die geringsten Zweifel zu hegen, ihr kümmerliches Frühstück. Essen mochte ich nichts, aber um mich nicht zu blamieren, stocherte ich mit den Fingern ein bißchen darauf herum und zerkaute schließlich die Hälfte davon samt Schale und Asche. Danach fragte ich, ob ich etwas zu rauchen haben könnte, und sogleich streckten sich mir mehrere Tabaksbeutel mit Machorka und abgerissenen Zeitungsfetzen entgegen. Wenig später ging die Sonne auf und verscheuchte auch die letzten Nebelschwaden. Die Soldaten streiften auf der Suche nach Fallschirmspringern durch den Wald undlegten bald darauf alle eingesammelten Trophäen auf einem Haufen zusammen. Eine der Fallschirme hatte sich nicht geöffnet, und die ganze Last hatte sich in eine matschige Masse verwandelt. Ich bat sie darum, unser Bündel aufzuschnüren und uns unsere Mäntel zu geben, was auch unverzüglich geschah. Dann näherte sich ein merkwürdiges Fuhrwerk. Der lange Wagenkasten ruhte, fast wie bei einem Leiterwagen, auf einer einzigen Achse, an der sich zwei große Räder befanden. Der „Stutenlenker“ war ein gesund aussehendes, weißblondes Mädchen, das oben auf ihre „Pferdestärke“ thronte. Auf diesen Karren wurde die Fracht verladen; das Mädel fuhr wieder ab und alle, insgesamt 40-50 Mann gingen, ohne Formation, zufuß über den unwegsamen Feldweg, der sich durch kleine Waldstücke, Lichtungen und Felder dahinschlängelte. Der Tag zeigte sich hell und warm. Es war still, und man sah nur wenige Leute. Wir gingen in einer separaten Gruppe – unser Dreigespann und die drei Offiziere. Das Gespräch, das in der Hütte begonnen hatte, lebte mal auf, mal erstarb es wieder. So gelangten wir schließlich in ein großes Dorf. Wir wurden in einem großen Holzhaus untergebracht, in dem ein langer Tisch und einige Sitzbänke standen. Man teilte uns einen Wachposten zu und ließ uns dann allein. Wir warfen uns untereinander ein paar Sätze zu, und dann versuchten wir uns in dieser unangenehmen Situation ein wenig zum Dösen zurechtzulegen; einer legte sich auf eine Bank, der andere wollte lieber im Sitzen ruhen – die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Zum Mittagessen kehrten die Offiziere zurück. Sie brachten ein paar Wildenten mit, welche sie der Hausherrin aushändigten, die in einem anderen Zimmer saß. Uns beköstigte man mit ein paar erbärmlichen Kartoffeln und hartem Brot. Man konnte sehen, dass es in den sowjetischen Dörfern ärmlich zuging. Nach dem Mittagessen trat der Leutnantmit der blauen Mütze zu uns heran. Sein Nachname war Nowitschkow. Der Major hieß Disik und der Oberleutnant Wasiljew. Mir kam es so vor, als ob alle drei, trotz ihres Familiennamens, Juden waren (möglicherweise zeigte sich bei mir das Syndrom der Goebbelschen Propaganda). Der Leutnant führte mich über die Straße und brachte mich zu einem Gebäude, das wie eine Schule ausssah, jedoch vollkommen leer stand. Entweder gingen die Kinder hier nur bis zum Mittagessen hin oder es fand überhaupt kein Unterricht statt – jedenfalls war das Gebäude leer, aber zweifelsohne bewohnt. In einer der Klassen richteten wir uns nun häuslich ein: der Leutnant setzte sich an den Tisch, ich auf eine der Schulbänke, und dann begann das erste formell festgehaltene Verhör mit hauptsächlich biographischem Inhalt. Zusammen mit dem Verhörprotokoll sollte ich auch noch andere Dokumente unterschreiben, darunter ein Verhaftungsprotokoll, in dem darauf hingewiesen wurde, dass ich bei meiner Festnahme bewaffneten Widerstand geleistet hätte. Ich versuchte meine Motive zu erklären, aber der zuckte nur mit den Schultern und schrieb mir noch ein Papierchen aus – ein Schriftstück, in dem es hieß, dass bei meiner (oder unserer) Verhaftung eine x-te Anzahl Patronen verschossen worden wäre. Da wurde ich ärgerlich: „Was für Patronen?“ – Der Leutnant wich meinem Blick aus und meinte, dass es wichtig wäre, eine gewisse Anzahl Patronen vom Soll auszutragen. „Das sind wohl die, die sie für Ihre Enten verschossen haben?“ – fragte ich ihn direkt. Nowitschkow lachte ausweichend und versuchte mich davon zu überzeugen, dass dieses Papier nirgends in Erscheinung treten würde und er es lediglich für seinen Rechenschaftsbericht benötigte. All das setzte mich in größte Verwunderung, denn während des gesamten Krieges hatte nicht einmal der pedantische Kronau gefragt, wo wir mit unseren Patronen abgeblieben seien, und schon gar nicht, wenn es um so ein paar jämmerlich wenige ging. Trotzdem unterschrieb ich. ich muß hinzufügen, dass das Dokumente in meiner Akte tatsächlich nicht auftauchte.

Am Abend als es bereits dunkel geworden war, kam erneut die ganze Gesellschaft in die Kate. Nachdem sie sich untereinander beraten hatten, befahlen sie uns zum Übernachten in eine andere Unterkunft zu verlegen. Das war eine kleine, offensichtlich leerstehende Hütte, von denen es in Rußland damals wohl eine ganze Menge gab. Es gab so gut wie keine Möbel, außer ein paar Bänke und Hocker. Ein Tisch stand wohl auch darin. Zur Bewachung gab man uns einen jungen Burschen, der allerdings auch schon Bekanntschaft mit der Front gemacht hatte. Er war ziemlich geschwätzig, erzählte von sich, vom Krieg; außerdem erfuhren wir einige Einzelheiten über unsere Offiziere und darüber, wie die ganze Operation vorbereitet worden war. Allerdings kannte er nicht den Gruppenkommandeur, der uns in Empfang genommen hatte, und so blieb mir seine Rolle in dieser ganzen Kombination unklar. Wir konnten ebenfalls, ohne besonders vorsichtig zu sein, unsere Probleme besprechen. Kurganow fühlte sich am schlechtesten von allen. Nicht ohne Grund fürchtete er, dass man ihn des Vaterlandsverrats anklagen könnte (§ 58-1b). Ich versuchte, so gut es ging, ihm Mut zuzusprechen. Ich sagte ihm er solle die Aussage machen, dass wir schon viel früher unsere freiwillige Aufgabe geplant hatten und dass wir diese Aussage bestätigen würden.

Über Kurganow befragten sie mich nur wenige Monate später, und ich hielt mich an unsere Absprache. Nachdem wir bis in die späte Nacht hinein geredet hatten, legten wir uns schlafen. Jeder suchte sich irgendwo einen Platz, auch unser Leibwächter. Wären wir wirklich Übeltäter gewesen, hätte es uns nichts ausgemacht, ihn zu entwaffnen und damit Aufsehen zu erregen – oder einfach Reißaus zu nehmen. Aber so etwas kam uns gar nicht erst in den Sinn, um so mehr, als die Ereignisse sich vollständig zum Guten gewendet hatten.

 

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