„Ein Staatsverbrecher hat keine Gestalt“
(Aus einem Dokument des XVIII. Jahrhunderts)
Sein Name war Pawel Wasiljewitsch Sysojew. Damals war er 44 Jahre alt. Vor meiner Ankunft hatte er bereits 5 Monate im Gefängnis gesessen. Und dies ist seine Geschichte. Geboren wurde er in der Nähe von Moskau, in einer Fabriksiedlung nahe der Textilmanufaktur, die einem reichen Kaufmann gehörte. Pawel Wasiljewitsch war ein hervorragender Erzähler; er konnte lebhaft den gesamten Alltag im Arbeitermilieu sowie dessen Wechselbeziehungen mit dem Besitzer beschreiben – ein Gemisch aus Patriarchentum und erbarmungsloser Ausbeutung. Im Alter von 17 Jahren trat Sysojew in die Rote Armee ein und ging dort den für die Periode des Bürgerkrieges typischen Werdegang vom einfachen Soldaten bis zum Kommandeur. Nach dem Krieg besuchte er verschiedene Kommandeurslehrgänge, stieg auf der Dienstleiter weiter nach oben und geriet schließlich als Verbindungskommandeur im Sommer 1941 in ein Sommerlager nahe der deutschen Grenze. Dort wurde er dann auch von den Kriegsereignissen mitgerissen. Mit einer einzigen Kriegsausrüstung mußte er in die Schlacht ziehen und später zurückweichen, wo bei er sich an alle in Frage kommenden Grenzverteidiger klammerte – ohne die Verbindung und das Zusammenwirken mit anderenTruppen, bis er bei Jampol endgültig umzingelt und vernichtend geschlagen wurde. Allerdings gelang es Pawel Wasiljewitsch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Gefangenschaft zu entgehen. Nachdem er sich verkleidet und einen Bauernrock angezogen hatte, machte er sich zusammen mit einem Leutnant auf den Weg Richtung Osten. Unterwegs gesellten sich noch zwei weitere, von seinem Truppenverband übriggebliebene Leutnants hinzu. Er überredete sie, eine Partisanen-Einheit zu organisieren. Sie willigten ein, aber eines Morgens konnte er weder seine beiden neuen Weggefährten, noch seine Uhr wiederfinden. So gingen er und der Leutnant noch eine Weile allein weiter, bis sie auf eine deutsche Patrouille stießen. Der Ältere von ihnen verfügte über eine gute Beobachtungsgabe. Er bemerkte die Offiziersstiefel, die der Leutnant trug und die diesem zum Wegwerfen zu schade gegwesen waren, und verdächtigte die beiden, verkleidete Soldaten zu sein. So gerieten sie in ein Kriegsgefangenenlager. Es folgten Verlegungen von einem Lager ins andere, Hunger, Massensterben von völlig erschöpften Menschen, Kälte und Krankheiten, und schließlich fand Sysojew sich in einem Lager nahe der westukrainischen Stadt Stryj, unter dem Namen des gewöhnlichen Soldaten Petr Skirda wieder – Nationalität: Ukrainer. Hier waren die Bedingungen ein wenig besser. Er kam zu einem Arbeitskommando, welches in den Pferdestallungen einer deutschen Militäreinheit tätig war. Es war keine schwere Arbeit, die zudem Zugang zu Hafer ermöglichte. Den Hafer verbargen sie für gewöhnlich in den unten zusammengeschnürten Ärmeln ihres Militärhemdes. Der Wachtmeister, der die Kommandos entgegennahm und weitergab, führte normalerweise eine Durchsuchung durch, welche aber eher die Uniform betraf. Mit einem Stöckchen schlug er auf die aufgeblähten Ärmel des Uniformmantels und fragte drohend: „Hafer?“. Der Gefangenen sah den Wachtmeister mit ehrlichen Augen an und erwiderte: „Nix Hafer“, und damit war die Prozedur dann in der Regel erledigt. Nach der Rückkehr ins Lager begann dann der Prozeß der Weiterverarbeitung des Hafers zu Graupen. Zuerst wurde er geröstet, um die Schale abzubrennen, anschließend wurden mit einem selbstgebastelten Enthülser die restlichen Spelsen entfernt und die so gesäuberten Körner zerkleinert, aus denen wir dann einen schwärzlichen, verbrannten Brei kochten. Auf diese Weise gelang es Susojew Kräfte zusammeln und dann seine Flucht zu organisieren, an der noch vier weitere Männer beteiligt waren. Sie begaben sich bis zum Waldmassiv, in der Hoffnung dort auf Partisanen zu stoßen, Aber die ersten, denen sie begegneten, waren Banderow-Leute, welche die Kriegsgefangenen, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, nicht vernichteten, sondern Petr Skirda als ihren Landsmann anerkannten und die gesamte Gruppe in ihrer Bande aufnahmen. Nach einer gewissen Zeit, während eines Zusammenstoßes mit roten Partisanen, gelang es Sysojew zu den Seinen überzulaufen. (Diese Episode wurde, mit einigen Abänderungen, in einem Spielfilm vorgestellt, der nach Motiven eines Buches des Partisanenführers Fedorow gedreht wurde. Ich meine er hieß „Dort hinter dem Bug“. Die Personen in dem Film erhielten alle andere Vor- und Nachnamen, die jedoch dieselben Initialen besaßen). Nachdem Susojew bei den Partisanen angekommen war, offenbarte er seinen wahren Namen und seinen militärischen Rang. Man machte über ihn Meldung nach Moskau, von wo dann die Anordnung kam, Sysojew mit dem Flugzeug auf den „Kontinent“ zu schicken. Aber Fedorow, dem es an erfahrenen Soldaten mangelte, hatte keine Eile damit, den Befehl aus Moskau auszuführen; er behielt Pawel Wasiljewitsch bei sich und setzte ihn für die Organistation von Spionagetätigkeiten ein. Erst später, nachdem Fedorows Einheit sich, nach glänzenden Überfällen im Hinterland der deutschen Armee, mit sowjetischen Truppenteilen verbündet hatte, schickten sie Susojew nach Moskau. Beim Abschied versicherte Fedorow, der zu der Zeit bereits zweifacher Held der Sowjetunion war, Sysojew seiner vollsten Unterstützung; der reiste anschließend mit einem aus Moskau zu seiner Begleitung eingetroffenen Major in die Hauptstadt, wo er seine Familie zurückgelassen hatte.
Pawel Wasiljewitsch war überzeugt, dass die autoritäre Militärkommission seine Handlungen während der Kämpfe in den ersten Kriegstagen überprüfen und anerkennen würde, und selbst wenn sie ihm seine Rangbezeichnug nicht zurückgäben, dann würden sie ihm auf jeden Fall vertrauen und ihn, egal in welcher Eigenschaft auch immer, wieder an der Front kämpfen lassen – als Sühne für seine Schuld und seine Fehler; und wenn es welche gab, dann würde er sie auch eingestehen. Nichtsdestoweniger schlich sich der Wurm des Zweifels in Pawel Wasiljewitschs Seele, und er lehnte den Vorschlag des Majors, seines Begleiters, ab, sich unverzüglich nach Hause, zu seiner Familie, zu begeben; er wollte seine Lieben nicht beunruhigen, solange die Sache noch nicht abgeschlossen und er nicht rehabilitiert war. Deswegen zog Sysojew, nachdem er in Moskau erst am späten Abend eingetroffen war, es vor, den nächsten Morgen im Kabinett des Majors im NKWD-Gebäude abzuwarten. Er wurde wach, als jemand ihn an der Schulter rüttelte. Als er die Augen öffnete, erblickte er vor sich einen Mann mit blauer Schirmmütze, der zu ihm sagte: „Na, komm schon – gehen wir!“ Alles weitere gleicht, wie zwei Tropfen Wasser, dem, was ich über mich selbst geschrieben habe. Allerdings brachte man ihn nicht zu einem verschlafenen Major, wie es bei mir in der Lubjanka der Fall gewesen war, sondern zu einem jungen Leutnant, der Sysojew im weiteren Verlauf mit den Worten verblüffte: „Na, dann erzähl mal, mit welcher Aufgabe dich die Deutschen zu uns gebracht haben!“ Keine Kommission, keine Generäle mit großen Sternen, keine Karten mit den aufgesteckten Pfeilen des Truppenvormarschs, kein Wiedersehen mit der Familie. Jede Nacht Verhöre und immer wieder dasselbe Lied – „Gesteh endlich!“ – Allerdings ließen sie Sysojew ab dem Moment unserer Begegnung praktisch in Ruhe, nur mitunter ließen sie ihn holen und fragten ihn dann: „Na, wirst du jetzt erzählen?“ – und dann brachten sie ihn wieder in die Zelle zurück. Sie erlaubten ihm, sich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen, und er erhielt Pakete. Im folgenden werde ich meine Gespräche mit Pawel Wasiljewitsch ein wenig eingehender beschreiben und versuchen, seine innere Welt zu erforschen; aber für den Anfang erteilte er mir die ersten Lektionen für mein Gefängnisdasein. Zuerst fragte er mich, ob ich wüßte, wo ich sei. Ich nahm an, dass dies ein Gefängnis sei. „In der Lubjanka!“ – erwiderte mein Gespächspartner gewichtig. „Wissen Sie, was das ist?“ Ich wußte, was das war. Die Worte „Tscheka“ und „Lubjanka“ waren das Schreckgespenst, mit dem man in Emigrantenkreisen nicht nur kleine Kinder, sondern auch Erwachsene in Angst und Schrecken versetzte. Die Lubjanka wurde in diesen Kreisen mit einem Ort in Verbindung gebracht, von dem aus man nach kanibalischen Folterungen nur noch auf den Friedhof gelangte, also ungefähr mit dem, was der sowjetische Spießbürger mit „Gestapo“ assoziiert. Sysojew fegte diesen alptraumhaften Mythos fort, aber er sagte, dass diese Anstalt traurig- düstere Berühmtheit erlangt hätte, dass durch die Zellen der Lubjanka hunderte politische Akteure, sowohl der Konterrevolution, wie beispielsweise Sawenkow, als auch der Revolution, wie Sinowjew, Kamenew und hundert andere Männer aus Partei und Militär, gegangen seien, die man in den 1930er Jahren repressiert hätte, aber auch Verbrecher des Zweiten Weltkriegs. Er machte mich auch mit den Regeln der Gefängnisetikette bekannt. Erstens sind die „Schränke“, in denen ich die ersten Stunden in der Lubjanka verbracht hatte, keine Schränke, sondern „Boxen, die Gefängnisaufseher sind „Geister“ wegen ihrer lautlosen Gangart in Filzgaloschen, die es ihnen gestatten, gänzlich unbemerkt die Gefangenen durch das „Auge“ in der Tür zu beobachten, oder „Schlüsselumdreher“ wegen ihres bevorzugten Ausrufs: „Na, dreh dich schon“!“ – Anreden muß man ihn, ebenso wie die anderen „Freien“ mit „Herr Vorgesetzter“; das Schnalzen mit der Zunge oder das Klopfen mit dem Schlüssel an die Gürtelschnalle sind das Signal für die anderen, sich zu dem Zweck dem Verhafteten zu nähern, dass nicht zufällig zwei Arrestanten sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Das ist ein großer Ausnahmezustand. Um ihn zu vermeiden, wird einer der beiden in eine Schrankkabine eingeschlossen, von denen es in der Korridor-Kreuzungen jede Menge gab. Im äußersten Fall muß sich einer der Häftlinge mit dem Gesicht zur Wand stellen, während der andere hinter ihm vorbeigeführt wird. Knöpfe aus Metall sowie andere metallische Gegenstände werden einem aus Sicherheitsgründen weggenommen: „Plötzlich bastelt er sich ein Messer und bringt sich damit um!