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P. Sokolow. Schlaglöcher

III. Buch. „Der Himmel hinter Gittern“. 1944 – 1954

Teil V. Inden Labyrinthendes NKWD

Kapitel 51 . Durch die Etagen der Lubjanka mit Optimismus im Herzen

PESSIMIST (nach Cognac riechend): „Pfui, es stinkt nach Wanzen!“
OPTIMIST (eine Wanze zerdrückend): „Oho, hier riecht es ein wenig nach Cognac!“
/ Aus den Anekdoten von P.W. Sysojew /

Irgendwann Anfang Juni, nach einer ziemlich langen Unterbrechung, riefen sie mich erneut „zum Verhör“. Im Kabinett befand sich lediglich Oberstleutnant Nikitin. „Nun also, Pawel Pawlowitsch“, begann er seine Rede, „ist die Zeit gekommen uns zu verabschieden“. Im Verlauf der Unterredung stellte ich die Frage, wie mein weiteres Schicksal aussehen würde. „Das ist mir nicht bekannt“, antwortete er. „Aber ich denke, dass es nicht schlechter werden wird. Wir haben eigentlich keine Ansprüche an Sie. Wahrscheinlich wird man Sie in ein Kriegsgefangenenlager schicken, und ihr weiteres Schicksal wird sich dann dementsprechend finden“. Nach dem, im allgemeinen wohlwollenden, Gespräch verabschiedeten wir uns endgültig voneinander, und ich kehrte voller, wenn auch nicht froher, so doch zumindest optimistischer Hoffnungen in meine Zelle zurück. Pawel Wasiljewitsch, dem ich alles erzählte, teilte meinen Optimismus, war damit jedoch ziemlich verhalten. In letzter Zeit war er in einer düsteren und niedergedrückten Verfassung gewesen. Wie ich bereits sagte, hatte sich sein Verfahren keinen Schritt voranbewegt. In all diesen gemeinsam verbrachten Monaten hatte man ihn nur zweimal vor den Ermittlungsbeamten geführt, um ihn dazu zu überreden, ein Geständnis über seine nicht begangenen Verbrechen abzulegen; anschließend hatte man ihn, ohne einen Schimmer von Hoffnung und Perspektiven, wieder in die Zelle gebracht. Der nach dem Sieg aufgekeimte kleine Hoffnungschimmer war verloschen, und mit ihm auch das innere Feuer dieses zielstrebigen und aktiven Mannes. Eines Nachts weckten sie mich. Ich sollte „mit Sachen“, die ich gar nicht besaß, antreten. Sie ließen mir keine Zeit mich zu verabschieden. Kräftig drückten wir einander die Hände, wünschten uns Erfolg und gingen, offenbar für immer, auseinander. Ich hoffte, dass sie mich irgendwo hinbringen würden, aber nachdem wir eine Etage tiefer gegangen waren, öffnete mein Begleiter eine ebensolche eisenbeschlagene Tür, und ich fand mich in der nächsten Zelle der Lubjanka-Abteilung wieder. In der Zelle befanden sich bereits zwei Männer, die auf ihren Pritschen lagen. Sie hoben ihre Köpfe, und das Gesicht einer der beiden kam mir bekannt vor. Am nächsten Morgen, nach dem Weckruf, machte ich mich mit meinen Zellengenossen bekannt. Als erstes fiel mir die bulgarische Soldatenuniform desjenigen ins Auge, der mir so bekannt vorkam. Und tatsächlich stellte es sich heraus, dass es sich um Oberleutnant Aleksandrow handelte, der in den Vorkriegsjahren an der Spitze der Jugendorganisation „Kompanie von General Kutepow“ gestanden hatte – eine eingefleischte antisowjetische, militarisierte Formierung. Als man in Jugoslawien damit begann, das mit schmachvoller Erinnerung behaftete „Schutzkorps“ zu organisieren, für das Anwerber als Avantgarde einer zukünftigen russischen nationalen Befreiungsarmee Reklame gemacht hatten, befand sich Aleksandrow, zusammen mit der Mehrheit der „Kutepow-Leute“ unter den allerersten