„Da hat ihn also die Militärstreife aufgegriffen. Wieviele
Berittene vorneweg,
Und er mußte zum Verhör: Wieviele Infanteristen hinterher?
Sag Du uns, Bruder; Wieviele Kanonen und Geschosse,
Wieviele Soldaten habt ihr? Worauf haben sie ihre Mündungen gerichtet?
(Aus einem Soldatenlied)
Früh am Morgen machten wir uns alle zufuß auf den 6-8 Kilometer langen Weg zur Bahnstation Archangelsk-Wologda. Eigentlich war das gar kein richtiger Bahnhof; in der Nähe sah man ein paar kleine Häuschen, die zu irgendeiner Siedlung gehörten, und genau hier begann ich die Alltagsbilder im Leben Sowjetrußlands in diesen schwierigen Jahren genau zu beobachten. Nachdem wir die Station erreicht hatten, ließen wir uns auf einer Anhöhe neben der Bahlinie nieder. Über diese Anhöhe verlief ein kleiner Pfad, über den hin und wieder Leute kamen oder gingen, hauptsächlich alte Männer und Frauen in ärmlicher, schäbiger Kleidung. Von irgendwoher brachten sie große, runde Brotlaibe und brachen dazu Konservendosen aus unserer Fracht auf. In den Dosen befand sich Schweinefett. Jedem von uns gaben sie ein schönes, großes Stück Brot von jeweils 500 Gramm, das reichlich mit Speck belegt war.
Ich wollte nichts essen, vor allem mochte ich keinen fetten Speck. Ich bot meine Portion den Kameraden an, aber die lehnten ab. Während der Zeit lief eine alte Frau auf dem schmalen Weg entlang. Sie hielt eine kleines, merkwürdig aussehendes Stück Brot in den Händen, das sie wahrscheinlich im Laden gegen eine Brotmarke erhalten hatte. Ich trat zu ihr heran und händigte ihr mein Frühstück aus, welches ihre gewohnte Ration wohl um ein Zweifaches übertraf. Was da für ein Segen an Dankesworten und guten Wünschen auf mich herniederprasselte: „Behüte dich Gott, mein Söhnchen!“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein einziges Stückchen Brot einen derartigen Ausbruch von Emotionen verursachen konnte. Etwa nach einer Stunde traf ein Güterzug ein, auf dem es einige leere Ladeflächen gab. Alle ließen sich darauf nieder, und der Zug keuchte sogleich ohne Eile weiter. Vor mir eröffnete sich eine ganz andere Welt als die in Europa. Unansehnliche Dörfe, die selbst im Vergleich mit Petschki armselig aussahen, riesige Lokomotiven und Waggons, die ich auf unseren, viel engeren, Schienenwegen noch nie gesehen hatte, ein Zug, bestehend aus lauter Güterwaggons, aus deren vergitterten Türen Menschen in neuen Uniformen der Roten Armee, jedoch unbewaffnet, herausschauten. Da brachten sie also freigelassene Häftlinge an die Front, in verschlossenen, beheizbaren Zügen – und unter Wachbegleitung. Bei einem der Zugaufenthalte wurden die Waggons von jungen Mädchen mit Holz beladen, wobei diese auf ihren eigenen Schultern schwere Eisenbahnschwellen herbeischleppten, was in Europa allenfalls zwei kräftige, gesunde Männer bewerkstelligt hätten. Und dabei lachten sie noch und winkten freundlich mit den Armen!
Ungefähr um drei Uhr trafen wir in Wologda ein. Auch hier war alles ungewöhnlich: Holzhäuser, Zäune, schlecht gekleidete Menschen, von denen die meisten Militärmantel und Jacken im Matrosenschnitt trugen. Hier gab es fast überhaupt keine Transportmöglichkeiten. Von der Bahnstation brachten sie uns mit Lastwagen zu einem ziemlich großen, zweigeschossigen Gebäude, ebenfalls aus Holz, bei dem es sich offenbar um den Sitz der örtlichen NKWD-Behörde handelte. Sie führten uns in einen Raum mit Schreibtisch und Stühlen – wohl irgendein Arbeitszimmer. Als Bewachung hinterließen sie uns zwei blutjunge Soldaten, die jedoch jetzt nicht mehr aus dem Kontingent stammten, das zusammen mit uns hier eingetroffen war, sondern aus hiesigen Truppenteilen.
