„Laß dich fangen, Fischlein, ob groß oder klein“.
(Aus einem Märchen, welches wahr wurde)
In unserer Zellenwelt änderte sich kaum etwas. Es begann zu schneien. Während des Hofgangs hörten wir die Klänge eines Orchesters – man übte für die Parade zum Oktoberfeiertag. Auch der Winter verging, und da – in einer wunderbaren Nacht erstrahlte der ganze Himmel von nicht mehr enden wollenden Salutschüssen. Wir begriffen, dass dies das Ende des Krieges bedeutete. Wir waren froh und traurig zugleich. Dort jubelten die Sieger, und hier saßen Menschen in ihren Zellen, die es, ohne ihre eigene Schuld, nicht verstanden hatten, ihren Beitrag zum Sieg zu leisten, und die jetzt keine Ehrungen erwartete, sondern bestenfalls Almosen. Sysojew und ich verbrachten fast 9 Monate miteinander und waren ein Herz und eine Seele. Das bedeutet nicht, dass es zwischen uns keine Streitgespräche oder Diskrepanzen gab. Eine dieser ständigen Uneinigkeiten betraf die Einschätzung unseres Großen Führers. Ich hatte mich noch nicht endgültig von der Verehrung von Stalins Persönlichkeit befreit, aber nichtsdestoweniger war mir der Götzendienst zuwider, der um seinen Namen veranstaltet wurde. Sysojew dagegen vergötterte ihn in aufrichtiger und kompromißloser Weise. Vergeblich führte ich Sysojew sein eigenes Schicksal als Beispiel vor Augen, der für seine beispiellose Treue gegenüber Vaterland und Partei nicht den Titel eines Helden verliehen bekommen hatte, sondern den Stempel eines Volksfeindes. „Das soll dann wohl so sein“ – erwiderte Pawel Wasilewitsch. „Ich glaube, wenn Stalin alles zu Gehör kommt, dann wird er auch Gerechtigkeit walten lassen. Na ja, und wenn nicht, dann werde ich trotzdem weiterhin an den Führer glauben, wie ein treuer Hund an seinen Herrn, selbst wenn dieser ihn schlägt“. Ich entgegnete, dass dies in Bezug auf den Hund sehr rührend, aber eines Menschen unwürdig sei. Ich zitierte aus dem Gedächtnis die Zeilen eines Gedichts von A.K. Tolstoj, wo jemand beim Anblick des Zaren meinte: “Da fährt der Gott auf Erden – das ist unser Vater, der uns hinrichten wird“. Und dabei fallen alle um ihn herum „... Männer, greise Männer und Frauen vor ihm auf den Bauch“. Und ich soldarisierte mich mit der Meinung des Helden: „wenn er ein Fürst ist, oder zuguterletzt – der Zar, warum fegen sie dann die Erde mit ihren Bärten, wir haben dem Fürsten unsere Ehre erwiesen, aber nicht so!“ Übrigens war Sysojew nicht immer von Untertänigkeit und völliger Vergebung erfüllt. Mitunter überfiel ihn Melancholie; er saß dann mit düsterem Gesichtsausdruck da, die Augen unbeweglich auf den Boden gerichtet, oder er lief nervös in der Zelle auf und ab. Ich war in solchen Minuten bemüht, seine Gedankengänge und Zweifel nicht zu stören. Einmal, während er auch gequält, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, auf- und abwanderte, blieb P.W. plötzlich mir gegenüber stehen und sagte: „Sie haben doch von Emigranten und anderen Feinden der Sowjetmacht gesprochen. Na ja, wenn der Sowjetmensch den Glauben an die Sowjetmacht verliert, dann ist er ein echter Feind!