“. Außerdem erfuhr ich noch eine Menge geheimer Regeln für gute Gefängnismanieren. Insbesondere bedeutet so das Flackern der Glühbirne „Schlafengehen!“ Man muß sich unverzüglich auf seine Pritsche legen, aber so, dass der „Schlüsseldreher“ die Gesicht und deine Hände sehen kann. Andernfalls weckt er dich und zwingt dich dann, die Position einzunehmen, die ihm für eine gute Beobachtung günstig erscheint. P.W. erklärte mir auch das Rätsel um jene merkwürdige Stimme, die ich im Wologodsker Knast vernommen hatte. Dies Klangfarbe einer Stimme ist das Resultat völliger physischer Entkräftung, und offenbar gehörte sie zu einem „Todgeweihten“. Sysojew berichtete detailliert davon, wie die Menschen in den Kriegsgefangenenlagern zu Todeskandidaten wurden und führte mir mit düsterem, ich möchte sagen – in gewisser Weise grausamem Humor, einen Streit zweier solcher Häftlinge vor Augen. Beide nur noch Haut und Knochen, beide in Lumpen gekleidet – aber sie setzen alles daran, durch die Fetzen ihrer Hemden ihre spitzen, hervorspringenden Brustkörbe zur Schau zu stellen. Die Augen wie zwei Schlangen, vom Bösen durchdrungen; das einzige Gefühl, welche sich in diesem völlig erschöpften Körpern noch erwärmt. Mit dünnen, quäkenden Stimmen schleudern sie sich gegenseitg wüste Beschimpfungen und Drohungen entgegen. Schließlich schubst einer der beiden den anderen, und beide fallen vor Schwäche zu Boden. Und hier ist noch ein Witz, den er von zwei Todeskandidaten und ehemaligen Schürzenjägern erzählt, die gerade erst aus der Gefangenschaft freigelassen worden waren: sie gehen und stützen einander dabei. Ein Windstoß – und beide fallen um. Am Boden liegend sagt der eine zum anderen: „ Wanka, wenn morgen kein Wind ist – wollen wir dann zu den Mädchen?“ All das wäre äußerst belustigend gewesen, wenn sich nicht auch für uns in absehbarer Zeit eine ähnliche Perspektive abgezeichnet hätte. Sysojew brachte mir auch die rationale Tagesordnung im Gefängnis bei. Am Morgen nach dem Aufstehen und der Erledigung diverser bürokratischer Prozeduren machten wir Gymnastik. P.W. zeigte mir eine nicht sehr schwierigen, aber universalen Komplex von Übungen, an denen ich bis zum heutigen Tage festgehalten habe, sofern dafür Zeit ist und ich Lust dazu habe. Das war eine der wichtigsten Aufgaben – seine körperliche Kraft und Form zu bewahren. Später baten wir um einen Lappen und reinigten damit abwechselnd den Holzfußboden unserer Zelle, den wir zuvor, als vorbereitende Maßnahme, mit Bohnerwachs bearbeitet hatten. Diese Bitte war uns also auch nicht verweigert worden. Den Lappen unter den Füßen, verrichteten wir diese Tätigkeit mal mit dem einen, mal mit dem anderen Fuß. Das entsprach einem zusätzlichen Spaziergang. Während des Tages spazierten wir im Wechsel oder gemeinsam, hintereinander, von der Tür zum Fenster der Zelle und wieder zurück. Außerdem stand uns Bewegung in einem besonderen Hof zu, in dem wir mit wechselndem Tempo herumliefen. Außer den körperlichen Übungen, Unterhaltungen und dem Austausch von Erinnerungen, spielten wir regelmäßig Schach, Dame oder Varianten davon. Ferner lasen wir Bücher, die uns der „BIB“, wie Sysojew ihn nannte, ein hochgewachsener, düster dreinblickender Gentleman, einmal pro Woche brachte. Er notierte akkurat unsere Wünsche, erfüllte diese jedoch bei weitem nicht immer. Im übrigen waren die