Freiwilligen. Er wurde Kommandeur eines Zuges in unserer 5. Junkerkompanie. Er war ein Grobian. Weder die Untergebenen seines Zuges, noch die anderen Junker konnten ihn ausstehen. Nach unserer Flucht aus dem Schutzkorps hatte ich diesen Typ total vergessen, und nun, Jahre später, begegnete ich ihm in derselben Lubjanka-Zelle wieder. Seinen Worten zufolge war er beim weißgardistischen Soldatentum „enttäuscht worden“ (genauer gesagt: er machte dort nicht die Karriere, auf die er Anspruch erhoben hatte), hatte dort auf irgendeine Weise seinen Dienst quittiert und sich, nachdem er nach Bulgarien zurückgekehrt war, Spekulationsgeschäften gewidmet. Als die Sache anfing zum Himmel zu stinken, kam er in aller Eile auf irgendwelchen Wegen zur bulgarischen Armee und zog zum Kampf gegen die Deutschen an die Front. Heldentaten beging er dort übrigens nicht, denn er wurde von der sowjetischen Gegenspionage verhaftet. Einige Zeit wurde er in Bulgarien festgehalten, anschließend schickte man ihn nach Moskau. Hier schlug er sich an die Brust, gestand seine vergangenen Sünden und schimpfte auf die Vaterlandsverräter. Ich geriet mit ihm wütend aneinander. Ich schenkte seiner eingebildeten Reue keinen Glauben und beschuldigte ihn des unehrlichen, gewissenlosen Spiels. Er und die Seinen hatten eine Masse junger Leute ins Schutzkorps und in andere deutsche Formierungen gelockt. Nehmen wir einmal an, dass ihm ein Licht aufgegangen war, meinte ich, dann wäre es seine Pflicht, offen eine Erklärung über die Fehlerhaftigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges abzugeben, sich vom Antisowjetismus loszusagen, selbst wenn er dabei das Risiko einging, seine Freiheit und sein Leben zu verlieren. Das wäre eine aufrichtiger Vorgehensweise, ein ehrliches Verhalten gewesen, aber sich in aller Stille davon zu machen und sich hinter den Rücken derer, die er zum Dienst an den Deutschen angetrieben hatte, mit Geschäften zu befassen – das war eine Niedertracht, und seine jetzigen Gefühlsausbrüche waren keinen einzigen Heller wert. Es ist wohl klar, in welcher Beziehung wir nach diesem Dialog zueinander standen. Dafür brachte mich die Feindschaft gegenüber Aleksandrow meinem zweiten Zellenkameraden näher. Er war ein hagerer, noch ziemlich junger Mann in einer wundervollen, ehemaligen Offiziersuniform. Sein Nachname lautete Kernes oder so ähnlich. Er war Jude. Vor dem Krieg war er Lehrer für Marxismus-Leninismus in einer der Militärakdemien gewesen. Er erzählte seine Geschichte recht offenherzig und ohne jeglichen Humor. Nach der Niederlage der Deutschen bei Moskau fing er, der gänzlich vom Optimismus erfüllt war, an zu befürchten, dass sein Schicksal für ihn zu wenig Krieg und zu wenige Auszeichnungen vorgesehenen hatte; er machte daher Meldung, dass man ihn doch ins Feldheer aufnehmen möge. Danach kam er als politischer Mitarbeiter in die Nähe von Charkow. Wie wir wissen, endete diese Gegenoffensive mit der völligen Vernichtung der sowjetischen Gruppierung, und der vom Mißerfolg heimgesuchte, verzweifelte Hascher nach Orden und Rangabzeichen geriet in Gefangenschaft. Es ist nicht bekannt, wie es ihm gelang seine Dienststellung und seinen Rang zu verheimlichen, geschweige denn seine ziemlich klar zu Tage tretende nichtarische Herkunft, aber wie dem auch sei – er blieb am Leben und hielt sich im Kriegsgefangenenlager sogar recht leidlich über Wasser, weil er hervorragend Deutsch konnte (nicht „Jiddisch“, was die Deutschen ziemlich schnell herausgehört hätten). Nach seiner Freilassung aus der Gefangenschaft wurde er natürlich verhaftet, wenigstens dafür, dass er als ehemaliger Kommissar und Jude am Leben geblieben war. Da der Professor die Denk- und Handlungsweisen des NKWD gut kannte, gab er sich keinerlei Illusionen hin und war moralisch bereit, den belebenden Duft der Taiga, irgendwo im Grenzgebiet zu den braunen und weißen Bären, einzuatmen. Kernes (nennen wir ihn so) war ein interessanter und scharfsinniger Gesprächspartner, dem auch das Freidenkertum noch nicht abhanden gekommen war. Im Kaleidoskop der Personen, Zellen und Etagen, die sich ständig änderten, erinnerte ich mich fast an niemanden, mit Ausnahme vielleicht derer, mit denen ich die letzten Lubjanka-Wochen verbrachte. In diesen Tagen befand ich mich im ersten Stockwerk in der Gesellschaft General Krasnows. Er war einer der Söhne des bekannten Don-Kosaken-Atamans aus den Zeiten des Bürgerkriegs, der durch seine zahlreichen Greueltaten berühmt wurde und schon damals seine ganze Hoffnung auf eine eigenständige, unabhängige Staatlichkeit setzte, die sich auf die Beihilfe des deutschen Imperalismus stützte. Nach seiner Vertreibung aus Rußland verfiel der Ataman der Schriftstellerei und schrieb eine Reihe von Romanen, von denen der bedeutendste den Titel „Vom Doppelkopfadler zum roten Banner“ trug und von dem breiten Panorama der ruusischen Adels- und Offiziersgesellschaft handelte, die in den besten Traditionen des Schwarzhunderter-Monarchismus und des eingefleischten Antisojwetismus dargestellt war. Mit Beginn des Krieges trat der Ataman der Don-Truppen natürlich für die profaschistische Position ein. Als die Deutschen unter dem Kommando des deutschen Generals von Panwitz die „Kosaken“-Divisionen gründeten, die ich im vorherigen Buch flüchtig erwähnte, zerrten sie den hochbetagten Ataman als idealen Leiter der neuen, eigenständigen Bewegung aus der Mottenkiste hervor. Seine Söhne, und später auch sein Enkel, ein ehemaliger Offizier der jugoslawischen Armee, traten ebenfalls der Kosaken-Armee bei. Der Weg der frischgebackenen „Kosaken“ durch Jugoslawien und Italien wurde beherrscht von den Traditionen Mamontows und Schkuros. Letzterer hing übrigens auch in der Sache mit drin. Nach der Kapitulation Deutschlands gerieten die Kosaken in die besatzungszone der Alliierten. Jene hätten nichts dagegen gehabt, dieses wertvolle Kontingent für ihre Zwecke zu behalten, aber ihr Ruhm war so wenig schmeichelhaft, dass die Alliierten unter dem Druck der Öffentlichkeit gezwungen waren, das gesamte oder zumindest den größten Teil des Korps mitsamt seinen Vorgesetzten, an die sowjetische Seite zu übergeben. Die Führer kamen in die Lubjanka; die gewöhnlichen Soldaten und die kleinen Fische indessen fanden sich in den Sonderlagern wieder, gingen zur Arbeit und warteten darauf, dass sich deie Hände des NKWD auch nach ihnen ausstreckten. Mein neuer Zellenkamerad war der jüngste Sohn von Ataman Krasnow, stand im Rang eines Generals, trug eine deutsche Uniform und dunkelblaue Reiterhosen mit roten Biesen. Er war ein typischer Vertreter der Emigrantenschaft, ziemlich ausdruckslos und ohne Rückgrat, der sich nicht einmal darum bemühte, die würdevolle Position des besiegten Gegners einzunehmen, sondern langsam und undeutlich von den Fehlern, ihrem Erkennen und der verspäteten Verurteilung seiner antisowjetischen Aktivitäten sprach. Übrigens versuchte ich nicht mit ihm irgendwelche Diskussionen zu führen, sondern hegte ihm gegenüber vielmehr das Gefühl einer widerlichen Verachtung. Dafür zeigte ich Interesse und Mitleid gegenüber dem dritten Bewohner unserer Zelle. Er war ein hagerer, alter Deutscher; sein Nachname lautete Schmeisser oder Schweisser. Vor dem ersten Weltkrieg war er eine große Persönlichkeit in der Verwaltung gewesen, und zwar in einer deutsch-afrikanischen Kolonie (dem heutigen Namibia. Nach dem Krieg und nachdem die Deutschen die Kolonie verloren hatten, war Schmeisser (nennen wir ihn so) als Diplomat tätig. Anfang der 1930er Jahre gehörte er dem Personal der deutschen Botschaft in Moskau an. Hier machte er die Bekanntschaft mit Kalinins Sekretärin, heiratete sie und brachte sie nach Deutschland. Kurz darauf legte er sein Amt nieder und vertieb sich friedlich die Zeit auf seinem Landgut. Als die sowjetische Armee sich dieser Gegend näherte, wollte sich Schmeisser, nach dem Beispiel vieler, in den Westen evakuieren lassen, aber seine Ehefrau brachte ihn davon ab, indem sie sagte, dass er nichts zu fürchten hätte: er hatte nicht unter Hitler gedient und seine Ausreise ins Ausland würde auch auf ganz legale Weise genehmigt werden, usw. Der alte Diplomat ließ sich schließlich überzeugen, aber offenbar ganz umsonst, denn er wurde zusammen mit seiner Frau verhaftet und geriet somit ein zweites Mal nach Moskau, diesmal allerdings ohne diplomatische Immunität. Zu all dem befahl man ihm auch noch, künftig auf den Namen Schneider zu reagieren. Wozu das gut sein sollte, begriff er nicht, und so kam es bei den Zählappellen häufig zu Mißverständnissen. Dem Appellaufseher bewies er, dass er Schmeisser hieß, und der überzeugte den Alten geduldig davon, dass sein Name Schneider lautete. Später verschwand der Aufseher, ohne dass die beiden sich einig geworden waren. Da kann man mal sehen, was für ein Hokuspokus sich in der Lubjanka zutrug. Was der Sinn und Zweck der Verhaftung dieses im fortgeschrittenen Alter befindlichen Mannes waren, verstand ich ebenfalls nicht. Vielleicht brauchten sie Informationen über die Arbeit des deutschen Außenministeriums, und ich schließe auch die Möglichkeit nicht aus, dass letzzendlich für Schmeisser alles ein gutes Ende nahm. So lange er mit uns ineiner Zelle saß, war er jedenfalls ein angenehmer Gesprächspartner. Man brachte ihm deutsche Bücher, darunter die Werke von Marx und Engels, und ich schloß zum ersten Mal mit der Theorie des Sozialismus Bekanntschaft, von der ich nur eine undeutliche, verworrene Vorstellung aus dem Umgang mit meinen Lehrherren gewonnen hatte – den bulgarischen Kommunisten, die in politischen Dingen genau so wenig bewandet waren wie ich, aber auch mit ebenso festen Überzeugungen, die aus dem realen Leben entstanden waren und sich gefestigt hatten. So verlief noch ein weiterer Monat nach der letzten Begegnung mit Oberstleutnant Nikitin. Niemand versetzte mich mehr in Unruhe. Mal erlosch mein Optimismus, mal keimte er unter dem Einfluß der politischen Schlußfolgerungen des ehemaligen Diplomaten erneut auf, der zwar die Sitten und Bräuche der afrikanischen Hottentotten gut kannte, aber dafür eine wirre Vorstellung von der Praxis der Staatssicherheitsorgane des demokratischsten Landes der Welt hatte.

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