“ Dabei funkelten seine dunklen Augen in einem derart unheilvollen Feuer, dass ich beinahe die Fassung verlor. Im übrigen war auch seine Meinung über die „Feinde“ ins Wanken geraten. Bereits ab dem Winter 1945, und ganz besonders nach dem Ende des Krieges, wurde die Lubjanka von einer neuen Welle Zellenbewohner überflutet. Es handelte sich hauptsächlich um Emigranten und einige Ausländer. Ich habe bereits davon gesprochen, dass das NKWD eine recht verzerrte Vorstellung von der Emigration und ihrer Bedeutung als politische Kraft hatte. Deswegen begannen die NKWD-Organe nach der Besetzung des Balkan durch die Rote Armee, und danach auch anderer Länder, auf die sie ein wachsames Auge geworfen hatten, zahlreiche in diesen Ländern zurückgebliebene Weißemigranten, deren Schuld hauptsächlich darin bestand, dass sie, eher aus Gewohnheit, denn als Überzeugung, Mitglieder der Union aller russischen Militärverbände, dem Bund der nationalen Werktätigen oder ähnlicher Organisationen waren, zu verhaften. Für die Mehrheit von ihnen war diese Mitgliedschaft lediglich ein Tribut an die Tradition, verbunden mit der Möglichkeit, sich ab und an im Klub zu irgendwelchen Begegnungen oder Abendgesellschaften zu treffen (beim unerläßlichen „Tässchen Tee“, meist einem ziemlich starken), und die meisten befaßten sich rein überhaupt nicht mit Politik und hatten auch keine Vorstellung davon, dass im tiefsten Inneren dieser Organisationen auch eine aktive antisowjetische Tätigkeit mit Mitteln ausländischer Spionagebehörden geführt wurde, die, auch wenn sie nicht gerade sehr effektiv war, es doch den obersten Schichten dieser Organisationen in jedem Fall gestattete, ein sorgloses Leben vom Verkauf lebender Ware zu führen, um auf diese Weise aus den Fingen gesogene Informationen über die allgemeinen Wünsche des sowjetischen Volkeszu erhalten, den nächsten Sprößling aus dem Geschlecht der Romanows auf den Thron zu bringen und mit Brot und Salz die intervenierenden Truppen zu begrüßen, die in ihrem Gefolge den zukünftigen Monarchen mitfahren ließen.
Der erste Vertreter des Emigrantenstandes in unserer Zelle waren General Lobow aus Bulgarien und Gurgen Semjonowitsch Sarkisjan aus Rumänien. Ersterer war ein großer, hagerer alter Mann von etwa 80 Jahren, er konnte nur mit Mühe seine knochigen Beine bewegen – und sein vor Schreck erstarrtes Gehirn ebenfalls. In Bulgarien hatte er einsam seinen Lebensabend verbracht, nicht mehr an sein weißes Pferd gedacht, sondern ein paar rotbraune, mit denen man den Ex-General in nicht allzu ferner Zukunft zu seiner letzten Ruhestätte bringen würde. Der zweite war dagegen ein dicker, kahlköpfiger Mann, der mit Handel betrieben hatte. In den Tagen seiner lockigen Jugend unter der Sonne seiner Heimat Armenien, hatte Sarkisjan der Partei der Daschnaken angehört (Armenische Revolutionäre Föderations-Partei; Anm. d. Übers.). Jetzt war er kaum in der Lage zusagen, was das eigentlich für eine Partei war und welche Ziele sie hatte, aber jedenfalls war es diese frühere Zugehörigkeit zu den Daschnaken gewesen, welche Gurgen Semjonowitsch aus seiner Welt der Tütchen und Dosen mit indischen und brasilianischen Defizitwaren herausgerissen und ihn in dieses Lubjanka-Apartement befördert hatte, wo sich der Tee nicht so sehr durch sein ausgesuchtes Buket auszeichnete, sondern eher nach Birkenrute schmeckte. Sarkisjan litt an einem Magengeschwür; der Gefängnis-Äskulap fütterte ihn mit irgendwelchen Pülverchen durch und verordnete ihm Diätverpflegung, die aus 200 gr zusätzlichen Weißbrots und einer einigermaßen gut aussehenden warmen Verpflegung bestand.