Man brachte uns etwas zu essen und gab dazu jedem en Stück Brot. Unter unseren Kämpfern rief das neidvolle Verwunderung hervor. Als ich ihr Flüstern vernahm, nahm ich das Brot und gab es ihnen. Sie wollten ablehnen, aber ich überzeugte sie davon, dass dies alles unsere Leute waren und dass man sie nicht preisgeben würde. Da begannen sie, nach dem sie ihren Anteil unter dem Schoß des Uniformmantels versteckt hatten, gierig an ihrem Brot zu kauen. Noch etwas gab Anlaß zur Verwunderung. Damals wußte ich noch nicht, dass ein derart unaufhörliches Hungergefühl immer von dem Wunsch nach einem Stück Brot begleitet war. Bald darauf rief man mich in ein anderes Arbeitszimmer, wo Oberstleutnant Wasiljew anfing. mich ausfragen bzw. zu verhören, aber einstweilen führte er darüber noch kein Protokoll, sondern machte lediglich für sich ein paar Anmerkungen in ein Notizbuch.
Erstens, als wollte er unsere vorherige Unterredung noch ein wenig in die Länge ziehen, fragte er, ob sich meine Zweifel nun inzwischen zerstreut hätten, dass ich es hier nicht mit einer „Bande“ zu tun habe, sondern mit den NKWD-Organen. Ich antwortete ihm, dass dies vollständig der Fall sei, und legte ihm als Geste meines guten Willens und Zeichen des Vertrauens meine Granate auf den Tisch. Es verschlug ihm die Sprache; dann ergriff er in aller Eile die Granate und stopfte sie in seine Schreibtisch-Schublade. Die Fragen hatten in erster Linie operativen Charakter. Mit dieser Granate waren die Kuriositäten noch nicht beendet. Ich war bereits vom Verhör zurückgekehrt, als ein Leutnant das Zimmer betrat, den ich an diesem Tag schon einmal gesehen hatte. In der Hand hielt er meine Granate. Er fragte mich, wie man sie entschärfte. Ich entgegnete ihm, dass er dazu den Zünder am unteren Teil abschrauben müßte. Aber er drehte den Zünder nicht vollständig heraus, sondern nur den Knopf, mit dem die Zündschnur verbunden war, welche man vor dem Werfen der Granate kräftig herausziehen mußte. „O, was machen Sie denn da?“ schrie ich. Jener hielt verwirrt inne. Ich stürzte mich instinktiv auf ihn und riß ihm die Granate aus der Hand. Plötzlich besann er sich und hätte mir wohl die Hand gegeben, aber es war schon zu spät, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als nun die Folgen seines Fehlgrffs abzuwarten. Ich drehte den Zünder heraus, entfernte die Kapsel mit dem Detonator und händigte alles dem Leutnant aus. Dem standen sogar Schweißperlen auf der Stirn. Aber er hatte sich schnell wieder gefangen und fragte uns lange über das Leben im Ausland aus, wobei er voller Verwunderung Europa für sich entdeckte, genau wie ich mich wohl meinerseits mit Rußland vertraut machte. Am Abend trennten sie mich von den anderen und brachten mich in dem Arbeitszimmer unter, in dem ich verhört worden war. Sie übergaben mich in die Aufsicht eines Milizionärs in dunkelblauem Militärhemd und einer Nagan-Pistole am Gürtel. Bevor er wegging, brachte mir derOffizier, der mich begleitet hatte, noch ein paar Zeitungen undich versank insLesen. Um zehn Uhr abends erklärte der Milizionär, dass ich nun zur Toilette zu gehen hätte und dass er mich in der Nacht nicht dorthin führen würde. Ich willigte ein. Mein Begleiter zog den Nagan aus dem Halfter und folgte mir, die Waffe im Anschlag. „Bist du blöd?“ fragte ich ihn. Jener wurde zwar etwas verlegen, nahm die Waffe jedoch nicht herunter. „Woher soll ich wissen, wer du bist!“ rechtfertigte er sich. Im Arbeitszimmer standen ein paar weiche Stühle; ich stellte sie in einer Reihe auf und legte mich dann schlafen, wobei ich dem wachsamen Milizmann den Befehl erteilte, ja gut auf mich achtzugeben. Erstaunlich, dass ich mich in dieser angespannten Situation ganz ruhig fühlte und wie ein Toter schlief. Am nächsten Tag setzte der Oberstleutnant seine Arbeit fort, in dem er die Ergebnisse des gestrigen Tages und meine gegenwärtigen Aussagen zu Protokoll brachte. Zu diesem Zweck erschien eine aufgedonnerte Dame mit Schreibmaschine. Wir erhielten jeder eine Schachtel Zigaretten aus unserem Gepäck. Ich bot der Aufgedonnerten auch eine an, und diese war nicht abgeneigt. Der Oberstleutnant betrachtete das mit offensichtlichem Mißfallen, schwieg jedoch. Dann traten Komplikationen ein. Wie ich bereits sagte, hatten wir vor unserem Abflug per Funk Anweisungen erhalten, die Graife anschließend in einem Gespräch unter vier Augen mit mir ergänzt hatte. Deswegen kam es jetzt in meinen Aussagen und denen meiner Kameraden zu Widersprüchen. Es kam zu einer Gegenüberstellung. Man mußte die Widersprüche mit Hilfe der „Willensmethode“ lösen: „Ich bin der Kommandeur, und deswegen antworteich für alle“, sagte ich, und der Oberstleutnant war damit auch sogleich einverstanden. Erneut wunderten wir uns alle: Die Rede war von einem Aktivisten der Spionageabwehr. Der Oberstleutnant brachte uns ein paar Fotos und forderte uns auf, den Mann zu identifizieren. Ein flüchtiger Blick genügte, um sich davon zu überzeugen, dass die gesuchte Person auf keiner der Aufnahmen zu sehen war. „Wie? Keiner von denen?“ schrie Wasiljew. Und indem er auf eines der Fotos zeigte, meinte er: „Das ist er“! – „Nein!“, erwiderte ich. „Die beiden haben nichts miteinander gemein. Bei dem einen ist der Kopf wie ein Rettich nach unten geformt, bei dem anderen nach oben“. „Wie kommt das denn?“ wunderte sich nun der Oberstleutnant. Und ich erzählte ihm, dass es daher kommt, dass der eine Iwan Iwanowitsch war, der andere Iwan Nikiforowitsch; dabei war ich nun meinerseits erstaunt, dass etwas derart Elementares eine solche Situation hervorrufen konnte. Gegen Ende des Tages waren die Ergebnisse beider Tage gedruckt und wurden mir zum Durchlesen und anschließenden Unterschreiben überreicht. Ich mußte mich zum ersten Mal einer solchen Prozedur unterziehen, wenn man von der sellenrettenden Unterhaltung mit den Opas aus der Sonderabteilung im Schutzkorps über Burljuks verbrecherische Reden absieht. Ich nahm den Aktendeckel mit der Aufschrift: In Sachen des deutschen Fallschirmspringers und Feldwebels Pawel Palwowitsch Sokolow“. Darin lagen maschinengeschriebene Blätter mit der Überschrift „Frage“- „Antwort“. Im Großen und Ganzen war alles so gewesen, aber auch wieder nicht. Alle Fragen zu meiner Tätigkeit waren in einem bewußt anklagenden Ton formuliert. Ich machte den Oberstleutnant darauf aufmerksam. Jener wollte wissen, ob der Kern der Sache denn nicht klar auf der Hand lag. Im übrigen, fügte er hinzu, müssen sie ja nicht unterschreiben. Letzten Endes hatte er recht , und ich unterschrieb. Gegen Abend traten in das Kabinett, in dem ich auch weiterhin blieb, ein Major und ein Leutnant mit blauer Schirmmütze. Sie sollten nach Archangelsk abfahren, an ihren ständigen Einsatzort, und waren gekommen, um sich zu verabschieden. Ich habe keine Ahnung, wodurch eine solche Höflichkeit ausgelöst wurde, aber schließlich wollen wir auch nicht danach suchen, von welchen Hintergedanken sie getragen waren; es gab nichts, was ich ihnen hätte übelnehmen können, sie verhielten sich korrekt und sogar freundlich. Den Oberstleutnant sah ich nie wieder.
Die Nacht verbrachte ich wieder dort, nur gesellte man mir anstelle des eifrigen Milizionärs diesmal einen alten Mann von mindestens 50 Jahren zu, der einen spärlichen wachsenden, nach unten gebogenen Schnurrbart, eine Schirmmütze, einen Uniformmantel und Gamaschen trug. In den Händen hielt er ein Gewehr, wohl aus den Jahren zwischen 1891 und 1930. Ich schlief tief und fest und erwachte erst, als es bereits hell wurde. Mein Wächter schlief friedlich in der Ecke, gegensein Gewehr gelehnt. Ich ging zur Toilette, wollte mich auf die Suche nach meinen Kameraden machen, wußte jedoch nicht, hinter welcher der vielen Türen sie sich befanden. Als ich zurückkehrte, schlief der Alte immer noch. Ich rüttelte ihn wach, damit seine Vorgesetzten ihn nicht in einem solchen Zustand mangelnder Wachsamkeit vorfanden, und er sagte mit einem Gefühl der Dankbarkeit: „Möge Gott dir Kraft und Gesundheit verleihen, Söhnchen!“
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