Bücher gewöhnlich selten und interessant. P.W. sagte, dass diese Bücher aus den konfiszierten Bibliotheken von „Volksfeinden“ stammten. Die Bücher machten die Eintönigkeit des Gefängnisalltags nicht nur erträglicher, sie bereicherten auch unsere Kenntnisse und unseren Verstand. Allerdings nicht immer. Einmal brachte der BIB uns einen ganzen Haufen Erzählungen eines polnischen Schriftstellers. Insgesamt gesehen waren es ganz interessante, zumeist Detektivgeschichten, aber ihre Helden endeten in der Regel am Galgen, wurden erschossen oder starben an Schwindsucht. Gegen Ende der Woche waren wir schon fast selbst bereit, bei uns Hand anzulegen. P.W. meinte, dass man uns absichtlich diese Art von Literatur untergeschoben hätte, um unsere Moral zu untergraben. Es gab auch einige ungeplante Zerstreuungen. Einmal tauchte in der Zelle plötzlich eine Maus auf. Ungeduldig warteten wir abends auf sie, nachdem wir ihr ein Stückchen Brot übriggelassen hatten, und als sie dann ankam, saßen wir mit angehaltenem Atem da und beobachteten diese kleine Knäuelchen lebendiger Natur in unserem Zellenkäfig. Ein anderes Mal, als man uns in die obere Etage verlegt hatte (derartige Ortswechsel wurden häufig vorgenommen, allerdings weißch ich nicht, aus welchen Beweggründen dies geschah), ließ sich am Rande des Gitterblechs unseres von außen verschlossenen Zellenfensters, dem „Maulkorb“, wie mein Gefährte es nannte, ein großer Rabe nieder. Wir befestigten ein Stück Brot an dem Blech, und von da an besuchte der Vogel uns täglich. Allerdings war es nicht ganz einfach, die Prozedur mit dem Brot durchzuführen: man mußte aufs Fensterbrett klettern und fast die ganze Hand durch das vergitterte Klappfenster stecken, um bis ans äußerste Ende des „Maulkorbs“ zu gelangen. Währenddessen mußte der andere von uns, direkt gegenüber dem Guckloch in der Tür, anfangen intensiv den Fußboden zu putzen, um im Falle eines Falles unsere verbrecherische Tätigkeit vor dem Aufseher zu verbergen. Festgelegt war auch die „Todesstunde“ nach dem Mittagessen, deren Beginn und Ende durch das Flackern der Glühbirne verkündet wurde, mitunter auch mit einem Klopfen an der Tür. In dieser einen Stunde schliefen wir selten, sondern gaben uns, auf unseren Pritschen liegend, unseren Erinnerungen an die gute alte Zeit hin, manchmal laut, manchmal ganz still für uns selbst. Und nun zur Verpflegung. Am Morgen erhielten wir jeder 600 gr feuchtes Brot und Tee oder Ersatzkaffee, zum Mittagessen zwei Gerichte: eine dünnflüssige, trübe Brühe, ohne irgendwelche Stückchen darin, sowie eine Kelle voll Brei oder Reis; mitunter gab es auch anderen Brei. Abends eine Kelle Brei, meist aus Borstenhirse (oder Kolbenhirse), das heißt minderwertige Hirse bzw. aus Stroh, aus dem man üblicherweise Besen anfertigt. „Hirse-Besen“ wie Sysojew sie nannte. Er selbst bekam auf Verordnung des Ermittlungsrichters, der für ihn zuständig war, eine zusätzliche Ration ausgeteilt, und zwar für die Dauer von zwei Wochen; danach konnte diese Regelung verlängert oder eingestellt werden. Die Ration bestand aus 300 gr Brot, einem zusätzlichen Mittagessen aus zwei Gerichten von etwas besserer Qualität sowie dem Gericht, was alle anderen gewöhnlich auch zum Mittag erhielten und das als Zusatz für die Hauptabendmahlzeit gedacht war. Außerdem bekam Sysojew Pakete von zuhause, mit deren Inhalt er auch immer mich bewirtete.