Wie jeder andere Kranke, war auch Sarkisjan kein guter Gesprächspartner; wenn wir uns unterhielten fing er immer wieder von seinen Wehwehchen an, aber ansonsten war er ein angenehmer, guter Mensch. Sysojew schüttelte nur den Kopf, wenn er solche „imperialistischen Haie“ sah. Wahrscheinlich taten das auch die Moskauer Ermittlungsrichter, während sie im Geiste ihre flinken Kollegen beschimpften, die ihnen ein so unvorteilhaftes Kontingent an Staatsverbrechern hierher gebracht hatten. Aus diesem Grunde wurden solche Leute auch nicht lange in der Lubjanka behalten, aber da allein der Gedanke sie nach Hause zu schicken unerträglich staatsgefährdend war, wurden all diese Lobows, Sarkisjans und andere wie ein Fußball aufdem glattgefahrenen Fließband weitergeschossen,um sie schließlich für ein Dutzend Jahre an entlegenen Orten ihre Strafe absitzen zu lassen. Unter den neuen Mitbewohnern befanden sich aus Ausländer. Einer von ihnen war ein Schweizer von etwa 19-20 Jahren, der in der Vertretung irgendeiner pharmazeutischen Firma in Bukarest gearbeitet hatte. Gegen ihn hatte man eine Anklageschrift wegen Spionage verfaßt. Er hatte nur eine sehr unklare Vorstellung davon, was Spionage sei und legte offensichtlich eine ganz offenherzige Unwissenheit an den Tag. Der zweite war Deutscher, ein Leutnant der SS, mit Nachnamen Röseler. Es stellte sich heraus, dass er und ich uns zur selben Zeit im Lager Sandberg aufgehalten hatten, aber damals kannte und sah ich ihn nicht; vielleicht habe ich ihn auch nur nicht beachtet. Nachdem die Rote Armee auf deutschem Territorium einmarschiert war, hatte der Sicherheitsdienst versucht, im Hinterland der sowjetischen Truppen das Abbild einer Partisanengruppe in der Art der „Waldbruderschaft“ zu organisieren, welche sie jetzt als elementar in Erscheinung getretene Volkstrupps des Widerstands gegen das Sowjetregime darzustellen versuchten. Zu der Zeit, als ich noch in Riga beim Hauptkommando Nord war, hatte ich gesehen, wer diese „Bruderschaft“ organisiert hatte, und nach welchem Szenario sie vorgehen sollten. Nach dem gleichen Drehbuch waren auch die Aktivitäten der deutschen „Wehrwölfe“ geplant – Sabotagegruppen, unter denen sich auch Röseler befunden hatte. Bei dem Versuch Partisaneneinheiten zu schaffen, die den unseren analog waren, berücksichtigten die Deutschen einen wichtigen Faktor nicht – die Unterstützung durch die Bevölkerung. Ohne sie war der ganze, vom Volk losgerissene, Partisanenkampf zum Scheitern verurteilt, und die Gruppen der Wehrwölfe wurden eine nach der anderen liquidiert, wobei sie nicht einmal Spuren auf den Seiten des Krieges hinterließen. Ein derartiges Schicksal ereilte auch die Gruppe, die von unserem neuen Mitbewohner geleitet worden war. Er war ein mittelgroßer, untersetzter, wenig „arisch“ aussehender Mann, mit weißblonden Haaren und klaren Augen. Er verfügte über eine typisch nazistische Psychologie – er war ein gedankenloser Rowdy. Diese Art von Röselers hatten in den 1930er Jahren Arbeiter niedergemetzelt, jüdische Geschäfte kaputtgeschlagen, in den 1940er Jahren die „Aktion“ zur Vernichtung des Warschauer Ghettos organisiert und russische Dörfer niedergebrannt. Jetzt war Röseler, der seinen lebensfrohen Optimismus noch nicht verloren hatte, bereit, die Aufgaben des NKWD zu erfüllen, sofern es solche geben würde. Ich weiß nicht, von welchen Beweggründen er gelenkt wurde, aber jedenfalls war er voller Hoffnung.
Inhaltsverzeichnis Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel