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P. Sokolow. Schlaglöcher

III. Buch. „Der Himmel hinter Gittern“. 1944 – 1954

Teil V. Inden Labyrinthendes NKWD

Kapitel 49 . In der Obhut des sowjetischen Spionagedienstes

1) Kontinuität
2) Aktivität
3) Glaubwürdigkeit der Angaben
4) Ihre Beschaffung zum richtigen Zeitpunkt
(Aus den Kriegsstatuten der sowjetischen Armee)

Das alles erfuhr ich nicht an einem Tag, aber zur Vollständigkeit meiner Erzählung habe ich hier alles miteinander vereinigt, wobei ich mehrfach die Chronologie der Ereignisse unbeachtet ließ. Kehren wir nun noch einmal zurück zu den ersten Tagen meines Aufenthalts als Bewohner der berühmten Lubjanka. Am ersten, vielleicht war es auch am zweiten Tag, nach meinem Umzug in Sysojews Zelle, riefen sie mich „zum Verhör“, wie es offiziell aus den Mündern unserer „Geister“ tönte. Nachdem der „Geist“ (gemeint ist der Untersuchungsrichter; Anm. d. Übers.) die Angaben im Fragebogen überprüft hatte, übergab er mich an den mich begleitenden Beamten, der mich, nachdem er die zuvor beschriebenen Rituale beobachtet hatte, in eines der Arbeitszimmer im Gebäude des Volkskommissariats schickte. Hier muß ich eine Erläuterung geben: Die Lubjanka – das ist ein Gebäudekomplex des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD), das damals bereits in zwei Ministerien (wie es in der neuen Terminologie hieß) aufgeteilt war – das Ministerium des Innern und das der Staatssicherheit. Wie Sysojew berichtete, gehörte zu ihrer Basis auch das Gebäude der ehemaligen Versicherungsgesellschaft „Rossija“ und das dazugehörende Hotel auf dem Lubjanka-Platz. Nach anschließenden Umgestaltungen stellte dieser Gebäudekomplex einen Ring dar, in dessen Innerem eben jene „Lubjanka“ untergebracht war, die den offiziellen Namen „Inneres Gefängnis des MGB“ trug. Von der Straße aus war dieses Gefängnis nicht einzusehen. Zwischen dem Gefängnis und dem Gebäude des Volkskommissariats gab es verschlossene Verbindungs- und Durchgänge. Und genau durch dieses ganze Labyrinth von Treppen, Korridoren und Durchgängen brachte man mich nun auch in dieses besagte Kabinett. Ein junger, breitschultriger Oberstleutnant nahm mich dort in Empfang, der offenbar auf seinem Konto eine ganze Reihe riskanter Angelegenheiten zu verbuchen hatte, wenn man nach dem für sein Alter bemerkenswert hohen Rang sowie die Vielzahl von Ordensleisten auf seinem Militärhemd urteilte. Sein Nachname war Nikitin. Für den Anfang teilte er mir mit, dass ich mich nun in der Obhut der sowjetischen Aufklärungsorgane befände. Ich will hier Klarheit schaffen: zuvor war ich im Zuständigkeitsbereich der Spionageabwehr-Organisation „SMERSCH“ gewesen, d.h. jenem Organ, das zur Aufdeckung und Unschädlichmachung der gegnerischen Spionage im Einsatz war. Dies bestimmte auch die Richtung, in der die Verhöre geführt wurden, in deren Verlauf man Informationen über die für Erkundungszwecke entsendeten Agenten und über jene sammelte, die man zur Entsendung geplant hatte, des weiteren Angaben über Wege und Möglichkeiten ihrer Enthüllung. Die Spionage war viel mehr an Informationen interessiert, die zur erfolgreichen Arbeit der sowjetischen Agenten im Ausland beitrugen. Darin lag auch der Unterschied in der Thematik und Struktur meiner Wechselbeziehung zum Oberstleutnant. Aus rein juristischer Sicht war ich jetzt kein Untersuchungsgefangener im Sinne einer Anklage aufgrund eines konkreten Verbrechens, sondern eher eine Person, die aus operativen Erwägungen festgehalten wurde. Für den Anfang sollte ich an jenem Funkspielchen teilnehmen, welches das NKWD schon mit der deutschen Aufklärung betrieben hatte. Es wurden konkrete Aufgabenstellungen formuliert, uns zugestellt und darauf basierend künstlich fabrizierte Funksprüche abgesetzt. Ich muß dazusagen, dass dieses Spiel nicht lange währte und die Verbindung abbrach: entweder, weil wir irgendwelche Fehler gemacht, oder, was wahrscheinlicher ist, aufgrund der Liquidierung unseres geheimen Büros nach dem Eindringen der sowjetischen Armee ins Baltikum, sowie jener skandalösen Mißerfolge, die sich vor meinem Abflug ereignet hatten. Vielleicht geschah es auch wegen des nicht erhaltenen Codes, der die 100%ige Zuverlässigkeit der Gruppe bezeugte. Der Erhalt dieses Signals bedeutete grünes Licht für den Nachschub von Verstärkungstruppen und Operationen, die mit der Landung des Flugzeugs verbunden waren.Wenngleich ich mit meinen ehemaligen Kameraden aus der Ausbildungszeit kein Mitleid hatte, wollte ich doch nicht die Rolle eines Lockvogels auf mich nehmen, um sie anschließend damit ins Gefängnis zu bringen, so wie das in Wologda der Fall gewesen war, woran ich mich noch mit Schrecken erinnerte. Deswegen verheimlichte ich diesen letzten Code, um so mehr, als nur ich allein ihn kannte und ich zudem auch nicht an irgendeine konkrete Frist gebunden war, um ihn zuzuspielen. Wie dem auch sei, auf diesen Punkt kam man nicht mehr zurück. Im Großen und Ganzen war die Thematik recht breit gefächert – sie ging von der Atombombe bis hin zu den Emigranten-Organisationen.

Meine Fähigkeit zuzuhören und zu beobachten, Fakten zu vergleichen und ihren logischen Zusammenhang zu suchen ließen einen anerkennenden Eindruck entstehen und machten mich zu einer wichtigen Informationsquelle. Unsere Gespräche gestalten sich stets lebhaft und dauerten in der Regel recht lange. Mitunter nahmen daran auch andere Personen teil. Notizen wurden für gewöhnlich nicht gemacht (zumindest nicht auf Papier). Einmal war einer in Zivil anwesend; wie man anhand des Verhaltens ihm gegenüber entnehmen konnte, handelte es sich um irgendeinen höheren Vorgesetzten. Er hörte fast nur zu, erwiderte gelegentlich etwas oder stellte eine Frage. Mit ihm hatte ich eine Meinungsverschiedenheit. Ich berichtete von meinen Beobachtungen des Alltagslebens im deutschen Hinterland, dem Kartensystem und der Ordnung, die im Verteilungssystem herrschte. „Aber wir haben andere Informationen“, mischte sich der Zivilist ein, „dass nämlich in Deutschland die Versorgung der Bevölkerung gestört ist, dass dort Hunger und Unzufriedenheit an der Tagesordnung sind“. Ich antwortete, dass das nicht der Wahrheit entspräche, woraufhin der andere mich der vorsätzlichen Verfälschung von Tatsachen beschuldigte. Ich hätte mit ihm noch weitergestritten, aber es kam dann zu einem Kompromiß, weil das, was ich gesehen hatte, bereits mehr als drei Monate zurücklag und die Situation heute möglicherweise schon eine ganz andere war. Aber es blieb ein Gefühl des Unbehagens zurück. Bei meiner Rückkehr in die Zelle erzählte ich Sysojew von diesem Wortwechsel. Der meinte, dass es sich nicht lohne, gegen die Meinung Älterer anzugehen und sie vom Gegenteil dessen überzeugen zu wollen, was sie oder sogar noch höhere Instanzen für notwendig halten. Ich erwiderte, dass Aufklärung stets nach Objektivität streben sollte und nicht zur Darstellung von Fakten, um damit der Meinung irgender Person zu gefallen. Daraufhin schmunzelte P.W. nur. Er wußte vieles, was mir zu wissen bisher versagt geblieben war. Manchmal, vor allem nachts, ließ Nikitin mich einfach nur so zu sich kommen – um zu reden. Mitunter tranken wir Tee oder man gab mir Zeitungen zu lesen. In solchen privaten Stunden versuchte ich mir Klarheit über meine Zukunftsperspektiven zu schaffen. Ich fragte, wie wahrscheinlich mein Einsatz in der Spionagetätigkeit sein würde. Der Oberstleutnant gab mir zur Antwort, dass dies prinzipiell möglich sei, eine Entscheidung darüber jedoch nicht von ihm abhinge, sondern von vielen Fakten, einschließlich der Entwicklung der Ereignisse in der Welt. Ich beklagte mich auch darüber, dass man mich im Gefängnis festhielt. „Aber geht es ihnen hier denn etwa schlecht?“ – fragte Nikitin. „Im allgemeinen nicht“, antwortete ich, „aber trotzdem ist es ein Gefängnis“. – „Aber für uns ist es unumgänglich, dass wir Sie hier unter unseren Fittichenhaben“, erwiderte der Oberstleutnant. „Aber vielleicht bringt man sie bald an einen anderen Ort“. (Übringens, wenn ich mit ihm sprach, redete ich ihn nie mit „HerrVorgesetzter“ an, sondern stets mit „Genosse Oberstleutnant“, und niemand erteilte mir dafür einen Verweis).

Welche Schlüsse zog ich aus diesen Unterhaltungen? Die sowjetische Aufklärung verfügte über weitgefächerte Informationen, aber dennoch besaß sie von manchen Dingen nur eine undeutliche Vorstellung. Anhand dessen, dass sie mich zum Beispiel beharrlich über irgendwelche Seekapitäne ausfragten, begriff ich, dass ihnen die Struktur der deutschen Spionageabwehr überhaupt nicht klar war, insbesondere jene tiefe Trennlinie, welche Abwehr und Sicherheitsdienst voneinander unterschied. Unklare Vorstellungen besaßen sie auch von der Situation auf dem Balkan sowie der Partisanenbewegung in Jugoslawien.

Da sie vieles genauer über die Emigrantenorganisationen wußen als ich, überbewerteten sie deren Bedeutung maßlos. Praktisch wußten sie jedoch nichts über die Kontakte der Wlassow-Leute mit den westlichen Alliierten; die sich hinter den Kulissen abspielten. Um nicht wieder auf dieses Thema zurückkommen zu müssen, füge ich hier hinzu, dass diese Begegnungen bei Kriegsende immer seltener und weniger inhaltsreich wurden, so dass mich schließlich an ihnen am meisten die Möglichkeit interessierte, Zeitungen zu lesen und auf dem Rückweg in die Zelle die eine oder andere Schachtel Zigaretten zugesteckt zu bekommen.

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