Um nicht noch einmal zu unserer Speisekarte zurückkehren zu müssen, möchte ich erwähnen, dass ich fast von Anfang an eine erhöhte Ration in Form von 600 gr Brot zugeteilt bekam, und das bis zum allerletzten Tag meines Aufenthalts in der Lubjanka. Daher haben wir in puncto Verpflegung keine besondere Not gelitten. Nach Sysojews Worten gab es hier Häftlinge, die ein Essen wie im Restaurant bekamen. Es gab auch Diätverpflegung mit einem zusätzlichen StückWeißbrit und etwas leichterem, warmem Essen. Später erhielt manch einer von unseren neu eingetroffenen Zellengefährten solche Nahrung. Um die Frage des Alltagsgeschehens zu beenden, muß man auch das Verhältnis zum Gefängnispersonal beleuchten. Der Umgang mit uns war streng und sehr offiziell. Nachsicht oder Mitleid gegenüber dem Gefangenen galt als unzulässiges Vorgehen. Morgens vollzog sich die Wachablösung unter den Aufsehern. Die alte Schicht schaut kurz in die Zellen, fragte, ob jemand irgendwelche Forderungen zu stellen hatte, meldete einen, sofern erforderlich, beim Arzt oder Ermittlungsrichter an, notierte sich, ob jemand Nadel und Faden oder irgendeinen anderen Gegenstand benötigte, ob man Bücher austauschen oder statt des Schachbretts lieber ein Dominospiel haben wollte usw. Die gewöhnlichen Aufseher nahmen mit uns in der Regel keinen Kontakt auf, es sei denn, wenn sie eine Bemerkung über die Verletzung der Regeln machen wollten, einen zum Untersuchungsrichter holten oder bei anderen außergewöhnlichen Umständen. Übrigens gab es auch unter diesen Leuten, die kalt wie Stein waren, Ausnahmen. Einer von ihnen war ein ganz einfaches und schon ziemlich betagtes Männchen. Zwischen ihm und Sysojew entwickelte sich eine vertrauensvolle Beziehung, die sich später auch auf mich ausweitete. Wenn der Tabak ausgegangen war und wir, genauer gesagt Sysojew, diesbezüglich auf dem Schlauch standen (denn ich rauchte nur wenig und empfand bei Nichtvorhandensein von Tabak kein Unwohlsein), dann bat Sysojew den Alten flüsternd oder mittels einer Geste um etwas zu rauchen. Nach einiger Zeit öffnete sich das Klappfensterchen und eine laute Stimme rief irgendetwas herein. Gleichzeitig zwängte sich eine Hand durch die Klappe, und ein Stückchen Zeitung sowie ein paar Krümel Machorka fielen in die Zelle. Oder Sysojew fragte den Aufseher, wenn dieser die Zelle betrat, um uns die nötigen Utensilien zum Saubermachen zu bringen, im Flüsterton, aus welchem Anlaß man gestern Salut geschossen hätte, den wir zu der Zeit fast täglich hörten und auch die Rauchfahnen durch den schmalen Streifen Himmel über dem „Maulkorb“-Fenster sahen, und dann teilte uns „unser“ Aufseher in dem gleichen Flüsterton die letzten Neuigkeiten mit. Somit habe ich nun hinreichend vollständig jenen Hintergrund beschrieben, vor dem sich die Seiten meines Lebens zu jener Zeit abwickelten.
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